Rezension: Judith N. Shklar – Ganz normale Laster (Matthes & Seitz 2014 [1984])

Mit “Ganz normale Laster” setzt der Matthes & Seitz-Verlag die Erschliessung des Werks von Judith Shklar (1928-1992) für den deutschen Sprachraum fort, die mit “Der Liberalismus der Furcht” (2013) begonnen hat. “Ganz normale Laster” versammelt Essays, in deren Zentrum jeweils eine Verhaltensweise steht, die darauf erprobt wird, in der Hierarchie der Laster an erster Stelle zu stehen.

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Der Titel “Ganz normale Laster” (Original: “Ordinary Vices”) ist einem Zitat von Michel de Montaigne (1533-92) entlehnt, der der Autorin ein steter Begleiter in diesem als “Führung durch Verwirrungen” konzipierten Buch ist. Bei diesen ganz normalen Lastern handelt es sich nämlich um Kardinalverbrechen des Menschen am Menschen: Grausamkeit, Heuchelei, Snobismus, Verrat und Misanthropie. Auf diesem “Streifzug durch ein moralisches Minenfeld”, ist jedem dieser fünf Verhaltensweisen ein Essay gewidmet, in dem Shklar das Laster versuchsweise “an erste Stelle” setzt und darüber nachdenkt, welche Konsequenzen dies für unser privates und politisches Leben hätte.

Von Beginn an ist deutlich, dass Shklar selbst der Auffassung ist, die Grausamkeit – i.e. “einem schwächeren Wesen willentlich körperlichen Schmerz zuzufügen, um Furcht und Leid zu erzeugen” – sei das schwerste aller Vergehen. In den Offenbarungsreligionen sei ein Vorrang der Grausamkeit undenkbar, da das höchste Verbrechen die Sünde sei, also das Vergehen des Menschen an Gott. Und die meisten Philosophen nähmen die Grausmkeit als “zu grosse Bedrohung für die Vernunft” wahr, um über sie zu sprechen. Daran will Shklar etwas ändern: im Zentrum ihres Denkens steht das Leid, das Menschen Menschen zufügen. Schon dieser erste Essay greift alle wesentlichen Themen auf, die im Verlaufe des Buchs von Bedeutung sind, so etwa die Frage, wie man über Opfer nachdenken solle, und die Empfehlung der Skepsis als Denkmodell, das Schutz gewährt vor dem Versinken in melancholischer Misanthropie. In ihrem Hass auf die Grausamkeit folgt Shklar wiederum Montaigne und bespricht, wie dieser, als Gegenbeispiel die politische Theorie Machiavellis.

Shklars sprachlicher Duktus ist erfrischend unakademisch, selbst in den tiefen Analysen philosophischer und literarischer Texte, denen man trotz einiger Längen meist mit Vergnügen folgt; ihre Gedanken sind bisweilen verblüffend. Der Heuchelei etwa vermag sie durchaus positive Aspekte abzugewinnenObschon sie ihre zweifellos schlechten Seiten habe, die durch literarische Figuren wie Tartuffe, Uriah Heep oder den Richter Pyncheon verdeutlicht werden, sei die Heuchelei “eines der wenigen Laster, die einer liberalen Demokratie zugute kommen”.

Im Gegensatz dazu steht wiederum der Snobismus, ein “schlechthin zerstörerisches Laster”, das Shklar in eine primäre und einen sekundäre Spielart aufspaltet. Der primäre Snobismus entstand aus dem alteuropäischen Ständesystem, im Kampf zwischen Adel und Bourgeoisie, ist also in den USA von Natur aus weniger präsent, während der sekundäre Snobismus aus einer in Cliquen gegliederten Gesellschaft erwächst. Die wahren Gefahren des Snobismus liegen in seiner Nähe zu anderen abscheulichen Verhaltensweisen, etwa zum Rassismus: Shklar nennt die beiden “Cousins”.

In die Betrachtungen zum Verrat mischen sich wieder Gedanken zur Rolle des Opfers. Die Autorin macht einen Unterschied aus zwischen denen, die verraten werden, und denen, die sich verraten fühlen. Gerade letztere seien oftmals auch Mittäter am eigenen Verrat, ihr Gefühl ergebe sich aus einem Ungleichgewicht zwischen der Welt und den Erwartungen, die man an sie stelle. Auch diese Thesen werden ausführlich anhand literarischer Beispiele erläutert: Shakespeares Coriolanus, Madame Bovary und Medea machen unter anderen ihre Aufwartung. Shklars Belesenheit, die bisweilen auch weit über die Klassiker hinausgeht, ist beeindruckend, wobei zu erwähnen ist, dass der Grossteil der besprochenen Texte im 19. Jahrhundert zu verorten ist und leider wenige modernere Werke Eingang finden.

“Wer die Laster hasst, hasst die Menschen”, schrieb Plinius der Jüngere. Shklar setzt das Zitat an den Beginn des Essays zur Misanthropie – und widerspricht. In ihrem an Montaigne geschulten Skeptizismus ist sie liberaler und toleranter, wie ihr treuer französischer Begleiter erkennt sie in der Freundschaft das Heilmittel, um der melancholisch-vereinsamten Art der Misanthropie zu entgehen.

Es passt dieser Optimismus ins Bild, das Übersetzer Hannes Bajohr in seiner ausführlichen “werkbiographischen Skizze”, die am Ende des Bandes Platz findet, von Judith Shklar zeichnet. Geboren 1928 in Riga als Tochter einer jüdischen Familie, wurde Shklar von früher Kindheit an mit der Feindschaftlichkeit konfrontiert, die Menschen Menschen entgegenzubringen imstande sind. 1939 flüchtete sie mit ihrer Familie nach Schweden, von wo aus sie in abenteuerlicher Art via Moskau, Wladiwostok, Yokohama, Seattle und New York letztlich nach Montréal gelangten. Später sagte Judith nur, die Abenteuer hätten bei ihr den “bleibenden Hang zu schwarzem Humor” hinterlassen.

In den Fünfzigerjahren lernte Shklar als Studentin der Politikwissenschaften an der Universität Harvard, der sie ihr Leben lang treu blieb, weitere Laster kennen: Antiintellektualismus und Snobismus waren vorherrschende Phänomene, die der gelehrigen und ambitionierten jungen Frau das Leben erschwerten. Abhalten liess sie sich davon freilich nicht, sie promovierte und wurde zu einer angesehenen Dozentin und Autorin. 1957 erschien ihre erste Publikation, “After Utopia”. Die Furchtlosigkeit, mit der sich Judith N. Shklar dem Unbill der Welt stellte, ist beeindruckend – und wichtig, denn die Furcht ist es, die ins Laster führt: Alle Laster, so Shklar, sind “Kinder der Furcht”, sie ist das “tiefliegende psychologische und moralische Medium, das Laster unvermeidlich werden lässt”.

Der Beitrag, den der Matthes & Seitz-Verlag und Hannes Bajohr mit der Erschliessung von Shklars Werk für den deutschen Sprachraum leisten, ist lobenswert. Obwohl gewisse Passagen aus “Ganz normale Laster” im Lichte der heutigen Zeit – das Original stammt aus 1984, einer Zeit vor 9/11, vor WikiLeaks, vor Snowden,.. – vielleicht etwas umgeschrieben werden müssten, ist der Text von grosser Aktualität. In seiner Essenz ist “Ganz normale Laster” ein Plädoyer für die Menschlichkeit, das wir uns auch im 21. Jahrhundert zu Herzen nehmen sollten.

Shklar, Judith N. Ganz normale Laster. Aus dem Englischen von Hannes Bajohr. Berlin: Matthes & Seitz 2014. 346 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-88221-389-8


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