"Mit vierzehn hielt ich meinen Vater für so dumm, dass ich ihn kaum ertragen konnte.
Als ich 21 wurde, war ich doch erstaunt, wieviel der alte Mann in den sieben Jahren dazugelernt hatte."
Mark Twain
Ihr Lieben,
heute möchte ich Euch eine Geschichte von Leo Tolstoi erzählen, die fast jeder von Euch kennt und die ich vor längerer Zeit auch schon einmal erzählt habe. Aber da ich gebeten wurde, sie wieder einmal zu erzählen, nutze ich die Gelegenheit, uns allen die tiefe Wahrheit dieser Geschichte wieder einmal ins Gedächtnis zu rufen:
"Es war einmal ein Großvater, der schon sehr, sehr alt war. Seine Beine gehorchten ihm nicht mehr, die Augen sahen schlecht, die Ohren hörten nicht mehr viel und Zähne hatte er auch keine mehr. Wenn er aß, floss dem alten Mann die Suppe aus dem Mund. Der Sohn und die Schwiegertochter ließen ihn deshalb nicht mehr am Tisch essen, sondern brachten ihm sein Essen hinter den Ofen, wo er in seiner Ecke saß.
Eines Tages, als man ihm die Suppe in einer Schale hingetragen hatte, ließ er die Schale fallen und sie zerbrach. Die Schwiegertochter machte dem Greis Vorwürfe, dass er ihnen im Haus alles beschädige und das Geschirr zerschlage, und sagte, dass sie ihm von jetzt an das Essen in einem Holzschüsselchen geben werde. Der Greis seufzte nur und sagte nichts.
Als der Mann und die Frau einige Tage später zu Hause beisammen saßen, sahen sie, dass ihr Söhnchen auf dem Fußboden mit kleinen Brettern spielte und etwas zimmerte.
Der Vater fragte ihn: "Was soll das denn werden, Mischa?" Und Mischa antwortete: "Das soll ein Holzschüsselchen werden, Väterchen. Daraus werde ich dir und der Mutter zu essen geben, wenn Ihr alt geworden seid."
Der Mann und die Frau sahen sich an und weinten. Ihnen wurde plötzlich bewusst, wie sehr sie den Greis gekränkt hatten und sie schämten sich. Fortan ließen sie ihn wieder am Tisch sitzen und waren freundlich zu ihm."
Ihr Lieben, ich möchte Euch mit dem Spruch von Mark Twain nicht nur zum Schmunzeln bringen.
Es ist mir wichtig, dass wir alle begreifen, wie viel wir voneinander, die jungen Menschen von den alten Menschen und die alten Menschen von den jungen Menschen lernen können.
Es ist wichtig gerade für junge Menschen, dass sie ihre eigenen Erfahrungen machen.
Eigene Erfahrungen sind etwas Gutes, aber wir müssen nicht alle Erfahrungen selber machen, wir können auch von anderen Menschen, die bereits in ihrem Leben viele Erfahrungen gesammelt haben, sehr viel lernen.
Was wir brauchen, ist, anders als in unserer heutigen Geschichte, eine Kultur des gegenseitigen Respekts.
Eine Kultur, in der es darum geht, nicht nur die eigene Meinung für das Alleinseligmachende zu halten, sondern in der es darum geht, Neues kennenzulernen, in dem wir hinhören, was uns der andere Mensch zu sagen hat, indem wir ihm zuhören und indem wir die Bereitschaft zeigen, aus dem Gehörten zu lernen.
Eine Kultur, in der es aber auch darum geht, dass nicht nur noch der etwas wert ist, der etwas leisten kann, sondern auch der, der etwas geleistet hat, nun aber scheinbar nichts mehr leisten kann.
Wir brauchen eine Gemeinschaft des gegenseitigen Respekts, der gegenseitigen Achtung, des gegenseitigen Miteinanders und des Füreinanders.
Wenn wir das lernen, können wir eine Gemeinschaft von Menschen bilden, in der junge Menschen lernen, zu hören auf alte Menschen und umgekehrt alte Menschen auf junge Menschen.
Wenn das geschieht, wird der Respekt voreinander wachsen und sowohl die jungen als auch die alten Menschen werden die Angst voreinander verlieren, weil dann nicht mehr das höchste Ziel die eigene Ichbezogenheit ist, sondern der andere Mensch, das DU.
Diese innere Haltung des Respekts voreinander und vor der Meinung des anderen Menschen wünsche Euch allen und mir von Herzen.
Euer fröhlicher Werner
Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt