Rezension: Alba Arikha – Wörterbuch einer verlorenen Welt (Berlin-Verlag 2014 [2011])

In ihrem autobiographischen “Wörterbuch einer verlorenen Welt” (Original: “Major/Minor”, 2011) spürt die Autorin Alba Arikha den Jahren ihrer Adoleszenz im Paris der frühen Achtzigerjahre nach. Diese Szenen von Freiheit, Rebellion, ersten Küssen und lauten Streitereien wechseln sich ab mit Erzählungen aus der traumatischen Vergangenheit ihrer jüdischen Familie während des Zweiten Weltkriegs.

Alba Arikha wuchs im Paris der Achtzigerjahre als Tochter der (erfolglosen) Dichterin Anne Atik und des Malers Avigdor ‘Vigo’ Arikha auf, ihr Patenonkel war Samuel Beckett. Die Familie hat wenig Geld, lebt in von Mäzenen bezahlten Wohnungen ein intellektuelles Künstlerleben. Von frühester Kindheit an werden Alba und ihre Schwester Noga mit den Tücken der Armut konfrontiert:

“Grundsätzlich weiss ich es. Dass mein Vater ein grosses Talent hat, mit dem er nicht alle unsere Rechnungen bezahlen kann. Also eilen wohlhabende Menschen, die an ihn glauben, zu unserer Rettung herbei: Das ist okay. Talent ist selten, Geld ist weit verbreitet.”

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Titel: Wörterbuch einer verlorenen Welt
Original: Major/Minor
Autorin: Alba Arikha
Übersetzung: Friederike Meltendorf
ISBN: 978-3-8270-1102-2
Umfang: 256 Seiten, gebunden m. Schutzumschlag

Die Kindheit und Adoleszenz Albas ist geprägt von diesem künstlerischen, idealistischen Umfeld. Insbesondere der Vater, Avigdor, dem dieses Buch gewidmet ist und der als Albas Antipode erscheint, ist bemüht, seine Grundsätze von künstlerischer Reinheit zu vermitteln. Er ist jähzornig, “predigt, wenn er spricht”, ein intellektueller Snob, der alle Errungenschaften der 1968er-Bewegung verachtet und dessen “Herumgekasper” wenn es um ‘richtige’ und ‘falsche’ Musik geht, einer Teenagerin gehörig gegen den Strich geht.

Alba flüchtet sich aus der vormodernen Welt ihres Vaters in Bücher (“Ich verliere mich im Leben anderer”) und in der modernen, von Amerika und England her kommenden Subkulturen, von denen vorwiegend der Punk zum grossen Thema wird.

Im Gegensatz zu Avigdor, der sagt “Wir Juden gehören nur zu unserer Geschichte”, ist Jüdin zu sein für Alba “nur ein Detail”, sie will sich nicht über die Religion, sondern über die Kultur definieren. Die Beschreibungen alltäglicher Scherereien, die die Adoleszenz für eine junge Frau mit sich bringt – Diskussionen über Kleider, Drogen, Musik, Männer – werden ausgespielt gegen die immer wieder abbrechenden Erzählungen von Avigdor und seiner Mutter Pepi aus dem Zweiten Weltkrieg. Im Gegensatz zu Alba nämlich hat Avigdor keine Jugend gehabt. Halb erfroren im jüdischen Ghetto von Mogilew-Podolski hat er den Krieg dank eines Unternehmers überlebt, der mit den Deutschen ein Recht zur Beschäftigung jüdischer Metallarbeiter aushandeln konnte. Schliesslich erlaubte ein ähnlicher Deal ihm und seiner Schwester Elena die Flucht nach Jerusalem – Mutter Pepi musste im kommunistischen Rumänien verharren und sah ihre Kinder erst 1957 wieder.

Vor dem Hintergrund dieser existenbedrohenden Erlebnisse erscheinen die Höhen und Tiefen von Albas Adoleszenz trivial: Wenn die Teenagerin bei einem gemeinsamen Kleiderkauf mit der Mutter wie wild um neue Schuhe bettelt, die sie gar nicht braucht, erscheint dies vor dem Hintergrund der Geschichte von den hungernden Juden im Ghetto vergleicht, die bisweilen ihre letzten Schuhe für ein Brot hergaben und sich danach mit erfrorenen Füssen durch die Strassen schleppen mussten, geradezu dekadent.

Nichtsdestotrotz gelingt es Alba Arikha die richtigen Perspektiven zu haben, so dass sowohl ein eindrücklicher Bericht über die Zustände während des Zweiten Weltkriegs als auch eine einfühlsame Erzählung über eine Pariser Jugend in den Achtzigerjahren entsteht. Die Jugend von Alba mit all ihren Höhen und Tiefen – oder, um dem Originaltitel gerecht zu werden, all ihrem Dur und Moll – wird empathisch, mit grosser Hingabe nacherzählt, während die Erzählungen von Pepi, Avigdor und anderen Familienmitgliedern mit grossem Respekt und glaubhaftem Willen zum Verstehen der eigenen Geschichte eingebettet sind. Alba Arikha hat sich mit dem “Wörterbuch der verlorenen Welt” erfolgreich ihrer eigenen Vergangenheit wieder angenähert und versucht, die Geschichte ihrer Familie aufzuarbeiten, zu verstehen, woher sie kommt. Die prägnanten, klaren Sätze und die szenische, episodenhafte Gliederung des Buches in eine lose Ansammlung von Über- und Unterkapiteln werden dem Erzählten als Form dabei sehr gerecht, widerspiegeln die nur allzu oft (scheinbar) zufällige Struktur der Erinnerung.


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