revonnah - Kunst der Avantgarde in Hannover, 1912-1933, Ausstellung im Sprengel Museum Hannover, noch bis Januar 2018

Zur Ausstellung „revonnah – Kunst der Avantgarde in Hannover, 1912-1933“

im Sprengel Museum Hannover

oder auch: Netzwerk einer verkannten Stadt

revonnah – Hannover, rückwärts gelesen: Kurt Schwitters (1887-1948) hatte das nicht nur als witzige, etwas bissige Idee gemeint, er selber gibt die liebevolle Interpretation in einem Text im „Sturm“ von 1920: „Das Wort 're' kann man verschieden übersetzen … Ich schlage die Übersetzung 'rückwärts' vor. Dann ergibt sich also als Übersetzung des Wortes Hannover von hinten: 'Rückwärts von nah'. Und das stimmt insofern, als dann die Übersetzung des Wortes Hannover von vorn ergeben würde: 'Vorwärts nach weit.' Das heißt also: Hannover strebt vorwärts und zwar ins Unermessliche.“

Ins Unermessliche ging die Entwicklung von Schwitters' Heimatstadt als Kunststadt zwar nicht, denn sie wurde von den Nationalsozialisten schlagartig beendet, doch bekam Hannover in den rund zwanzig Jahren vor der Machtergreifung eine kaum zu unterschätzende Bedeutung als Zentrum der Avantgardekunst. Nicht sehr früh übrigens – Städte wie Dresden, München, Stuttgart, Berlin hatten den Anschluss an die internationale Avantgarde längst vor dem Ersten Weltkrieg gefunden. Paul Erich Küppers drückte es 1920 so aus: „Wenn das Kunstleben ein Barometer für die Aktivität einer Stadt ist, so ist Hannover heute eine der lebendigsten Städte Deutschlands. Hier gibt es noch Kunstkämpfe, deren man anderswo längst müde geworden ist. Hannover ist aber nicht müde, weil es eben erst wach geworden ist".

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Zum ersten Mal wird in Hannover diese für das Kulturleben der Stadt so bedeutsame Periode insgesamt in einer umfassenden Ausstellung mit 335 Werken (Bildern, Fotos, Skulpturen) von 96 Künstlerpersönlichkeiten, vielfach aus eigenen Beständen, gewürdigt. Warum so spät? Subjektiv habe ich das nach meinem ersten Rundgang verstanden – zu viele kräftige Bildeindrücke, zu viele disparate Gesichtspunkte und Objekte, zu viele Ebenen, die zu bündeln waren, das ist schon fast eine Quadratur des Kreises. Aber die Kuratorin Karin Orchard, ihre Assistentin Lisa Felicitas Mattheis und zahllose Helferinnen und Helfer haben es meisterhaft bewältigt. Private Sammler*innen, öffentliche Einrichtungen mit initiativkräftigen Leitern, engagierte Bürgerinnen und Bürger, in Hannover ansässige Künstlerinnen und Künstler, sowie solche, die extra nach Hannover kamen, haben seinerzeit zusammengewirkt, das alles war darzustellen. Kurt Schwitters dürfte ein großer Netzwerker gewesen sein. Künstler wie El Lissitzky, László Moholy-Nagy und Theo von Doesburg kamen durch seine weltweiten Kontakte nach Hannover. Ein Sammelpunkt für die Avantgarde um Schwitters war der Salon der Arztgattin Käte Steinitz, die selber als Malerin und Schriftstellerin arbeitete. Bei ihr wurde die Künstlergruppe „die abstrakten hannover“ begründet.

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Es sind auch sonst ausgeprägte Individuen, die die Kunst nach weit vorwärts bringen, so auch in jener Zeit in Hannover. Als „radikaler Individualist“ wird Herbert von Garvens sogar in der Überschrift des ihm gewidmeten Katalogtextes bezeichnet. Der Unternehmererbe hat schon vor dem Ersten Weltkrieg zeitgenössische Kunst gesammelt und mehrmals Beispiele in seiner Galerie (1920 bis 1923) gezeigt. Private Unternehmer schlossen sich mit Aufträgen an. Fritz Beindorff (Pelikan-Werke) der selber sammelte, ließ die Produkte und Werbeplakate von lokalen und auswärtigen Künstlern gestalten. 1932 beauftragte er Adolf Hölzel mit dem Entwurf von Glasfenstern für den Konferenzsaal der Pelikanwerke; zur Ausführung kam es nicht mehr. Beindorffs Schwiegersohn Hermann Bode konzentrierte sich mit seiner Sammelleidenschaft mehr auf die Konstruktivisten (El Lissitzky, Schwitters) oder Bauhauskünstler (Klee, Feininger). Der Keksfabrikant Hermann Bahlsen sammelte überwiegend Expressionisten; im Rahmen seiner innovativen Unternehmenskultur machte er die Werke seinen Angestellten zugänglich. Auf der offiziellen Seite sind Albert G. Brinckmann, Alexander Dorner und Paul Erich Küppers hervorzuheben, die sich mit ihrer progressiven Ankaufs- und Ausstellungspolitik gegen konservative Widerstände durchzusetzen hatten. Brinckmann war 1912 bis 1920 Direktor des städtischen Kestnermuseums und kam bald in Konflikt mit seinem Dienstherrn, Stadtdirektor Heinrich Tramm. Er erwarb moderne Grafiken, z.B.von James Ensor, Emil Nolde, Kurt Schwitters, und stellte zeitgenössische Künstler wie Otto Gleichmann oder Max Pechstein aus. Seine besondere Vorliebe galt der Plakatkunst. Alexander Dorner war ab 1923 Kustos, später Leiter der Gemäldegalerie des Provinzialmuseums (des heutigen Landesmuseums) ordnete die Kunstsammlungen neu und ergänzte sie, vorwiegend mit abstrakter Kunst. Er beauftragte El Lissitzky 1926 mit dem Entwurf des „Kabinetts der Abstrakten“, das realisiert, aber 1937 zerstört wurde. Im Sprengelmuseum kann seit Februar 2017 eine Rekonstruktion besichtigt werden; sie wird als Schlusspunkt der Ausstellung „revonnah“ angeboten. Paul Erich Küppers war der erste Direktor der Kestnergesellschaft, die u.a. von Brinckmann mit Unterstützung der kunstsinnigen Unternehmer begründet wurde und die Aufgabe hatte, international wichtige Künstler mit ihren aktuellen Werken nach Hannover zu holen.

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Zu den Individuen, die Hannover zwischen 1912 und 1933 als Kunststadt vorangebracht haben, gehören auch etliche Helferinnen und Helfer, die mehr im Hintergrund gewirkt haben oder in Vergessenheit geraten sind: Ein ganzes Kapitel im Katalog ist dem „Mann in Schwitters' Schatten“, Christoph Spengemann, gewidmet. Eine Kunstakademie gab es in Hannover nicht, aber eine rührige Kunstgewerbeschule, die sich zu einer Werkstattschule entwickelte. Frauen waren nicht nur zugelassen, sie bekamen mit den männlichen Schülern zusammen Unterricht, die getrennte Damen-Abteilung wurde abgeschafft. Aus der Kunstgewerbeschule heraus entstand eine hannoversche Spielart der Neuen Sachlichkeit.

Überhaupt die Frauen: Ihnen ist im Katalog ein Extra-Kapitel gewidmet. Überschrift: "Neu und sachlich von heute aus gesehen: Die Malerinnen der zwanziger Jahre in Hannover". Grethe Jürgens und Martel Schwichtenberg sind berühmt gewordene Beispiele. 1926 wurde die GEDOK gegründet. Ebenfalls ein besonderes Kapitel im Katalog hat die bereits erwähnte Käte Steinitz bekommen - sie war damals wichtig als "Gastgeberin, Künstlerin, Dame und Bohèmienne" (so die zweite Überschriftszeile).

Beim Eintritt in den langgestreckten Sonderausstellungsraum fällt ins Auge, dass bei der Fülle des Materials dieses Mal eine Dreigliederung durch längs gerichtete Zwischenwände nötig war (statt einer Zweiteilung, wie bei anderen Ausstellungen). Orientierung bieten die treffend geschriebenen Wandtexte: Mit „privat“ – „öffentlich“ – „Hannover“ – „vereint“ – „expressiv“ – „abstrakt“ und „sachlich“ sind sie überschrieben. Ein abgeteilter Raum ist der Werbekunst gewidmet. Hannovers führende Rolle in der Plakat- und sonstigen Reklamekunst wurde schon in der damaligen Gegenwart unterschätzt; die Aufträge der Unternehmen boten den Kunstschaffenden eine Existenzgrundlage.

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Nach meiner ersten Besichtigung der Ausstellung habe ich mich gefragt: Welche Art der Darstellung war für Dich am eindrücklichsten, welches Werk wirst Du als Besonderheit in Erinnerung behalten? Das dunkle Ölgemälde mit ausdrucksstarken Gesichtern oder die archetypisch wirkende Maske? Die in Öl auf Sperrholz gemalte alte Frau im Bett oder der Frauenkopf aus rotem Stein? Die völlig abstrakte Komposition mit Holzrahmenfragment und Holzkugelsegment oder das Foto von einem dürren Bäumchen in karger Winterlandschaft? Das realitätsnahe Bild von einer Menschenschlange vor dem Arbeitsamt oder das stark vereinfachte, von Farbflächen geprägte Plakat? Was muss das für eine gärende Zeit in Hannover gewesen sein, in der all diese unterschiedlichen Werke geschaffen oder ausgestellt wurden.

Bei meinem abschließenden Gang durch die Ausstellung habe ich den Titel „von rückwärts“ ernst genommen und von hinten angefangen. Ich erlebte Weite, Offenheit, Helligkeit. Die abstrakten Bilder (Kollagen, Assemblagen) und die Werke der Neuen Sachlichkeit sind hier nebeneinander angeordnet – das war eine gute Idee, so können die gegensätzlichen Pole unmittelbar verglichen werden. In der Mitte wird der Film „Das Gesicht einer Stadt“ von 1932 vorgeführt, der teils dokumentarischen, teils Image-Charakter hat. Er ist Schlusspunkt eines schmalen Raums mit sachlichen künstlerischen Fotos jener Zeit, z.B. von Albert Renger-Patzsch und Hein Gorny, die internationales Ansehen erlangt haben.

Ein abschließender Wandtext skizziert den abrupten Abbruch der avantgardistischen Kunst durch den Nationalsozialismus. Die Kestner-Gesellschaft erhielt 1936 Ausstellungsverbot. 1937 wurden aus den öffentlichen Sammlungen etwa 347 Werke als „entartet“ beschlagnahmt. Nur sehr wenige konnten später zurückgekauft und damit in der Ausstellung gezeigt werden (Lissitzky, Kirchner, Mataré, Bayer). Das Schicksal der Künstlerinnen und Künstler war unterschiedlich: Schwitters, Käte Steinitz, Else Fraenkel emigrierten; Hans Nitzschke und Hans Mertens fielen 1944 im Zweiten Weltkrieg; Carry van Biema wurde 1942 in Auschwitz ermordet; Adolf Wissel – das andere Extrem – profitierte mit seinen bäuerlichen Motiven vom Regime und wurde oft ausgestellt. Andere blieben in Hannover und gingen in die innere Emigration – wie Otto Gleichmann – oder beschränkten sich, wie Ernst Thoms, auf unverfängliche Landschaftsbilder.

Gerade wurde das Sprengel-Museum für 2017 zum „Museum des Jahres“ gewählt.

Sprengel Museum Hannover, noch bis 7. Januar 2018. Der sehr informative Katalog ist im Snoeck Verlag erschienen und kostet 38 Euro.

Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; Bilder von oben nach unten: Otto Gleichmann: Zwei Menschen in Stadt, 1919, Öl auf Leinwand, 122 x 95 cm, Sprengel Museum Hannover, Kunstbesitz der Landeshauptstadt Hannover, Foto: Herling/Gwose, Sprengel Museum Hannover, © Nachlass des Künstlers; Adolf Hölzel: Entwurf für den Fensterzyklus für den Konferenzsaal der Pelikan-Werke in Hannover, Nr. 1, 1932/33, Pastell 50,3 x 34,3 cm, Sprengel Museum Hannover, Leihgabe Kunstsammlung Pelikan, Hannover, Foto: Herling/Gwose, Sprengel Museum Hannover, Gemeinfrei; Käte Steinitz: Mann mit Dreieck, um 1931, Fotografie 17,2 x 20,3 cm, Sprengel Museum Hannover, Schenkung Ilse Berg, USA, Foto: Stefan Behrens, Sprengel Museum Hannover, © Steinitz Family Art Collection; Lucian Zabel: Pelikan Plakatfarbe, 1920-1929, Werbeplakat, Lithografie 41,2 x 29,7 cm, Historisches Museum, Hannover, Leihgabe Archiv der Pelikan GmbH, Hannover Foto: Historisches Museum, Hannover, Gemeinfrei; Friedrich Vordemberge-Gildewart: Komposition Nr. 19, 1926, Öl, Bilderrahmenfragment und Holzkugelsegment auf Leinwand, 80 x 80 cm, Sprengel Museum Hannover, Leihgabe Niedersächsisches Landesmuseum, Hannover, Foto: Herling/Gwose, Sprengel Museum Hannover © Stiftung Vordemberge-Gildewart.

Dieser Artikel ist in etwas anderer Form in der Zeitschrift "Die Drei" 12/2017 erschienen. 

revonnah Kunst Avantgarde Hannover, 1912-1933, Ausstellung Sprengel Museum noch Januar 2018

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