Religiöse Wahrhaftigkeit im Hollywoodfilm

Religiöse Wahrhaftigkeit im Hollywoodfilm

THE WHITE SISTER
USA 1923
Mit Lillian Gish, Ronald Colman,
Drehbuch: George V. Hobart
Regie: Henry King

Eine Liebesgeschichte ohne happy ending – das gab’s tatsächlich mal in Hollywood! Die Liebenden, die im Stummfilmklassiker The White Sister im Mittelpunkt stehen, werden vom Schicksal getrennt – und finden nicht mehr zueinander. Trotzdem war der Film ein Riesenerfolg…

Zuerst aber etwas Geschichte: The White Sister war Lillian Gishs erster Film ohne D.W. Griffith – er markiert den Schritt in ihre künstlerische Unabhängigkeit. The White Sister war zudem Ronald Colmans erste Film-Hauptrolle als jugendlicher Liebhaber. Und was den Regisseur Henry King angeht: The White Sister ist so etwas wie der thematische Schwesterfilm seines späteren, wohl besten Werkes, The Song Of Bernadette (1943).

The White Sister ist die zweite Verfilmung von Francis Marion Crawfords erfolgreichem gleichnamigem Roman; die erste Leinwandadaption entstand 1915, zwei weitere folgten: eine weitere amerikanische von 1933, mit Joan Allen und Clark Gable (ich werde demnächst darüber berichten) und eine mexikanische aus dem Jahr 1960, mit Yolanda Varela und Jorge Mistral.

Das hier in der Reihe Warner Archive Collection – vergessene Filme vorgestellte Werk dauert zweieinhalb Stunden und überrascht erstmal durch seinen “europäischen Look”. King und seine Crew reisten nach Italien, wo in und um Napoli zum grossen Teil an Originalschauplätzen gedreht wurde. Das, und die Tatsache, dass einheimische Darsteller für Nebenrollen rekrutiert wurden, gibt dem Film eine Authentizität, die einen grossen Teil seiner Faszination ausmacht.

Erzählt wird die Geschichte der Prinzentochter Angela Chiaromonte (Lillian Gish), die nach dem Tod des Vaters von dessen anderer Tochter um das Erbe gebracht wird und fortan  – durchaus glücklich – ein bürgerliches Leben führen muss. Ihr Geliebter, der Capitano Giovanni Severini (Ronald Colman) will sie bald heiraten, beide sind ein schönes, glückliches Paar – bis das Schicksal zuschlägt: Giovanni wird militärisch nach Algerien abberufen und gerät dort in Gefangenschaft. Schon bald trifft die Nachricht seines Todes ein.
Angela beschliesst nach dem ersten Schock ihr Leben der Kirche zu widmen und wird Nonne. In einer unglaublich berührenden, langen Sequenz – dem Herzstück des Films – wird die feierliche Zeremonie, die Profess, in deren Zug Angela zur Nonne berufen wird, minuziös nachgestellt. Auch sie wirkt authentisch und entwickelt dadurch eine religiöse Wahrhaftigkeit, die man so von Hollywood nicht kennt. Dieser Sequenz parallelgeschnitten wird Giovannis Befreiung aus der Gefangenschaft und dessen beschwerlicher Heimreise nach Neapel.

The White Sister mag zu lange dauern (zweieinhalb Stunden), viele Szenen stellen die Geduld heutiger Betrachter auf die Probe, aber es gibt immer wieder Sequenzen wie die eben beschriebene, wo der Film ein derart hohes Mass an “Echtheit” erreicht, dass er ehrlich und empfunden wirkt. Und genau diese Qualität vermochte Regisseur King zu bewahren, denn der genau zwanzig Jahre später entstandene Song of Bernadette bezieht seine hypnotische Kraft und seine Glaubwürdigkeit aus genau dieser Fähigkeit des Regisseurs, eine Atmosphäre der religiösen “Wahrheit” zu schaffen.
Genau wie jener atmet The White Sister eine offenbar empfundene, nicht nur eine behauptete Religiosität. Und das rettet ihn über seine Längen hinweg.

Mit das Ungewöhnlichste an dem Film ist aus heutiger Sicht sein Schluss. Angela bleibt ihrem Gelübde treu – auch als Giovanni zu ihr zurückkehrt und verzweifelt um sie kämpft. Er findet seine Bestimmung und sein Ende schliesslich im heroischen Akt der Selbstaufopferung während eines Ausbruchs des Aethna, welcher den Höhepunkt des Films bildet.

Lillian Gish erscheint hier erstmals weniger als aetherisches Pflänzchen, sondern mit zunehmender Dauer als selbstbestimmte junge Frau, die sich vom Schicksal nicht so leicht brechen lässt. Damit vollzog sie einen wichtigen Schritt in die eigene Unabhängigkeit, weg vom Diktat ihres Mentors Griffith, der sie stets als zerbrechliches, puppenhaftes Wesen in Szene gesetzt hatte.

Ich bin nun gespannt auf die zehn Jahre später entstandene Tonfilmversion. Sie ist in dieser Ausgabe der Warner Archive Collection mit enthalten, einem direkten Vergleich steht also nichts im Wege. Er erfolgt – demnächst auf diesem Blog…
7/10

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