Revolutionäre Heimat – Teil 6

Revolutionäre Heimat - Teil 6

Ich sitze auf dem Dach unseres Hauses, blicke auf den Nil und höre im Hintergrund meinen Vater die eintrudelnden Bauarbeiter tadeln: „Hatten wir nicht zwölf Uhr gesagt, mittlerweile ist es vier Uhr! Ich warte hier seit vier Stunden auf euch! Das kann doch nicht euer Ernst sein. Habt ihr denn gar kein Gewissen oder zumindest Anstand?!“

Ich höre die Bauarbeiter zusammenhangslose Entschuldigungen stammeln und meinen Vater wütend einen Ziegelstein wegkicken. Mein Vater ist alles andere als ein böser Sklaventreiber, der Spaß am Herumkommandieren hat, im Gegenteil er versorgt unsere Bauarbeiter immer mit Sandwiches und kalten Getränken. Jeder andere Ägypter hätte die unzuverlässigen Bauarbeiter schon längst aus dem Haus geschmissen und ihnen Tiernamen hinterhergerufen. Aber er ist nun mal die deutsche Ordnung gewohnt, die Pünktlichkeit, die Zuverlässigkeit, die Perfektion. Leider  führen sehr viele Ägypter ihre Arbeit nicht gerade gewissenhaft aus. Einerseits mag das an der mangelnden Entlohnung liegen, andererseits: ist dann Schlamperei gerechtfertigt? Aber nicht nur Handwerker & Co. schlampen gerne mal herum, sondern auch solche, für die Bildung an erster Stelle stehen sollte:

Professoren an der Uni! So erzählte mir meine Cousine Nehal, die kürzlich ihren Magister in Jura gemacht hat, eine Story, die in Ägypten kein Einzelfall ist. Nehal ist unglaublich politisch interessiert, liebt es bis in die Morgenstunden darüber zu diskutieren  und ist wahnsinnig patriotisch. Als es um eine entscheidende Hausarbeit ging, in der sie bestehen musste, machte sie sich mit Feuereifer an die Arbeit. Die Professoren versicherten ihren Studenten zwar ungeniert, dass „copy and paste“ (!!) reichen wird, um zu bestehen – aber trotzdem wollte sie unbedingt was eigenes machen und nicht einfach nur abschreiben.  Sie lieh sich dutzende Bücher aus der Bibliothek aus, recherchierte im Internet und schrieb letztendlich stolze 90 Seiten. Ihr Thema beinhaltete die Rolle der ägyptischen Frau in der Politik, sie stellte die Rolle der Frau in der Scharia mit der in den verschiedensten arabischen Ländern gegenüber. Nach anstrengenden Wochen und dem altbekannten Schlafmangel war es endlich so weit: Der Tag der Notenvergabe war gekommen! Sie betrat mit ihren Kommilitonen den Prüfungsraum, lehnte sich entspannt zurück, schlug ein Bein übers Andere und freute sich auf ihr „exzellent“.  Endlich kam sie an die Reihe. Der Professor schaute sie lange ernst an und sagte dann: „Ich möchte, dass Sie auf die Frage ehrlich antworten, denn allein sie ist entscheidend über ihr Bestehen: Haben Sie die Hausarbeit alleine geschrieben oder  war das jemand anderes?“ Nehal lachte laut auf, schaute ihn entgeistert an, änderte ihre entspannte Sitzhaltung in eine versteinert-verkrampfte und antwortete in leicht erhöhter Tonlage: „Natürlich war ich das! Ich habe wochenlang dafür gearbeitet!  Ich habe meinen USB-Stick dabei und alle Quellen, die ich benutzt habe.“ – Der Professor schaute sie zweifelnd an, schüttelte den Kopf und ließ sie nur knapp das Semester bestehen. Das Mädchen neben ihr kaute gelangweilt Kaugummi und antwortete auf eine Frage des Professor exakt mit: “Ja. Nein. Ich weiß nicht“ und verließ den Prüfungsraum mit „Exzellent“. Ganz zufällig ist der Vater dieser tüchtigen Studentin ein wichtiger Sponsor an der Universität…

