Nachdem ich mich lange genug in der Provinz aufgehalten habe (abgesehen von Alexandria natürlich), zog es mich an die Quelle des Geschehens: Kairo. Auf Arabisch nennt man Kairo „Al-Qahira“, was so viel heißt wie „die Siegreiche“ oder „die Eroberin“ – wenn ihr mich fragt, hat sie dieses Jahr ihrem Namen alle Ehre erwiesen. Jetzt heißt es nur am Ball bleiben!
Obwohl wir bereits um fünf Uhr morgens los fuhren, um nicht in den Berufsverkehr zu geraten, standen wir satte zwei Stunden im Stau. Wir fuhren an einer Stadt namens „Benha“ vorbei. Dabei fielen mir große Menschenmengen auf, die am Straßenrand standen und auf die öffentlichen Verkehrsmittel warteten. Kaum parkte ein leerer Kleinbus am Straßenrand, rannten fünfzig Personen gleichzeitig los, um einen heiß begehrten Platz zu ergattern. Frauen mit Kind und alte Herrschaften blieben dabei auf der Strecke. Da wir im Schritttempo fuhren und in Ägypten generell alle Fenster immer sperrangelweit auf sind, hörte ich, wie ein Mann zu seinem Kollegen sagte: „Möge uns Gott von dieser alltäglichen Qual befreien!“ – Ich habe ihn wohl zu lange angestarrt, denn nun war seine ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet. Ich ergriff die Chance und fragte ihn: „Fahren Sie denn jeden Tag diese Strecke?“ – „Leider Gottes! Jeden Tag 70 Kilometer im Stau zu stehen, nur um dann in Kairo nochmal im Stau zu stehen, ist schlimmer als unter der Erde zu liegen. Zumindest habe ich da meine Ruhe!“ Mitleidig blickte ich ihn an, wurde jedoch von einem LKW abgelenkt, der riesige Baumwollsäcke transportierte. Ich schwelgte in der Vergangenheit. Ach ja, die Ägyptische Baumwolle - eine wahre Goldgrube! Anfang des 19.Jahrhunderts erkannten die Engländer das vielversprechende Potential der Baumwollindustrie und nutzten es natürlich für ihre eigenen Zwecke… Ich möchte die Rückständigkeit meines Landes nicht auf den Schultern eines anderen Landes abladen, aber die Kolonialisierung hat uns nun mal weit zurückgeworfen – das ist eine unumstrittene Tatsache! Wo wäre Ägypten jetzt, wenn wir nicht von England besetzt worden wären?
Nachdem wir zwei Stunden später als geplant in Kairo ankamen und meine Augen seltsamerweise immer noch auf die Baumwollsäcke gerichtet waren, hetzten wir zu meinem Interviewtermin mit Amani Eltunsi. Sie ist die Gründerin des Radiosenders „Banat wa bas“, der 2008 nur für Frauen ins Leben gerufen wurde. Der Radiosender erfreut sich in der arabischen Welt großer Beliebtheit, da er es versteht die Probleme der Frauen unverblümt anzusprechen. Als ich sie fragte, wie sie sich die Chancen Ägyptens ausrechnet, antwortete sie: „Ich glaube, dass sich in den nächsten zwei, drei Jahren das Leben in Ägypten verbessern wird. Dabei habe ich ein Appell an das Ausland: Helft uns nicht mit Geld, sondern startet Projekte in Ägypten mit uns als eurer Arbeitskraft. Gebt unserer Regierung kein Geld, denn davon werden wir nie ein Cent sehen. Investiert in unser Land, damit wir nach all den Mubarak-Jahren wieder auf die Beine kommen. Wir sind kein schwaches Land, einst waren wir auf dem gleichen Level wie Europa – wir brauchen nur ein wenig Starthilfe. Denn eins kann ich mit Gewissheit sagen: Gebt uns ein Ziel und 80 Millionen Ägypter werden hinterherrennen!“ – Ich lachte in dem Moment, weil es mich an das Hinterherrennen hinter dem Kleinbus erinnerte. Aber sie hatte Recht. Ägypten hat eine ungeheure Fülle an Arbeitskräften, davon sind mehr als die Hälfte unter 25 Jahre. Interessanterweise sagte sie, dass es in ihren Augen keine Revolution gab. Nichts war geplant. Da war nur dieser Hass gegen jede Art von Polizisten, deswegen waren die Demonstrationen auch ausgerechnet am 25.Januar angesetzt, dem „Tag der Polizei“. Seit Khaled Said, ein 28-jähriger Jugendlicher aus Alexandria, der von der Polizei zu Tode geprügelt wurde, war jener Hass allgegenwärtig. Somit wurde er zur Symbolfigur gegen Polizeifolter und Notstandsgesetze. Nachdem es dann zu Ausschreitungen kam, bei denen die Polizisten auf die Demonstranten losgingen, verschärfte sich die Situation und man sagte sich: „So nicht!“. Der größte „Fehler“ der Regierung sei es, zu spät reagiert zu haben. Man tat die Demonstranten als ein paar „jugendliche Krachmacher“ ab, die keine ernste Bedrohung darstellen – eine fatale Unterschätzung. Spätestens nach dem Freitag des Zorns, dem 28. Januar, könnte man es Revolution nennen. Denn nun gab es kein Zurück mehr – es starben Menschen. Menschen starben durch die Hand ihrer eigenen Regierung. Hätte Mubarak früh genug reagiert, wäre er noch an der Macht – jetzt heißt es das Schiff in die richtige Richtung zu lenken.
