Rezension: Navid Kermani – Album (Hanser 2014)

In “Album” versammelt der Hanser-Verlag vier frühe Werke des deutsch-iranischen Autors Navid Kermani. “Das Buch der von Neil Young getöteten”, “Vierzig Leben”, “Du sollst” und “Kurzmitteilung” erschienen ursprünglich in den Jahren 2002-2007 im Zürcher Ammann-Verlag. Die Texte vermitteln einen guten Einstieg in das vielseitige und bisweilen verstörende Schaffen Kermanis.

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Der intime Essay “Das Buch der von Neil Young Getöteten” (2002), dessen Titel eine Anspielung an die Handschrift “Die vom Koran Getöteten” ist, eröffnet den Band. Der Text beginnt mit einer häuslichen Szene, in der die neugeborene Tochter des Ich-Erzählers durch die Beschallung mit Songs von Neil Young von ihren Koliken geheilt wird. Aufgrund dieser wundersamen Verschränkung von Musik und Leben beginnt der Erzähler, sich eine ganze Philosophie und Theologie anhand des Werks von Young zu erarbeiten. Er entwickelt eine Obsession, kauft sich etwa ein Auto, nur um einen bestimmten Song während des Fahrens hören zu können. Das Existenzielle entdeckt er jeweils im kleinsten Detail, zum Beispiel im kurzen Innehalten der Gitarren in “Down By The River”. Der Tonfall des Texts ist ekstatisch, der Essay kommt in Form einer Huldigung oder gar Anbetung daher. Früh benennt Kermani das seiner Ansicht nach zentrale Motiv und die Antriebskraft der Young’schen Kunst: den Verlust des Paradieses. Es ist dies auch das zentrale Motiv und die Antriebskraft der folgenden Texte von Kermani selbst.

“Vierzig Leben” (2004) ist eine Sammlung von vierzig Miniaturen, die unter den Bannern grosser abstrakter Begriffe fahren, sie heissen etwa “Vom Glück”, “Von der Schönheit”, “Vom Schicksal”, und so weiter. Ihre jeweiligen Protagonisten werden kaum je in konkrete Verbindungen gesetzt, jede Miniatur funktioniert für sich selbst. Gemeinsam aber haben sie alle eine “subjektive Verzweiflung allgemeiner Art”, die sich auf eben diesen Verlust des Paradieses zurückführen lässt. Viele der Figuren, von denen hier jeweils aus zweiter oder dritter Hand – ein Ich-Erzähler weiss von einem Freund oder Freundesfreund – erfährt, sind auf der Suche nach den Überbleibseln kindlicher Leidenschaft und kindlichen Glücks. Viele versuchen, ihre alltäglichen Eindrücke minutiös zu erfassen, um einen Sinn zu gewinnen aus dieser bedrückend sinnlosen Welt. Einer will gar seine Eltern dafür verklagen, ihn geboren zu haben. Kermanis manchmal moralisierender Tonfall und seine komplexen Schachtelsätze, die oftmals auf mehrere Erzählebenen gleichzeitig verweisen, fordern eine gewisse Anstrengung, sind dem Inhalt aber durchaus angemessen.

Auch “Du sollst” (2005) ist eine Sammlung von Miniaturen, diese sind jedoch mit den Zehn Geboten übertitelt und drehen sich ausschliesslich um Sex. Oder genauer gesagt: um die sexuelle Obdachlosigkeit ihrer jeweiligen Protagonisten, die wiederum einem verlorenen Paradies geschuldet ist. Die Figuren werden der Durchschnittlichkeit ihrer eigenen Existenz gewahr und reagieren darauf: manche mit Akten der Gewalt, manche mit stummem Sich-fügen (was jedoch eine blosse Vorstufe der Gewalt sein könnte). Die Texte drehen sich um Sex in allen möglichen, appetitlichen und unappetitlichen, Formen und um die “Möglichkeit oder Unmöglichkeit (…) sich zu verständigen”. Auch für diesen Text wählte Kermani eine komplexe, verschachtelte Sprache, in der sich manchmal verschiedene Erzählstränge oder Traum- und Wirklichkeitsebenen ohne typographische Abgrenzungen ineinander verschränken.

Demgegenüber ist “Kurzmitteilung” (2007) in einer simpleren Sprache verfasst. Leitmotiv dieses novellenartigen Textes ist der Tod einer Arbeitskollegin, die den Ich-Erzähler Dariusch dazu veranlasst seinen Spanien-Aufenthalt abrupt abzubrechen und nach Deutschland zurückzukehren. Dies obschon er die Kollegin kaum gekannt hat. Er fragt sich: “Wieso stirbt jemand einfach so?” und folgert: “Wenn ihr Tod ohne Grund war, musste es dann nicht auch mein Leben sein?” Auch hier steht in gewisser Weise der Verlust des Paradieses im Mittelpunkt: als Verlust der Illusion von Unsterblichkeit. Die Stärke des Textes liegt in der Entblössung des Ich-Erzählers, der zu Beginn als kulturell gebildeter, nachdenklicher und mitfühlender Zeitgenosse in Erscheinung tritt, sich dann aber nach und nach als oberflächlicher, misogyner, amoralischer und ignoranter Mensch entpuppt. Erst im letzten Kapitel, das deutlich später spielt und den Gesamteindruck leider etwas zerstört, berichtet Dariusch von seiner wundersamen, dem Eintritt in eine Sekte geschuldeten Läuterung.

Der Sammelband bietet einen vielseitigen und aufschlussreichen Einstieg in das Werk des Autors und Orientalisten Navid Kermani (*1967), der zuletzt den Roman “Grosse Liebe” (2014) veröffentlicht hat und 2014 mit dem Gerty-Spies-Literaturpreis und dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet wurde. Die Verschränkungen von (Kölner) Alltagsszenarien mit orientalischer, insbesondere persischer, Mystik, die auch sein neustes Werk prägen, treten schon in diesen frühen Texten deutlich zutage. Gerade “Vierzig Leben” und “Du sollst” sind komplexe, sprachlich raffiniert gestaltete, aber anstrengend zu lesende Werke, deren Art, mit beinahe chirurgischer Präzision alltägliche Szenen zu sezieren, den Gefilden der Langeweile bisweilen bedrohlich nahekommt. Es ist aber der Souveränität des Autors zu verdanken, dass die Grenze nie überschritten wird.

Kermani, Navid. Album. München: Hanser 2014. 512 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-446-24535-8


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