Meine andere Cousine ist die drittbeste ihres Jahrganges an der Fakultät für Zahnmedizin und spart jeden Cent, den sie mittlerweile verdient, für ihr großes Ziel: ihren Doktor in Zahnmedizin zu machen. Nur wenige nehmen diese Mühe auf sich, die meisten geben nach dem üblichen Abschluss auf, da man keinerlei Hilfe von der Uni zu erwarten hat. Sie arbeitet tagsüber an der Universität und abends in einer Zahnarztpraxis. Ihr großer Traum ist es nach Deutschland zu kommen. Sie sagt immer sie möchte in ein Land, wo „Bildung geschätzt wird“. Und davon ist Ägypten leider noch Lichtjahre entfernt. Deswegen kann es auch keine kurzfristige Verbesserung geben, sondern nur langfristige. Erst wenn das Bildungssystem von Grund auf reformiert wird und nicht nur stures Auswendiglernen und Bestechung zählen, kann Ägypten vorwärts kommen. Da die Bauarbeiter nach einer halben Stunde über Hunger klagten, schickte mich mein Vater los, um ihnen was zu besorgen. Ich lief eine belebte Straße entlang, vertieft in Gedanken, als mir auf einmal eine Gruppe Jungs entgegenkam. Weitsichtig wechselte ich die Straßenseite, doch zu spät: nach den üblich einfallsreichen Anmachsprüchen wagte es doch tatsächlich einer, mich an meiner Handtasche festzuhalten. Entgeistert über seine Dreistigkeit schrie ich ihn an, was das soll. Er grinste blöd. Ich schlug mich frei, marschierte schnell weiter und trampelte einem seiner Freunde auf den Fuß. „Wieso tretest du mir denn auf den Fuß? Ich hab doch nichts gemacht!“ – „Gib‘s deinem blöden Freund weiter!“, rief ich zurück und stoß plötzlich mit einem Mädchen in meinem Alter zusammen. Sie trug ein buntes Kopftuch, lächelte mich freundlich an und meinte, dass sie das Geschehen beobachtet hatte und in diesem Fall nur eins helfen würde: ein Stein. Ich fing an zu lachen und fragte, was sie damit meinte. Sie erzählte mir ihre Geschichte:

„Ich wohne in einer ärmeren Wohngegend, die Straße ist vor allem abends nicht gut beleuchtet und deswegen sieht es meine Mutter auch nicht gerne, wenn ich lange draußen bleib. Jedenfalls gibt es da einen Mann, er ist alt, so Mitte fünfzig und er lauert mir mindestens einmal in der Woche in meiner Straße auf. Ich kenne mittlerweile sein Gesicht und versuche, wenn ich ihn von weitem sehe, so schnell wie möglich zu fliehen. Aber manchmal kommt er von hinten und versucht mich zu berühren, es ist so widerlich! Aber ich weiß,  dass wenn ich laut schreien würde, mein Ruf dahin wäre – nicht seiner. Hier ist es doch so, nicht der Mann ist Schuld sondern die Frau, weil sie die Aufmerksamkeit des Mannes erregt hat! Und nach der Revolution ist es doch noch schlimmer geworden. Man traut sich viel mehr, seitdem die Polizisten weg sind.“ Ich schweige betreten und merke, wie sich auf ihrem Gesicht auf einmal ein stolzes Grinsen breit machte. „Doch eines Tages, ich kam gerade von einem Geburtstag zurück, sah ich ihn von weitem. Und ich schwur mir, dass ich diesmal nicht still sein werde. Ich sah mich also verzweifelt um und griff nach einem Stein, der am Straßenrand lag. Wütend rannte ich auf ihn zu mit dem Stein in meiner Hand. Er schnappte sich ein Fahrrad und fuhr  davon – und da war dieser Blick in seinen Augen, überrascht und zugleich eine Spur von Angst. Diesen Blick werde ich nie vergessen – ich habe ihn ganz alleine vertrieben!“ – „Hat er sich seitdem nochmal blicken lassen?“  Sie schaut mich lange an und antwortet dann: „Nein. Du hättest mich sehen sollen, ich rannte wie eine Furie mit dem Stein auf ihn zu. Da kriegt auch der stärkste Mann weiche Knie!“ Lachend verabschiedeten wir uns. Seitdem hoffe ich, dass alle Frauen Ägyptens einen Stein zur Hand haben, wenn sie ihn brauchen.


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