Harry Gmür (1908-1979): Berner Grossbürgersohn, seit den Dreissigerjahren heimliches Mitglied der Kommunistischen Partei, Gründer der kulturpolitischen Zeitschrift “ABC”, Mitgründer der Partei der Arbeit, Filmverleiher, Alkoholabhängiger, ab 1958 Afrikakorrespondent der Ostberliner Weltbühne unter dem Pseudonym Stefan Miller, in der DDR verehrt, in der Heimat Schweiz jahrzehntelang von der Polizei bespitzelt. – Ein bewegtes, facettenreiches Leben, von dem der Nachwelt nicht nur unzählige Reportagen und politische Kommentare, sondern auch ein umfangreiches Romanmanuskript hinterlassen sind.
Vor kurzem ist es im Zürcher Europa-Verlag erstmals veröffentlicht worden. “Am Stammtisch der Rebellen” ist als Zeitdokument so unschätzbar wie es als literarisches Zeugnis manchmal ermüdend ist.
Der Text, geschrieben in den Fünfzigerjahren, folgt zunächst dem Maler Alfred Esch. Er ist begeistertes Gewerkschaftsmitglied und bereit, sich mit Leib und Seele einem anstehenden Streik seiner Zunft hinzugeben. Als Schwiegersohn seines Meisters, des arroganten skrupellosen Steinmeyer, steht ihm dies eigentlich nicht zu, doch hält Alfred seine Ideale höher als finanzielle Sicherheit. Er stürzt sich blindlings ins Abenteuer, verlässt Steinmeyers Schwiegertochter und steht bald ohne Frau, ohne Job und ohne Geld auf der Türschwelle seiner Liebschaft, der Prostituierten Doris Fontana.
Gemeinsam sitzen sie in den Trinkstuben der Altstadt, umgeben von alten Säufern, Huren, Revolutionären und Gauklern. Die deutlich antikommunistische Stimmung der Gesellschaft, der unbarmherzige Kampf der Frauen um Selbstbestimmung, das Leid der Armut können hier für einige Stunden ausgesperrt werden: Freiheit, Ewigkeit und Unverletzbarkeit stellen sich beim gemeinsamen Trinken ein.
Um sich und Alfred ein gutes Leben zu ermöglichen schläft Doris ein (angeblich) letztes Mal mit einem reichen früheren Freier. Alfred erträgt dies nicht und verlässt sie. Während an der Stadtgrenze Erna Steinmeyer die Rache an ihrem Mann plant und dieser selbst durch aggressives Verhalten gegenüber Streikbrechern in Schwierigkeiten gerät, schlägt Doris alte neue Wege ein.
“Die Fontana”, so lautete Gmürs Arbeitstitel für das Manuskript, und dies mit gutem Grund, rückt Doris Fontana nun doch endgültig in den Mittelpunkt. Ihr Wankelmut, ihre skrupellose Unbeständigkeit, ihr unverschämtes Verhalten stürzen sie selbst und all die Männer, die ihre Wege kreuzen und ihr verfallen, ins Verderben. Einerseits ist da der naive Millionärserbe Franz Hermann Weber, der sich hoffnungslos in Doris verliebt, ihr alles zu geben bereit ist, und dadurch zu ihrem bevorzugten Opfer wird. Andererseits trifft sie auf den flüchtigen Kriminellen René Falto, der (wieder einmal) ihre wahre Liebe zu sein scheint. Sie gelobt, mit ihm die Flucht ins Ausland, nach Paris, in ein neues Leben anzutreten…
Harry Gmürs Manuskript bietet tiefgreifende Einblicke in das Milieu der Fünfzigerjahre, in die Halbwelt von Prostitution, Alkoholismus, toten Seelen und echten Revolutionären. Der Autor beweist ein feines Gespür für skurrile, von einem Film der Melancholie umgebene Gestalten, deren äussere und innere Beschreibung er jeweils detailreich zelebriert. Gerade die Szenen in den Trinkstuben und jene aus der psychiatrischen Anstalt, in die es Alfred noch verschlägt, sind ausgezeichnet, in einer rauschhaften, der Situation angemessenen Sprache geschrieben. Sie fangen die Wut, die Verzweiflung und den Wunsch nach Freiheit und Gemeinschaft der Beteiligten perfekt ein.
Insgesamt wirkt der Text, so wertvoll er als Zeitdokument auch ist, jedoch gerade auf Grund seiner Sprache etwas ermüdend. Auf über 500 Seiten – von der Edition des Europa-Verlags sogar noch gekürzt – pflegt Gmür eine elaborierte, pathetische, aus heutiger Sicht aber reichlich fremd wirkende Sprache voller erhabener Formulierungen. Da wird der “Geist der Brüderschaft” beschworen, es wird geklagt und gejammert, Herzen klopfen, Hände werden ohnmächtig verworfen. Die Formulierungen sind bisweilen umständlich, wirken heute spröde und veraltet (“Etwas hatte sich jedenfalls geändert. Es war wohl vieles noch zu befürchten, doch durfte er immerhin wiederum hoffen, fähig zu sein, sie zurückzugewinnen.”)
Diese Umstände machen die Lektüre zuweilen etwas anstrengend. Jedoch können auch sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit der Erstveröffentlichung von Harry Gmürs Manuskript ein wichtiges historisches Dokument verfügbar gemacht wird, das wertvolle Einsichten in eine Welt gibt, die, obwohl nicht einmal hundert Jahre entfernt, extrem fremd scheint. Nicht zuletzt die Darstellung der Beziehungen zwischen Arbeitern und Meistern wirkt heute geradezu undenkbar, das revolutionäre Aufbegehren der Handwerker erscheint als einzig logische Konsequenz.
Wer sich für den Politiker und Publizisten Harry Gmür interessiert, dem sei die Biographie von Mario König und Markus Kügi empfohlen: “Harry Gmür – Bürger, Kommunist, Journalist”
Einblicke in das Milieu der Prostituierten in der Zürcher Altstadt, freilich einige Jahrzehnte später, gibt der kürzlich erschienen Lebensbericht der sog. Zora von Zürich, aufgezeichnet von Susanna Schwager: “Freudenfrau”