Nachdem das Interview zu Ende war, wollte ich unbedingt die Pyramiden sehen, ich hatte jetzt schon genug vom Verkehr und dem Lärm – ein wenig glorreiche Geschichte schnuppern war jetzt genau das Richtige. Schon von weitem sah ich sie: die drei Pyramiden von Gizeh! Das letzte Mal war ich vor ca. fünf Jahren dort. Sie jetzt wieder zu sehen, ließ mein Herz schneller schlagen. Und irgendwie schöpfte ich auch Hoffnung. Hoffnung, dass die Nachkommen derer, die ein Weltwunder erschufen, vielleicht doch noch das Ruder herumreißen können. Nachdem wir die Eintrittskarten für Ägypter um das ca. 30-fache billiger als die Touristen bekamen, hörte ich einen Mann neben mir zynisch auflachen und sagen: „Zum ersten Mal lohnt es sich Ägypter zu sein!“ Ich grinste. Kaum dass wir uns den Pyramiden näherten, hatten wir schon fünf Angebote auf Kamelen, Pferden und Eseln zu reiten. Wir versicherten jedem Einzelnen zwar höflich, dass wir erst selber auf Entdeckungstour gehen wollten, doch das brachte nicht viel. Nachdem wir das zwanzigste Mal angefragt wurden, gab ich entnervt nach und wagte mich auf das Kamel. Nachdem wir den Preis ausgehandelt haben (sollte man in Ägypten immer vorher machen!), führte uns der Kamelführer namens Mahmoud an die besten Plätze, um Fotos zu machen. Dabei führte er heiteren Smalltalk und alberte mit uns herum. Wir bekamen die ganze Touri-Palette: Ich setzte ein Beduinenkopftuch auf, hielt meinen Finger so in die Luft, dass es aussah, als ob ich die Spitze der Pyramide berühren würde usw. Ich war ganz begeistert von Mahmouds Freundlichkeit und Ausdauer und ahnte nicht, was mich noch erwarten würde. Kaum vom Kamel heruntergestiegen, (jeder, der das schon mal erlebt hat, weiß wie viel Panik man dabei hat: das Kamel lässt sich nach hinten fallen, und man hat Angst kopfüber zu fallen…) kam der Chef-Kamelführer auf uns zu und verzehnfacht den ausgehandelten Preis. Entgeistert sehe ich Mahmoud an. Der war jedoch damit beschäftigt die Preiserhöhung zu rechtfertigen. Letztendlich war das alles ein abgekartetes Spiel. Der Anfangspreis war eine glatte Lüge, der Smalltalk ein Ablenkungsmanöver und der Endpreis eine Frechheit. Mir ging es wahnsinnig gegen den Strich so hinters Licht geführt worden zu sein – doch gleichzeitig fragte ich mich, ob sie es wirklich so nötig hatten. Mein Blick fiel auf eine russische Touristin, die einem hartnäckigen ägyptischen Händler, der kleine Plastikpyramiden verkaufte, laut mit „Stay away! Please stay away!“ anschrie. Doch der dachte gar nicht daran „away zu stayen“ – unbeeindruckt verfolgte er sie.
Nachdem wir schließlich das Dreifache bezahlt hatten, versuchte ich den Anblick der Pyramiden doch noch zu genießen. Ich suchte mir ein schattiges Plätzchen und schloss die Augen. Das Interview mit Amani Eltunsi hatte mich unglaublich zuversichtlich gestimmt. Zwei, drei Jahre – hielt sie das wirklich für möglich? Da sie mir während des gesamten Interviews sehr nüchtern und realistisch vorkam, schätzte ich ihre Meinung sehr. Und sie sagte etwas, was ich in der letzten Zeit von nahezu allen Ägyptern gehört habe. Auf meine Frage hin, ob sie je darüber nachgedacht hatte, Ägypten zu verlassen, antwortete sie vehement: „Nein, nie! Ich liebe mein Land auf eine Art, die man als „wahnsinnig“ bezeichnen könnte!“ Abgesehen von dem chaotischen Verkehr, der mangelnden Bezahlung, der schlechten Bildung – die Menschen hier sind total patriotisch und lieben ihr Land. Vielleicht ist das der Schlüssel zur Besserung? Ich hoffte es, denn die Pyramiden führen uns Tag für Tag vor Augen, welch große Vergangenheit dieses Land hat. Doch eins wünsche ich mir zum Schluss von ganzem Herzen: Dass die Händler dort es irgendwann mal nicht mehr nötig haben vor lauter Armut, derart aufdringlich sein zu müssen. Diese abfällige Handbewegung der Touristen, die versucht sie wie lästige, aufdringliche Insekten wegzuscheuchen ist so demütigend. Ich hoffe, dass irgendwann mal genau diese Touristen Schlange stehen werden, um kleine Plastikpyramiden zu kaufen und auf Kamelen reiten zu dürfen. Und nicht umgekehrt.