Revolutionäre Heimat – Teil 5

Recolutionäre Heimat - Teil 5

Auf der Meerespromenade tummelten sich die Menschen, die Sonne ging gerade unter und ich blinzelte den letzten Sonnenstrahlen entgegen. Ich verabschiedete mich von Alexandria, wo ich zwei wunderschöne Tage verbrachte. Auf dem Weg zur Meerespromenade überquerten wir Bahngleise, links und rechts davon lagen riesige Steinhaufen. Als ich meinen Cousin fragte, woher diese Trümmer stammen, meinte er, dass dort zu Revolutionszeiten Verkäufer ihre rechtswidrigen Stände aufbauten, um ihre Waren zu verkaufen. Nach der Revolution machte die Armee dem ein Ende, indem sie nach mehrmaliger, jedoch vergeblicher Aufforderung, die Stände abzubauen, das Ganze mit ihren Panzern schlichtweg niederwalzte. Um dem auch zukünftig entgegenzuwirken, lud die Armee dort riesige Steinhaufen ab. Doch sie fuhr nicht nur über rechtswidrige Verkaufsstände, sondern auch über rechtswidrig gebaute Häuser. Viele Ägypter nutzten den Zustand der Anarchie, um auf Getreide, Obst- und Gemüseplantagen ein Haus ohne jegliche Baugenehmigung zu bauen. Die Armee fackelte nicht lange herum und stattete den „Gesetzesverstoßern“ (wobei jeder Ägypter irgendwie ein kleiner Gesetzesverstoßer ist) einen Besuch mit ihren „hübschen Panzern“ ab. Anfangs war ich entsetzt über diese Kaltschnäuzigkeit der Armee und protestierte, ob nicht eine Strafgebühr anstelle einer „Ich-mach-dein-Haus-platt“-Einstellung genügen würde. Mein Cousin grinste amüsiert und meinte: „Überleg’ doch mal! Wenn nur eine Gebühr anfallen würde, dann würde jeder Ägypter diese bezahlen und rechtswidrig bauen. Glaub’ mir, so sind die Ägypter! Gesetze sind dazu da, um gebrochen zu werden. Gesetze einhalten, das ist doch nur was für Reiche!“  Während wir also an den Trümmern vorbeigingen, fragte ich mich, ob die Forderungen der Menschen auf dem Tahrir-Platz auch bald „in Trümmern liegen werden“. Denn bis jetzt ist nicht viel passiert. Letzte Woche kam es in Kairo nach einem Fußballspiel zu Ausschreitungen mit der verhassten Polizei. Dabei gab es 130 Verletzte. Nun werden die Fußballfans gerichtlich für ihr kindisches Verhalten belangt. Der Hass auf die Polizisten und der daraus resultierende fehlende Respekt ist meiner Meinung nach ein großes Problem. Die meisten Ägypter nennen die Polizisten nur noch „Gesindel“ und „nutzlose Hunde“, denen man nach der Revolution mit dem „Schuh eins drüber ziehen kann“. (Der Schuh ist bei den Arabern das Demütigungssymbol schlechthin). De Abneigung gegen Polizisten ist einerseits natürlich berechtigt, immerhin waren sie jahrelang die Werkzeuge des alten Regimes, vor allem am „Freitag des Zorns“, dem 28.1.2011, an dem sie mit aller Härte gegen das Volk vorgingen. Aber jetzt heißt es: Nach vorne schauen, um wieder Stabilität und Ordnung in das Land zu bringen! Es ist wichtig, Polizei und Armee anzuerkennen, um dem Chaos und der Anarchie entgegenzuwirken – wenn auch nur vorübergehend. Es ist wichtig, das Essentielle nicht aus dem Blick zu verlieren: Faire demokratische Wahlen und eine Verfassung mit Grundgesetzen! Auch der Sturm auf die israelische Botschaft hat nichts mehr mit der Revolution zu tun, im Gegenteil, die meisten Ägypter distanzieren sich davon – was nicht heißt, dass nicht auch sie eine neue Israel-Politik anstreben. Der Unterschied besteht nur darin, sich keiner aggressiven gewaltbereiten Laune hinzugeben, sondern einen überlegten politischen Kurs zu fahren, der den Palästinensern nach all den Jahren ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.

Der mittlerweile rotglühende Sonnenball versank im Meer, die am Strand sitzenden Mütter riefen ihre quengelnden Kinder aus dem Wasser. Ich verabschiedete mich von meinem Cousin und seiner Frau, bei denen ich in Alexandria wohnte. Sie haben einen unglaublich süßen Sohn namens Yassin. Er ist zwei Jahre alt, hat große schwarze Augen und dichte, lange Wimpern. Sein Lachen ist hell wie das von einem Mädchen und wenn man ihn anlächelt, öffnet er seine kleinen Ärmchen und will auf den Schoß genommen werden. Sein erstes Wort war nicht Mama oder Papa, sondern „Arabeya“ („Auto“). Immer wenn er ein schönes Auto auf der Straße sieht (er favorisiert BMW), quietscht er erfreut, klatscht in die Hände und sagt: „Arabeya.“ Obwohl sein Vater einen guten Abschluss in BWL hat und bei einer großen Firma arbeitet, wohnt er mit seiner Familie in einer ärmeren Wohngegend Alexandrias, die von engen verschmutzten Gassen geprägt ist. Die Wohnung liegt im 6.Stock ohne Aufzug, das Treppenhaus ist eng und dunkel und nicht selten falle ich beim Hinaufgehen auf die Nase. Ein Auto konnten sie sich bis jetzt noch nicht leisten, was bedeutet, dass sie auf die oft überfüllten und unzuverlässigen öffentlichen Verkehrsmittel zurückgreifen müssen.

Diesem kleinen Jungen wünsche ich eine bessere Zukunft, eine Zukunft, in der er Arbeit findet, die ihn entsprechend entlohnt und ihm ein gutes Leben ermöglicht, eine Zukunft, in der er das Leben leben kann, dass er leben will, eine Zukunft, in der er ein „Arabeya“ (Auto) seiner Wahl kaufen kann.

 


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