REISEFIEBER I Ein Autorenreisebuch. Toskana


Endgültige Datei. 22.12.10, Ostern 12
Dieter Schlesak
                          REISEFIEBER
      Atlantik, Mittelmeer und eine Liebe auf Reisen.
                                       Ein Autoren-Reisebuch
 
Italien: Toskana, Umbrien, Rom, Sizilien; Frankreiuch: Normandie, Bretagne, Cộte d´Azure, Korsika (zu Wasser und zu Land);  Spanien: Katalonien ; Griechenland, Kreta; Israel; eine Kreuzfahrt: Mittelmeerküste,  Nordafrika, Die tlantischen Inseln).
Einführung
(Fernweh. Reisen als Erkenntnis. Reisen als schöne Kunst der Flucht und Ankunft im Anderswo! Reisen als Symbol: Ulysses, der schönste Name).
DIE TOSKANA
     RÄTSEL DES WACHSEINS
       EIN NAME, DER NUN FÜRS LEBEN GILT:  CAMAIORE      
1
Und sitzt also nun täglich da, versitzt dein Leben, blickst hinaus auf Kastanienwälder und siehst, wie die Zeit sich ordnet zwischen Rebstöcken, Reihen der Weinreben des inzwischen toten Dorfsarztes; Bergwind raschelt zuweilen in den Blättern, Säuseln im Baum, dazwischen Blinken der Lichter unten am Meer. Hier – die Schreibstube. Irgendwo drin sein. Wie viele Seiten heute, Freund?
Für uns ist es nicht - so weit das Auge reicht- Ferienland. Und das blaue Meer, Gottes freie Natur? Erinnerst du dich, L., an den Ausflug nach Casa Bianca? Im romanischen Kirchlein von Lucese das: „Deo benedici,/ E sovra il tuo bel colle,/ Eterna sia la dolce Primavera…”: Gott segne uns/ Über deinem schönen Hügel,/ Ewig sei der Frühling und ewige Blumen…
Toskanische Zungenbrecher die Mauer entlang, die sich für mich sicher nie öffnet. Und doch lebe ich hier seit vielen Jahren. Warum?
Man könnte meinen, wegen der Landschaft?
Froh gehen wir durch menschenleeres Land. Wie vor der Erschaffung der Welt, Wind streicht über unendliche Kastanienwälder, und die Quellen rauschen. In der Ferne die Bergzüge. Ruinen von Bergdörfern wie aus Tausendundeine Nacht, und der Berg Prana nebelumwölkt. Wir legen uns in einem Gehöft unter eine regennassen Heuschober. Wilde Krokusse ringsum, das Haus sorgfältig verschlossen, als wollten die Bewohner bald wiederkehren.
In Borgo a Mozzano sagte der Lehrer Bianchi, die rote Region habe neue Gesetze erlassen, die Comunità Montana müsse die verlassenen Gehöfte wieder bewohnbar machen, der Exodus, die Armut, die verwilderten Äcker zeigten die Dramen, die innern Verletzungen seien geblieben, geblieben auch die schreckliche Entvölkerung. Ein Teil der Leute ist ins Ausland gegangen, nach Deutschland und Frankreich, nach Argentinien, ein Teil lebt im Flusstal, bevölkert sei ja das Land nur im Sommer, wenn die Leute aus Viareggio, aus Pisa, aus Florenz, aus London und Frankfurt in die Sommerfrische ziehen.
Krokusse ringsum, zarte Jenseitsblumen, Verlassenheitsatmosphäre. Durchscheinend das Violett, ein Wunder, weißt du noch, L., durch die zerbrochenen blinden Glasscheiben der verrauchte altertümliche Bauernkamin, genau wie der erste Blick in unser Haus hier, weißt du noch: ein umgekippter Stuhl, und in der leeren Flasche war der Wein verdunstet.
Der alte Bauer Vince stand auf der Leiter und schnitt den Feigenbaum; unten am Meer sah man das Blinken der Lichtreihe von der Via Aurelia her. Wir wagten kaum, ihn zu fragen: Bis nach Siena hinunter haben wir mit Häuserblick die Gegend abgesucht. Hier sind wir geblieben.
Doch ein Stich war’s dann, als wir Naiven hier reiften und es erfuhren. Weißt du noch, Bianchi, ein Schock fast, dass, so brutal gesagt, Poesie hier einfach und billig geworden sei, Reichere (ha: wir) dürften sich’s leisten, die verlassene Schönheit geht an den Mittelstand, quer durch die europäische Sozioökologie. Die Entwicklung neuer Verkehrsmittel, Kommunikation, das wirkt wie ein selbstgemachtes Schicksal. Von wem gemacht?
Der Weg zur Stadt war zu weit mit dem Maultier oder zu Fuß. Der Städter, der Ausländer kam per Boeing und per Auto, kaufte die verlassenen Gehöfte auf, das Land wurde enteignet vom Wahnsinn der Plastikkultur und der diversen ‚Wirtschaftswunder’. Weiß Gott, wie weit die es bringen würden, alles Alte erschien eine Zeitlang wie faul und weit und mühsam und verkommen, die Natur nichts mehr wert. Bis dann der Hunger umschlug, die kunststoffgestopften Mäuler begannen zu kotzen.
Vor Jahren ist Vince, dem unser Haus ein Leben lang gehört hatte, gestorben.
Wir sind die letzten in Vinces Trauerzug gewesen. Der kleine Friedhof in Pieve. So schön klar ist das Gras der Berge seit langem nicht zu sehen gewesen.
Ich machte eine weite Handbewegung, ein besseres Panorama – hinter den Augenlidern – hätte er sich nicht wünschen können. Das typische Motorengeheul der Sägemaschinen, nichts hat sich verändert. Und den Minzegeruch wird er nicht mehr riechen und nicht mehr hören können?
Immer an diesem Graben entlang. Immer hat er an solch einem Graben gelebt: Grasmähen für die Tiere, Wiese, der Graben daneben, hinter dem Haus. Sense. Gratwanderung. Scharf schneidet das ein.
Wie viel Uhr ist es. L. versteht nicht. Sie steht da ganz vorn am Grab, wird eben von der schwarz verschleierten Tochter des Toten umarmt; L. streichelt sie schwesterlich.
Langsam den Sarg hinab lassen. ‚Welches Haus ist das dauerhafteste? Das des Grabmachers, es dauert bis zum Jüngsten Tag!’
Sie schieben den Sarg seitlich unter die Betondecke und lassen ihn dann an Seilen hinab, Gepolter, drei lehmige Erdklumpen nachwerfen, ein paar Blumen. Fades Blumenwasser, auch Blumen verwesen, doch ohne eklige Maden, kein sich auflösender Kadaver. So war’s gut, so, als sträube sich der Körper, er will seine Form nicht hergeben.
Es bleibt mir in der Nase ein süßlicher Geruch, sage ich. Leichenhalle zu Hause in Schäßburg, Kränze, Schwarz… schwarz.
L. Schweigt, sieht zurück.
Komm, gehen wir, ich habe Angst vor dem Weinen seiner Tochter. Wir gehen durch das Gewirr der Grabsteine. Ruhe in Frieden. Ich lese die Goldbuchstaben im Marmor, ein Foto, ein junger Mann.
Auch der Ziegenstall oben neben der torre ist zu einer niedlichen Dependance der Touristensiedlung ausgebaut worden, das neue Geschäft eines Londoner Friseurs mit verschleiertem Blick.
Mit dem Alten stirbt eine Zeit, sagte ich zu L. bei einem Regenspaziergang.
Aber das, was ich jetzt sehe, ist wirklicher, dort, fahl im Sonnenlicht die Glühlampen an den Grabsteinen. Unbeschreibbare Gefühle aushalten, den Schmerz der gebückt gehenden Tochter, der Fischersfrau, mit ihrem Mädchen an der Hand.
Der gute Alte, der so verschmitzt lächeln konnte, kaum einmetersechzig groß, hat sein Leben gelebt, wenn auch auf kleinstem Fuß, hat Kinder in die Welt gesetzt, die Tochter, der Sohn ist in Argentinien, Enkel. Sein Weib, die Assuntina mit ihrer herzlichen, aber kaum verständlichen Nuschelrede, zeigte bei jedem unserer Besuche in ihrer steinkalten und verrauchten Wohnung verblichene Fotos aus den fünfziger Jahren, der Sohn wirkte darauf groß und füllig, braungebrannt. Der ‚neue’ Brief vom Sohn schon ein paar Jahre alt. Seit zwanzig Jahren haben sie ihn nicht mehr gesehen, irgendwie ist er schon in die Ferne entrückt, Erinnerung. Die Reise nach Europa ist zu teuer. Und sie nach Argentinien?! Ja, ich war als junger Mann auch dort, sagte Vince dann und sog nachdenklich an seiner Pfeife, aber jetzt… Das klang so, als spräche er von einem Ausflug auf den Mond.
Unser Angebot, den ausgewanderten Sohn einmal in Buenos Aires von unserem Haus aus anzurufen – ich dachte dabei blödsinnigerweise an so etwas wie eine winzige Wiedergutmachtung, der Argentinier sollte aus seinem ehemaligen Elternhaus angerufen werden , lehnten sie freundlich dankend aber bestimmt ab. Assuntina ein wenig jammernd, ‚il mio cuore’ sagte sie, ich kann mich nicht bewegen, mein Atem geht schwer. Sie hat Kreislaufbeschwerden, dick geschwollene Beine, Wassersucht. So war sie nun auch bei dem Begräbnis nicht dabei. Mit langen Reisen hatte sie sich abgefunden: Dass du dich nicht unterstehst, im Grab zu rauchen, hieß es oft im Scherz, und ich dachte an etruskische Grabinnenräume Er wird die lange Reise eben ohne mich antreten müssen. Sie schob die Ablehnung unseres Angebotes , in Argentinien anzurufen, auf den Körper, gemeint war aber die Angst vor der Aufregung, dem Schock, diese Stimme aus der Ferne zu hören, so einfach: drei Minuten lang und dann aus für immer. Das Telefon zur Vorspiegelung falscher Tatsachen lehnten sie ab. Getrennt ist getrennt, basta. Damit hat man sich abgefunden. Unvorstellbar so ein Abschied und doch ganz und gar normal. Jeder hat sein Schicksal, sagte Vince, bestimmt, das muss man annehmen.
Einiges davon war ihm ins Gesicht geschrieben, Falten, Fältchen, gegerbt, Rinnen, fast schon anonym und wie eine Haut, die eben so geworden ist, wie sie ist, wie ein fremder rätselhaft pergamentner Gegenstand, der uns gar nicht gehört. Und genau so erzählte er auch, immer ein wenig lustig und aufgekratzt, seine Geschichtchen aus dem ersten, dem zweiten Weltkrieg, seine Auswanderungen nach Spanien, Argentinien, sein Aufenthalt als Kriegsgefangener in der Nähe von Wien, wo er ‚cartofele’ hat anbauen und essen müssen. K.und k.Zeit war das und gekämpft hat er am Isonzo, nein, als Koch war er mitgestapft („Ich war klein, da musste ich mich nicht bücken, wenn die Kugeln um mich herum pfiffen.“) Er hat dann nach dem Krieg als Maurer gearbeitet, später, als er ins Rentenalter kam, auf seinem Acker, bis ins zweiundachtzigste Lebensjahr („Ich sterbe, wenn ich aufhöre, ihr werdet es sehen“).
Verkauft hatte er uns Haus und Acker, um das Geld nach Buenos Aires zu schicken.
Dazwischen der Krieg.
                                           2
Der Himmel ist blau. In der Ferne das Meer, ein Strich. In allen Dingen diese Unmöglichkeit, es stimmt nicht, daß Dinge hier auf der Erde ganz sein können, wenn wir es nicht sind,  das ist eine Lüge. Sie sind nicht mehr heil. In jedem Baum inzwischen, jedem Grashalm diese Unglaubwürdigkeit, an der wir mittragen, weil wir in jeder Sekunde dazu beitragen, daß etwas nicht stimmt -  wir zu ohnmächtig sind, etwas daran zu ändern, und doch meinen, es ändern zu können. Unnötige Schuld.
Ich schreibe, die Zeilen wie hereingeholt aus dem Land, den Furchen, die der Bauer auf dem Kartoffelacker gezogen hat: Das wäre gut, doch maßlos untoskanisch: es ist leider nicht zu ändern, die Schrift ist mein Beruf; ich gehe damit weit zurück, und kann diesem Land entsprechen:
„Es ist ein uraltes Land. Je höher du die Hügel hochsteigst“, sagte L., die mir den Tee brachte und auf dem Bildschirm die Zeilen gesehen hatte: „Je höher du hinaufsteigst, umso verwischter sind die alten Furchen und Steinmauern, unbebaut fallen sie wieder ins Nichts zurück, -  hast du es nicht bei unserem letzten Bergausflug gesehen?“„Danke“, sagte er, „ich schreibe trotzdem weiter. Und warte, und du wirst dich noch wundern. Nun gut: Wir haben es nicht gesehen, doch früher war das Land hier bebaut“.  Und Sie sah zum Fenster hinaus: Die Zeilen dort draußen sagten ihr mehr. Bis hoch hinauf, der Bauer hat es beschrieben: bis auf achthundert Meter Höhe war das Land außerordentlich feinschichtig gewoben, wie ein Gedankennetz, bei Fiesole sieht man es noch heute: Linien, Flächen, Trapeze, dann die Reihen der Weinstöcke, die längst, als wären sie unerlaubt, gewesen und vergangen sind; dazwischen Diagonalen, Horizontalen, Grammatik des alten Landes, verdichtet  als Rast, als Punkt der Milde, wo alles noch einmal geträumt wird, die Casa, umgeben von Olivenbäumen, Zypressen, Feigenbäumen, Obstbäumen, und  wirkt aus der Vogelschau merkwürdig, abstrakt und doch organisch, als wäre es das geformte Unbewußte, Muster des Schreibens; Zeilen, Formen, dem Land abgerungen, und doch etwas zur Sprache gebracht.  Es ist uns noch geblieben, in engster Umgebung.
„Tempi passati“, sagte Sie, „du meinst es doch auch: Alles ist noch da und doch wie längst vergangen; ich mag  deine Nostalgie, mißversteh mich nicht, sie ist ja auch meine: bei all den neuen häßlichen Villette der Neureichen  Alles wird  jetzt >neu< gemacht, pompös und reich, glitzernd und protzig. Schau dir nur an, was für Häuser die jungen Leute unserer Umgebung in die Landschaft gestellt haben, die Kinder unserer früheren Bauern. Alles so gelackt, daß sich die Kastanien schämen, einer hat sogar eine elektronische Anlage an der Garage - mit Fernbedienung. Oder die schöne alte Apotheke an der Ecke,  die ist nun ein kleiner kitschiger Marmorsalon, und nicht wiederzuerkennen. Das geht rapide. Die Tante-Emma-Läden sind nun kleine Minimärkte, und alles ähnelt immer mehr Bigmac und den Ketten der scheußlichen bunten Pop-und-Plastik-Kultur des McDonald (in Griechenland, in Spanien, in Portugal ist es nicht anders!). Aus ist es mit der SCHRIFT des Landes;  und schau dir die neuen Moden an, dieses Gestylte, diese Hahnenkämme und das Computerfreakhafte mit Juppyeinschlag.“
„Aber die Landkirchen hier haben einen offenen Dachstuhl, er paßt zum alten Land, das wie eine Ruine daliegt, die Landkirchen mit offenem Dachstuhl schauen fast schon wie Vergessene ins Land.
Ich empfinde es so: sie schmerzt, diese strenge geometrische Klarheit, die kein Abbild des Organischen, kein Spiegel des himmlischen Jerusalem ist wie bei den Deutschen und Franzosen in ihrer Gotik, nein, einmal  war es hier der Gleichgewichtszustand  zwischen Himmel und Erde, es ist ein besonderes Lebensgefühl, hast du es nicht bemerkt?“
„Es sagt mir besonders zu, ich habe es gern: bei den alten Bauern ist es noch spürbar, von denen jetzt die letzten aussterben: diese herzliche Distanz; diese maledetti  toscani  hatten früher, als es sie wirklich noch gab, erkannt, wie kraftzehrend  und unökonomisch  die Extreme sind, Schönheit aber drückt in aller Einfachheit letztlich  das Praktische aus...“
                                                                3
Ich sah unten im Tal wie ein großes doppeltes S  den milchigen Fluss. Der Wagen fuhr sehr schnell  auf der Autostrada della Cisa in Richtung Versilia. Es war noch ziemlich warm. Etwa neun Stunden von Stuttgart bis ins Magratal; es war neunzehn Uhr, doch die Sonne schien noch sehr hell und blendete. Helle vom Meer auf die alte Kaiserstraße.
Castelvecchio war längst nicht mehr zu sehen, wir hatten es hinter uns gelassen;  eine an den Bergen hängende Fata Morgana, Phantom Vergangenheit, sagte ich laut. Doch Jann musste einen Laster überholen, und bei 150  ist alles wie   ausgelöscht, eine einzige falsche Bewegung, und du bist tot.  Die  Landschaft  ist immer noch schön, wie stehengeblieben, wenn man aussteigt. Und wir fahren hinauf in die Berge. Weinstöcke, Wiesen. Jann hat genau wie ich eine Sehnsucht nach der  Sanftheit des alten Gartens. Doch jene Sehnsucht ist kaum noch zu erfüllen. Im Fahren  ist die Wirklichkeit schneller und immer schon vorbei. Jetzt die FORTEZZA DI FIRMAFEDE, vorbei. Wie ein Mensch, alt und gewesen. Weiß der Käse im Mund, und Oliven schwarz, so stellt sich der Fremde Italien vor: ein Gauner-Paradies. Eine Schnitte weißer Käse, die fetta. Und die Schlösser der Lunigiana, nachzulesen die Sehnsucht in unserem neuen Führer, dem folgt ein zu Hause Unbefriedigter, wenn er kann, jederzeit. Alles bricht unter der Last der Vergangenheit zusammen, jetzt mehr, denn je, denkst du, wie oft ist es früher schon und immer wieder gedacht worden; am Turm dort die Straße der Gerüche, sonst nur Namen: Niccolo V. und Castruccio Castracane, der Condottiere aus Lucca (Machiavelli schrieb eine Biographie); und merk dir, du heißt  DS. Du sollst die Zeitung kaufen, du sollst die Tagesschau sehen, sagt Jann; ich winke ab; ich möchte  wissen, ob der Tod endgültig ist; ich habe große Lust, mich viel weiter zu entfernen, als es mit unseren schnellen Verkehrsmitteln möglich ist. Bei Lichtgeschwindigkeit steht die Zeit still, Chiliast, sie geht zurück in die Vergangenheit, jeder von uns lebt in jedem Augenblick schon in jenem Bereich, und muß es in jedem Augenblick auch sofort schon wieder vergessen, um hier leben zu können.
     
Nacht. Ich sah zum offenen Fenster hinaus in den Garten.  Draußen schwarz der Schatten des Daches, vom Mondlicht wie abgeschnitten und auf das Gras geworfen, schwarze Flecken, und ich, projiziert mit Fensterschatten unter dem Pinienbaum. Alles wie früher, mit diesen schwarzen Schatten der Melancholie, so langsam, summend auch die Zeit, in Deutschland habe ich nirgends die Stimmung eines Raumes, eines Zimmers, Hauses, die Nähe der Menschen so stark gefühlt, kaum die Nähe meiner Mutter oder meines Sohnes. Woran mag das nur liegen?
Die Halluzination zu zweit ist schwer durchzustehen. Der Kollege Muschg hat Recht, der Krieg geht durch die Paare.
Und jetzt sind wir wieder hier in unserem Haus. Nach zehn Stunden Autofahrt von Stuttgart, über die Schweiz, Tessin, Mailand, den Apennin  waren wir "zu Hause" in unserer Fremde angekommen; das Grün und Weiß auf den Feldern, die blaue Luftkugel des Südens über mir, Kirschen blühn, Knospen platzen, überall dicker Samengeruch in der Luft; Weiße, weißer Fleck, das Unbetretene, das nicht besetzt werden darf; alles nur ein Zeichen. Auf den Feldern Feuer und Rauchgeruch.Draußen vor dem Fenster ein Ave Maria und  Vogelgezwitscher; wie einst im Mai. Gefühle zeigen  noch einen Weg. Im Auge viel Grün: italienische Kastanien; und die Zeilen  hier wie die Reihen der Reben.
Schon viele Jahre leben wir hier  in unserem  Haus in Agliano/Camaiore, unweit von Lucca und Pisa. Es ist ein  altes Haus, und es sieht aus, als hebe es sich wie ein Buchstabe aus dem umgebenden Land, ein einfacher geometrischer Körper, und wirkt fast antik; „cultura uterina“, sagt L., „umgebendes Sicherheitsgefühl“.
       Sant´ Anna
Am Nachmittag waren wir mit dem Auto etwas höher, in die Berge, hinauf nach Sant´ Anna gefahren.
„Fein“, sagte Mutter, „da hat man eine schöne Aussicht.“
Gegen vier Uhr fuhren wir los. Über eine kurvenreiche Bergstraße kamen wir nach Sant´ Anna.
Wir gingen bis zum leeren Platz, der sich vor uns öffnete, ein Ort, wo niemand mehr wohnt; nur noch die Kirche steht verlassen da. Viele Blumen auf dem Vorplatz, und der Frühlingssturm heulte von den Höhen.
Ich meinte, das Geknatter der Gewehre zu hören und das Schreien der Frauen, das Weinen der Kinder.
L. erzählte, was hier im Krieg geschehen war.
Und Mutter ging nachdenklich und schweigend über diesen leeren Platz.
„Ich dachte, es gibt in Europa kein Land, wo diese Schandmale  nicht anzutreffen sind.“
Mutter aber sagte vorwurfsvoll: „Weshalb habt ihr mich an diesen Ort gebracht... grässlich...! Das können deutsche Menschen nicht getan haben!“
Es war ein schöner Tag, das Meer wie ein Farbklavier in der Ferne, der Horizont war nicht schwebend, sondern scharf begrenzt, man sah die Inseln des toskanischen Archipels.
Immergrüne Pflanzen rochen besonders stark nach dem Gewitter der letzten Nacht.
Inzwischen waren wir in der kleinen Bar von Sant´ Anna. angekommen; es ist das einzige bewohnte Haus hier, wir saßen auf einer Terrasse, Weinlaub, grün, über und neben uns der Sonntag. Mutter  leckte genüsslich rundum ein eigelbes Vanilleeis, als ginge sie all dieses nichts an; ganz versunken und fast gierig: Als gelte es, sich noch zu beeilen oder etwas schnell zu vergessen. L. und ich     aßen etwas Brot und tranken Rotwein. Ich sagte: „Roter Kaffee, nicht kalter.“ Und Mutter  probierte den 'Kaffee', nippte und lachte verschmitzt: „Ist ja Wein!“ Scherze – um zu vergessen? Dazu gehört ein Lachen, als lebe man dabei schneller. Und Wortverbindungen fielen ihr ein: „Wein und Brot gegen den Tod.“
Vielleicht Stimmen der Opfer hören, die es ganz gewiss gab, und die keine Ruhe fanden. Ungerächt. Das von der SS ausgelöschte Bergdorf. Ein Überlebender, ein Einbeiniger in der Bar erzählte, auf Italienisch, so ist es noch möglich... reihte ein Wort an das andere; erzählte von der strage: „Jeden 12. August kommt der Verteidigungsminister herauf zum großen beleuchteten Eisenkreuz. Salutschüsse werden von Ehrenkompagnien aller Waffengattungen abgegeben, junger Soldat, halte nie das Gewehr in Menschenhöhe, Salut in den Himmel, abgegeben. Ihre Väter, die Partisanen... starben hier die Söhne nicht vor den Vätern? frage ich dich.“
 Oben also. Ein Volksfest. Der Einbeinige trank ein Glas Grappa. Es war das dritte Glas. Er sagte, „die an die Wand geschlagenen Köpfe der Säuglinge, neonati…“ ein Bersten sei es gewesen, er höre es immer noch, ein Klang, ein Zerspringen von...von... von – „Wir wissen es nicht. Die Toten. …“  Dann sieh, wie der Herr plötzlich stottert, wenn es um nackte Tatsachen geht. „Nein... Nein... dort am Kirchplatz, sein Gesicht verzerrt. Kommandostimme, klare Bergluft. Salven. Stimmen Schreie; die Tellermütze hochgeschoben, der Totenkopf bewegt sich. Eine Frau hob ihren Säugling hoch. Vor ihnen der Pfarrer. Hob das Kruzifix hoch. Das Maschinengewehr. Die Kirchenwand. Das Blut floss durch die Tür, der Altar war viel zu weit. Nur die Stimmen sind immer noch zu hören in der Wand. Klopfen. Nachts Rufe. Niemand will hier wohnen. Nur die Kirche ist wieder aufgebaut worden. Kein Haus.“ In der Bar der Einbeinige. Ein Überlebender.
ZWEIMAL DEUTSCH IN
SANT´ANNA DI STAZZEMA
                     Für Stefano Busellato
Oben
Nahe am Himmel
Blau  die Blume
In der Ferne Das Meer -
Dort die  Freiheit
mit dem Himmel berührt
Wie der Tod  damals
Und dunkel der Himmel
verdeckt und geöffnet
Bach Schubert Beethoven  
Lösen  auf die Schwere
des Sterbens  hier
Sie klingen wie „Gott“.
 „Du siehst die Schuld
Die mir den Fluch verkündet“
Damals geschrieen geweint.
Gebetet:
O Dio Dio. O mio Dio
In deutsche Schüsse
Geweint.
Sie hallen noch immer.
Du singst. Die Kirche tönt.
Will sie enthüllen
Will sie verbergen?
Wir mit dem Rücken zum Altar
Christus wo warst du?
Umhüllt ist der Klang / bei
Offener Tür
Unschuldig grün  die Wiese
Im Auge jetzt
Wo Blut in die Gewehre floss
Das Schreien.
Es knattert knattert  mitleidslos
Die Welt
starb damals hier
Im Dröhnen der Berge.
Löst nun die Orgel
und deine Stimme
Mit deutschem
Gesang
Die deutschen Befehle:
FEUER! Gebrüllt
Zur Kirchentür
Mit  den drei
Maschinengewehren.
Und du singst dazwischen
Brahms die Bibel
 (Prediger, 4, 1-3)
Dass sie verstummen müssen
Die Klage:  „… sie
hatten keinen Tröster;
und die ihnen Unrecht taten
waren zu mächtig.
Da lobt ich die Toten,
die schon gestorben waren
mehr als die Lebendigen,
die noch das Leben hatten;
und der noch nicht ist,
ist besser als alle beide,
und des Böen nicht inne wird,
das unter der Sonne geschieht.“
„O Gott der Langmut und Geduld“
Sant´Anna die Stazzema.
„Ach Gott, mein Gott
Wie lange soll ich sorgen.“
Hältst du mich fest
In dieser blutenden Kirche
Die alles sah?
Bach Schubert Mahler
Beethoven Brahms
Die Toten sind hier
Und sie warten.
Sant´Anna di Stazzema,
28. Juni 2009
Wikipedia
Im Sommer 1944 waren die deutschen Streitkräfte in Italien, wie an fast allen Fronten, auf dem Rückzug. Der Frontverlauf war mittlerweile bis in die Toskana vorgerückt. Da die deutsche Besatzungsmacht junge Italiener zwangsrekrutierte und viele kampfunfähige Zivilisten zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie verpflichtet wurden, führte dies bei Teilen der italienischen Bevölkerung zu einer Antipathie gegen den ehemaligen Verbündeten. Mehr und mehr schlossen sich dem bewaffneten Widerstand, der Resistenza an, um als Partisanen gegen die Besatzung vorzugehen. Die bewaldeten Berge der Toskana boten den Irregulären Schutz und ideale Bedingungen, um deutsche Nachschublinien zu stören.
Das deutsche Oberkommando reagierte auf diese Entwicklung mit äußerster Härte. Angeblich hatten Offiziere keine Strafe wegen „zu harten Vorgehens“ zu erwarten. Da Partisanen selbst nur schwer aufzuspüren waren, reagierte man mit Hinrichtungen von gefangenen Freischärlern und Geiselerschießungen von Zivilisten, um potentielle Unterstützer in den toskanischen Bergdörfern, welche die Partisanen mit Nahrungsmitteln und Informationen versorgten, abzuschrecken.
Hergang des Massakers
Am 12. August 1944, kurz nach 6 Uhr, umzingelten vier Kompanien der 16. SS-Freiwilligen-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS” der Waffen-SS das Dorf. Sant’Anna hatte etwa 400 Einwohner und beherbergte mehrere hundert Flüchtlinge. Offiziell sollte die SS gegen Partisanen vorgehen, doch zu den etwa 560 Opfern zählen überwiegend Frauen und 116 Kinder. Sie wurden in Gehöften und auf dem Kirchplatz zusammengetrieben. Die SS warf Handgranaten in die Menge, erschoss wahllos Männer, Frauen und Kinder und brannte die Häuser nieder. Nach nur gut drei Stunden war das Dorf ausgerottet. Das jüngste Opfer war 20 Tage alt.
Nachkriegszeit und juristische Aufarbeitung [Bearbeiten]
Sant’Anna di Stazzema wurde zum Teil wieder aufgebaut. Das Massaker wurde nach dem Krieg wie viele deutsche Kriegsverbrechen totgeschwiegen, da Westeuropa eine politische Einheit gegen die Sowjetunion bilden sollte. Die Akten über den Vorfall lagerten bis 1994 in einem versiegelten, mit der Tür zur Wand gestellten Schrank im Palazzo Cesi, dem Sitz der Militärstaatsanwaltschaft in Rom, der auch unter der Bezeichnung „Schrank der Schande“ bekannt war. [1] [2] So blieben die Täter fast 60 Jahre unbehelligt. Erst im April 2004 eröffnete dasMilitärgericht von La Spezia einen Prozess gegen mehrere noch in Deutschland lebende Täter, die jedoch in ihrer Heimat als hochbetagte Rentner kein Strafverfahren oder gar den Strafvollzug fürchten müssen. Am 22. Juni 2005 endete dieser Prozess mit der Verurteilung von 10 früheren SS-Angehörigen zu lebenslanger Haft sowie Entschädigungszahlungen in Höhe von ca. 100 Millionen Euro. Alfred Mathias Concina, Karl Gropler, Georg Rauch, Horst Richter, Gerhard Sommer, Alfred Schöneberg und Ludwig Heinrich Sonntag legten Revision gegen das Urteil ein, welches jedoch 2006 von einem Militärgericht in Rom bestätigt wurde. [3]
Karl Gropler - verurteilt nach italienischem Recht
Georg Rauch - verurteilt nach italienischem Recht
Gerhard Sommer - verurteilt nach italienischem Recht
Alfred Schönenberg - verurteilt nach italienischem Recht (inzw. verstorben [3])
Ludwig Heinrich Sonntag - verurteilt nach italienischem Recht (inzw. verstorben [3])
Alfred Mathias Concina - verurteilt nach italienischem Recht
Horst Richter - verurteilt nach italienischem Recht (inzwischen verstorben)
Werner Bruss - rechtskräftig[4] verurteilt nach italienischem Recht
Heinrich Schendel - rechtskräftig[4] verurteilt nach italienischem Recht
Ludwig Goering - rechtskräftig[4] verurteilt nach italienischem Recht
In Deutschland hat dieses Urteil allerdings keine praktische Bedeutung, so dass keiner der Angeklagten bisher eine Strafe verbüßen musste. Dazu wäre eine Verurteilung vor einem deutschen Gericht notwendig, die allerdings aufgrund der deutschen Rechtslage als unwahrscheinlich gilt.[5]
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelt zwar seit 2002 gegen neun der in Italien Verurteilten, bis heute wurde jedoch mangels Beweisen in keinem der Fälle eine Anklage erhoben. Fünf weitere Personen, die nicht in dem Prozess in La Spezia angeklagt waren, blieben von Ermittlungen ausgenommen. Der aktuelle Stand der Ermittlungen ist unklar, da die Staatsanwaltschaft Stuttgart die Einsicht in die Ermittlungsakten verweigert. Die Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, die den Verband der Opfer von Sant'Anna in Deutschland gerichtlich vertritt, stellte 2005 bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung, welcher mit der Begründung einer zu vermeidenden Gefährdung der Ermittlungen durch die Opfer abgelehnt wurde. [6] Gegen die drei rechtskräftig Verurteilten wurde im Juni 2007 ein Europäischer Haftbefehl gestellt. Dieser dürfte jedoch wirkungslos bleiben, da Deutsche zum Zwecke der Strafvollstreckung nicht gegen ihren Willen ausgeliefert werden dürfen.[4]
Kritiker werfen der Staatsanwaltschaft Stuttgart vor, die Ermittlungen eher aus symbolischen Gründen zu führen und in Wirklichkeit nur den natürlichen Tod der heute noch lebenden Täter abzuwarten. Dadurch versuche die Staatsanwaltschaft eine Einstellung des Verfahrens mangels Beweisen oder einen Freispruch zu vermeiden, was beides als Niederlage für die Justiz gelten würde.
Die Staatsanwaltschaft erklärte hierzu: „Die Ermittlungen dauern noch an, ein Ende ist nicht abzusehen. ... Wir wollen den Sachverhalt vollständig aufklären. Und es ergeben sich immer wieder neue Hinweise.“ Neue Zeugen hätten sich gefunden, weitere würden gesucht, jedoch könnten oder wollten sich vielleicht die Zeugen häufig nicht mehr erinnern. [7] 2007 erklärte eine Sprecherin im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau: „Nach dem deutschen Rechtssystem müssen wir jedem einzelnen eine Tatbeteiligung nachweisen, und wir brauchen Mordmerkmale wie Grausamkeit und niedere Beweggründe, weil nur Mord nicht verjährt.“[4]
Die Staatsanwaltschaft hat ihrerseits die Verurteilung in Italien kritisiert. Sie sei ein „Schnellschuss aus der Hüfte“, bei dem sich die italienische Justiz zehn Angehörige der Einheit „herausgepickt“ und pauschal verurteilt habe.[4]
Am 60. Jahrestag des Massakers besuchte mit dem deutschen Innenminister Otto Schily erstmals ein deutscher Politiker eine Gedenkfeier im Ort.[8] Enio Mancini, der das Massaker als Junge miterlebte und nicht von den Deutschen erschossen wurde, hat an der Stelle des ehemaligen Dorfes eine Gedenkstätte und ein Museum aufgebaut, in dem Fotos, persönliche Habe, und Anderes zu besichtigen sind.
Bilder [Bearbeiten]
Häuser des Ortes
Hinweisschild der Friedensparkverwaltung
Die letzte erhaltene Ruine
Kirche von Sant’Anna mit Kriegerdenkmal des Ersten Weltkrieges  
Tafel auf dem Kreuzweg zum Mahnmal
Mahnmal
Skulptur Mutter und Kind im Mahnmal
Mahnmal, Opfertafel
Web-Portal von Sant’Anna di Stazzema
elenco delle vittime (italienisch) – Liste der Opfer
Aktuell (16.01.2007) laufende Sendung zum Thema im Deutschlandfunk
Die größten Massaker in Italien - Eine Übersicht
Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema am 12. August 1944 - Materialiensammlung 1 für eine bundesweite Kampagne zur Anklageerhebung in Deutschland Mai 2006, (Pdf 880 KB)
RBB – Kontraste: In Italien verurteilter Kriegsverbrecher als Nachbar – Dorfbewohner verteidigen ehemaligen SS-Mann (RealVideo & Mitschrift), 3. August 2006
Einzelnachweise [Bearbeiten]
↑ Heike Demmel: Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema - Schleppende Ermittlungen in Deutschland www.resistenza.de
↑ Wolfgang Most: Der Schrank im Palazzo Cesi - Späte Prozesswelle gegen ehemalige deutsche Soldaten in Italien. www.resistenza.de
↑ a b c Lars Reissmann: Verurteilung wegen des SS-Massakers von Sant’Anna di Stazzema bestätigt. Lokalberichte Hamburg, 17. Jahrgang, Nr. 24, 23. November 2006, S. 8, (Pdf 553 KB)
↑ a b c d e f Frankfurter Rundschau: Haftbefehle gegen Ex-SS-Männer beantragt, 26. Juni 2007
↑ http://www.broschuere.resistenza.de/material/broschuere_santanna_web.pdf Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema am 12. August 1944. Materialiensammlung 1 für eine bundesweite Kampagne zur Anklageerhebung in Deutschland S. 26
↑ Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema am 12. August 1944 - Materialiensammlung 1 für eine bundesweite Kampagne zur Anklageerhebung in DeutschlandMai 2006, S. 19-20, (Pdf 880 KB)
↑ Franz Schmider: Ein Massaker und eine Mauer des Schweigens. In: Badische Zeitung vom 6. Mai 2006, S. 3
↑ Otto Schily: Ansprache auf der Gedenkfeier zum
Im Frühjahr 2002 haben wir, selbst Musiker, eine Benefizinitiative ins Lebengerufen, derenZiel es ist, mit Hilfe von Konzerten von Musikerfreunden in Deutschland und Italien Spenden zu sammeln für den Neubau einer Orgel für die Kirche von Sant`Anna di Staz
 Nach vielen Jahren intensiver Kontakte in der Toskana hatten wir 1997 bei einem Besuch des Museo Storico della Resistenza von Sant`Anna den Gründer und Leiter des Museums, Enio Mancini, kennen gelernt, der selbst als Siebenjähriger das Massaker überlebt hatte. Bei unseren wiederholten Besuchen in Sant` Anna entstand schließlich die Idee zur Benefizinitiative als Zeichen für Frieden und Versöhnung.
Inzwischen wird die Initiative durch zahlreiche Musiker, darunter Mitglieder der Essener Philharmoniker und der Düsseldorfer Sinfoniker, von Organisten und Chören sowie von Professoren der Musikhochschulen Essen und Düsseldorf unterstützt.
Die Initiative wird außerdem aktiv unterstützt von der Comune di Stazzema und der Provincia di Lucca.
Nach ersten Konzerten in Essen in Anwesenheit einer Delegation aus Italien haben bereits zahlreiche weitere Konzerte stattgefunden, darunter auch ein gemeinsames Konzert von italienischen und deutschen Jugendlichen in der Kirche von Sant`Anna.
Im Dezember 2001 wurde Sant`Anna durch Beschluss des italienischen ParlamentesNationaler Friedenspark. Dort werden nunmehr Veranstaltungen zum Thema Friedenskultur durchgeführt, eine zukunftweisende Arbeit insbesondere mit Jugendlichen, bei der Musik als sprach-unabhängiges und grenzüberschreitendes Medium einen besonderen Platz einnehmen wird. Der Orgel wird hierbei eine herausragende symbolische Bedeutung zukommen.
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Der Wendehals. Und sonnenheiß die Feige.
Blaue Himmelskugel -
es sollte durch  zerfetztes Flimmern,
durch Rauchhöllen und Detonationen,
den Engeln und Vögeln hier,
den noch sichtbaren kaputten Seelen,
endlich ein Eingang gezeigt werden;
sie fliegen so ruhelos umher,
als wären wir Schwalben.
Manchmal kommt mir die Himmelskugel vor
wie meine weiche Hirnschale,
die aufplatzen könnte
in dieser Sekunde.
Und sogar Machiavellis praktische Staatskunst, diese Taktik zwischen Zufall, der fortuna, und dem freilich schillernden und vieldeutigen inneren Ordnungsbegriff virtù gehört dazu. Es war einmal, ja, einmal wie ein Märchen,  und vielleicht gehört ihre Sehnsucht immer noch in jene alte Landschaft, deren Ruinen jedoch Löcher haben, als könnten sie durchsehen, jetzt nach vorn; jenes unangemaßte, ja, unbewußte Wissen vom Rätsel des Wachseins, die Klugheit jener Geistesgegenwart, die Skepsis nicht ausschließt, scheint in diese Landschaft zu gehören..
Farbtöne und Fernsicht, Fernblick nach innen möglich, und möglich für uns, die Späten, wahnsinnsfrei; hörst du die Kultur dort am Abhang wimmern? Der Kastanienwald am Hang ist nicht  mehr blatt-los, die Olivenbäume tragen schon in der Odyssee jahraus, jahrein ihr Grün. Öl.  Im Tal liegt die kleine Stadt Camaiore. Nebel. Hier verlief früher die Frankenstraße. Friedrich II. läßt grüßen, die Kirche der Abtei war ein Hospital für Pilger. Auf der Höhe Höfe. Kaiser und Päpste, mal nah, Dante. Genuesische Wachtürme. Sarazenen. In Luni landete der schwarze Christus von Lucca. Und jetzt: der Augenblick irre. Und stellt mich doch immer noch her. Alles ist ruhig. Und wie längst vergangen. Genau. Und als ich vor meinem Haus im Garten stand, empfand ich den Riß: Ein feines  Glasklingen im Ohr. Die Krankheit  liegt tief, diese Krankheit, wie die meisten heutigen Krankheiten, ihre Erreger könnten wir nicht sehen, hören oder fühlen. Kein gewöhnliches Unglück, nein: Eine Art Dimensionsgrenze sei erreicht, daher auch der Übergang und Hinübergang.
Ein Freund meint, es gehe bis in die Atome,  Atom,  das Unteilbare teilbar, zerfällt, unser Schicksal: Atom. Und die Zellen, ja, die Liebe sei auch angegriffen, aus mit dem Hohelied Sex. Die Widerstandskraft unseres Blutes sei gebrochen. Immunschwäche gehe um, wir können den Körper nicht mehr schützen, er ist längst im Aus. Der Arme... du sagtest, und eine junge Geliebte sagte, ihre Atome fielen auseinander, ihr fehle der Kitt.
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Ich erinnerte mich an diese Zustände im vergangenen Sommer, und als hinge alles, was hier wie überall in der Welt geschehen war, mit diesen Zuständen und mit der Auflösung der Wirklichkeit zusammen:
"Ja, ich hatte furchtbare Angst, daß es wiederkommt, das stimmt. Und dann kam es ausgerechnet im schönsten Sommer wieder, Urlaub, nennt man es: ich sehe es vor mir, als wäre es gestern gewesen: Das alte Seeräubernest mit der steilen engen und vielfarbigen Häuserfront am kleinen Hafen, hier lagen wir nachts mit dem Boot. Und so habe ich es in Erinnerung: Es ist alles so friedlich. Schön. Aber die Gegend ist voller Grauen, auf Schritt und Tritt Grauen: Am Tag waren wir in San Terenzo gewesen, Shelley hat hier gewohnt, mit Mary Shelley, seiner Frau, die Frankenstein geschrieben hat; Shelley ist von hier nach Livorno gesegelt und vor Viareggio im Sturm mit seinem Boot untergegangen.
Alpi Apuane. Die „Linia gotica“ und  die Partisanen
Zuerst fahren wir, als müßten wir die Gründe und Hintergründe dieser Zustände und aller Auflösung aufsuchen: nach Bardino, wo Reders Deutsche zwanzig Männer erschossen hatten. In San Terenzo die PzAA 16., sie wütete in Valla das Dorf war verwüstet worden, an der Mauer Kinder, erschrockene große Augen, Frauen mit schreienden Säuglingen im Arm, stehen starr vor Schreck da, einige ringen die Hände, bitten, flehen, doch brutal mit dem Gewehrkolben werden zwei jungen Müttern die Köpfe eingeschlagen, daß sie in ihrem Blut liegen bleiben, die Säuglinge daneben, eine andere Mutter hebt das schreiende blutverschmierte Kleine auf, nimmt es zum eigenen, hält zwei im Arm, arme Körperchen, noch nicht zum Bewußtsein erwacht, Gottseidank? Und jetzt stehen sie alle da, stumm, nur der Wind ist zu hören und aus der Ferne Schafsglocken. Einige Vögel zwitschern in den Bäumen. Dann das regelmäßige und gnadenlose Knattern, das Mähen der Maschinengewehre und MPs, die Wände in Valla geben es wieder, wenn man die Augen schließt, ich habe es gehört, auch in Bardino, wo dreiundfünfzig Menschen oben an den Bäumen hingen, sich langsam mit dem Wind drehten, die Gesichter verzerrt, ich habe es gehört auch oben am Ende eines engen Tales unter dem schroffen Gipfel des Pizzo d´ Ucello: Vinca, das zu Fivizano gehört, und muß es in deutscher Sprache sagen, schäme mich für jedes Und, jedes Oder, jedes Komma, und dann kommen wir vorbei. Und wir kamen auch an dem Viehgatter vorbei, wo die 29 Frauen und Säuglinge gefunden worden waren, mit aufgeschlitzten Leibern, bestialisch zugerichtet, zum Teil noch im Tode vergewaltigt. Das jüngste Kind war gerade zwei Tage alt, im Bauch einer Mutter ein Ungeborenes, das vor der Geburt sterben mußte. Und am 26. August 1944, dem dritten Tag des Gemetzels von Vinca, notieren die Ic und Ia der 14. Armee stolz in ihren Tgesmeldungen, natürlich in deutscher Sprache: „Bandenunternehmen im Raum 143/50-51-52-64 abgeschlossen. Bisher 1480 Bandenangehörige, Bandenhelfer und Bandenverdächtige erfaßt. 332 Banditen im Kampf niedergemacht. 600 Einzelgehöfte und Bandenunterkünfte sowie 17 Ortschaften im Raum Monte Sagro, dabei Hauptlager Vinca, vernichtet.“
Als wir unseren Wein in der Certosa von Farneta holten, erzählten uns die Padres vom Massaker in ihrem Kloster. Wenn wir zu Michelangelos Steinbrüchen fuhren, kamen wir zum Dorf Bérgiola Foscalina, wo die Dörfler in der Schule bei lebendigem Leib mit Flammenwerfern verbrannt wurden. Von Fucécchio, von Pontremoli, vom Cisa ganz zu schweigen....
Portovenere
In der Nacht dann Portovenere, ich lag halbnackt in der Kabine neben L., da hatte ich wieder die Zwangsvorstellung, nicht aus meinem Körper herauszukönnen, in ihm eingesperrt zu sein, wie jeder Baum, wie die Erschossenen an der Mauer, die Gehenkten, aber auch wie wir alle, wie L., wie unser kleiner schwarzer Hund; es ist jedesmal entsetzlich, als stehe eine Hinrichtung bevor. Ein Bekannter aus Pistoia leidet darunter, daß er im Körper festsitzt, und hat mich schon vor Jahren auf diesen tödlichen Gedanken gebracht; seither werde ich ihn nicht mehr los. Was ist schlimmer, diese Fleischzelle oder der Tod: - als Befreiung? Doch niemals hinab, eingezwängt ins Erdloch. Nein frei, frei zu Asche und Rauch verstreut in die Luft, ins Gras zwischen die Bäume, die weiter in die Ferne und aufs Meer sehen, im Chlorophyl belichtet. Die Angst lebendig begraben zu werden oder in einem engen Schacht, einer Betonkammer oder einem Rohr, einem Brunnenschacht zu ersticken, hat mit dieser alten verdrängten Körperangst zu tun. Wir könnten nicht leben, würden wir dieses Bewußtsein, im Fleisch unentrinnbar eingemauert zu sein, nicht dauernd vergessen. Ich holte den kleinen Hund in die Koje, preßte sein zottiges Fell an meine glatte Haut, als ließe sich diese aufreißen und als könnte ich so verschmelzen mit etwas das draußen ist; ich ließ den Gedanken in mir kreisen, daß doch alles aus den gleichen Elektronen besteht, der Körper nur ein Sieb ist, die feste kompakte Körpergestalt nur eine Täuschung, ein Phantom; doch auch diese Übung beruhigte mich nicht, es war ja gerade der Gedanke, das Bewußtsein bis hin zur Übelkeit und zum Schwindel, die mir zusetzten. Es war ein Bewußtsein, das freilich erst einsetzt, wenn sich die gewohnte Vorstellung auflöst, daß ein Körper ein Körper, ein Hund ein Hund, eine Frau eine Frau ist, wenn Namen nicht mehr schützen, alles  überreal ist, namenlos Haut und Knochen. Ein vergessenes Wissen, daß wir ins Fleisch gefallen sind, anderswohin gehören, und daß solche Angstzustände uns näher ans Erwachen bringen.
(In uns flüstern die Phantome
alle Toten die vergingen
wir sind jetzt die armen Söhne
ihre Zeit, die sie nicht lebten
Ihn vor allen Dingen.)
Lichtfenster mit schwarzen Buchstaben-Leitern
Vom verwitterten Turm aus Pieve schlägt eine Uhr, mein Herz schlägt schneller, das Uhrwerk rasselt, wieder eine volle Stunde, es klingt
durch die graue, Gottseidank noch saubere Mauer an mein Ohr. Ich sitze in meinem Zimmer, täglich, der Blick geht ganz nach innen, hinein in ein Lichtfenster mit schwarzen Buchstaben-Leitern oder Flugschmetterlingen, dem Bildschirmfenster, es sind Buchstabenreihen, mit denen ich abhebe, und hebe nach innen ab, oder der Blick geht  von Zeit zu Zeit nach außen, dann ist vor mir das Meer, der Horizont, da schlägt sich das Auge an: Himmel- und Wasser-Berührung, die Kontur scharf, vor allem am Abend bei untergehender Sonne, südwestlich Korsika, nordwestlich Ventimiglia, der Golf von Genua, nah aber Pedona mit einem Fernsehrelais, ein Bergrücken, wie ein liegendes Tier, kein  Fenster gegenüber, keine Häuserzeile, die den Blick hemmt, nur ferne Dorfkonturen wie eine Fata Morgana, die am Berg hängt, als wäre alles aus der Zeit geschnitten,  als schreibe man nicht 2008, sondern 1581. Wolkentiere kommen von Westen wie Himmelsinseln durch die Olivenzweige. Alles ist unendlich klar und offen. Kein Straßenlärm, wie früher in der Frankfurter Leerbachstraße: ein rotes Auto, ein einzelner Junge, eine Frau mit Hund, ein Lieferwagen,  doch Leichenwagen gab es keine, schwarz ausgeschlagene, wie in meiner Kindheit in Transsylvanien mit Popen,  die Weihrauchfässer schwenkten, in Frankfurt distinguierte Herren, die, plötzlich an die Vergänglichkeit ihres Körpers erinnert, stumm den Hut lüfteten und stehen blieben. Hier geht meist L. durch das Haus, die Treppe hinab, die ich wie in Gedanken hinabgehe, Pause; als strömte da alles wieder ein, füllt sie alle Vasen verschwenderisch mit Rosen, Tulpen, Kamelien, im Winter auch Rosmarin, sogar Orangen oder Zitronen; und sie raucht, so spürt sie am besten die Pause, ein Genuß: sie  steht sinnend an der Tür, stellt Gläser bereit für den Abendtrunk.
    Ein Déjà-Vu in Lucca
Wenn ich dann an Lucca denke, unsere Provinzhauptstadt hier, ist es wie ein Leitmotiv der Erinnerung, auch wie eine subtile Erklärung, warum wir denn hier wohnen: Ich sehe immer wieder die gleiche luccheser Szene vor mir, ausgelöst wird sie, wenn ich Pferdehufe auf Pflaster und Stein schlagen höre oder das Rattern eines Zuges vernehme, wie im Herbst 1968 bei einer Zugfahrt nach Florenz. Da lag ich im Abteil, hatte die Augen geschlossen, es muß bei Montecatini gewesen sein; das Ratatata war ein Ritt; und auch als ich die Augen öffnete, überlagerte ein Reiter das Augenbild; ich sah doppelt, sah einen Film über die Außenwelt hinziehen; ein Mann stieg da am Ende einer Straße von seinem Pferd; am Ende der Straße war eine schöne Villa in einem Park mit alten Bäumen; der Mann band vor einem großen Haus mit grünen Läden das Pferd an einen Pflock, er ging durch die Haustür in den Flur; auf der Kommode lag ein kleiner schwarzer Kater... Huf des Pferdes noch hochgehoben, ihn zu prüfen; die geöffnete Tür des Flurs, im Zimmer ein heller Raum... ein Gartenfenster und eine üppige Frau im halb geöffneten Morgenrock... sie darunter nackt, auf der Fensterbank rote und mauvefarbene Geranien, dahinter ein kostbarer Schrank im Halbdunkel des Raumes, ein runder Spiegel, an der Wand ein altersgeschwärztes Bild mit einem Weißbärtigen, der drei Finger zum Schwur oder zum Todeszeichen erhoben hatte.
Diesen Traum habe ich immer wieder geträumt, schon bevor ich in Lucca gewesen war, denn erst Weihnachten 1968 hatte ich Lucca zum erstenmal besucht, und dabei dieses Haus wirklich und daher voller Schrecken gesehen und wiedererkannt. - Ich war damals, Weihnachten 1968, durch die Via dei Fossi gegangen, da kam mir die Straße, da kam mir das Haus bekannt vor, und es war genau jenes Haus mit den grünen Fensterläden aus dem Traum, wo ich die Frau gesehen hatte, die Tür stand einen Spalt offen, ich ging hinein, ich erkannte alles wieder: Ein kleiner Vorraum, sogar eine Kommode gab es, rechts die kleine Treppe, eine Tür, links eine andere, eine steile Treppe, ich ging hinauf, als käme ich nach Hause...
 So war es auch mit dem Bild, ich sah es an der Wand hinter der bräunlichvergilbten Stehlampe, es stellte einen Bärtigen dar, das Haar silbrig, die grünlichen Augen prüfend, die Hand erhoben, warnende Geste mit den drei Fingern, offenbar ein Zeichen, das Todeszeichen... ich kannte es, ich erschrak. Szenen, die mir dazu aus dem Unbewußten hochstiegen, wie im Nebel Bilder formten, Traumfetzen und Fragmente, herausgewürgt voller Übelkeit, materielle Fragmente einer furchtbaren Vorstellung; Schwindel erfaßte mich, meist wird ein Anfall ausgelöst durch Blickkontakt, das Gesicht eines Unbekannten vor mir, blitzartig die Wahrnehmung: den kennst du, wo hast du den schon gesehen? Irgendwo erlebt und gut gekannt; doch ein Loch im Gedächtnis quält, dafür wühlende Emotionen, krankhaft, schmerzhaft. In der luccheser Via dei Fossi war das wieder so, Übelkeit und Schwindel und dann diese Traumfetzen.
Die Via dei Fossi liegt in der Nähe der Kirche San Francesco, wo an jenem Weihnachtstag 1968 der Leipziger Thomanerchor ein Konzert gab. Ich ging ans Ende der Straße, doch da war keine Villa, wie ich sie im Traum gesehen hatte, sondern eine Durchgangsstraße, Autoverkehr brauste vorbei. Eine Ampel. Rechts eine Villa, doch nicht die meine. Der Park, ja den gab es noch. Doch die hohen Bäume waren verschwunden. Der Verstand versagt - wie bei Todesfällen, konnte ich sagen: ich weiß, daß es dort ´ganz bestimmt´ eine Villa gegeben hatte? Woher wußte ich es denn?
Ich erinnere mich noch genau: Als wir in Lucca ankamen, es war meine erste Begegnung mit dieser Stadt, schien sie mir fremd;  wir sahen zuerst den Dom San Martino, den Schwarzen Christus, lasen die Reiseführerkommentare, Heine dazu, gingen dann zum Palazzo Guinigi (der abgesprungene Verputz erinnerte mich an Wien), auf dem hohen Turm war eine Steineiche, über den Büschen im Garten eine Palme - da hatte  ich andauernd jenes merkwürdige Gefühl einer Wiederbegegnung, und ich fürchtete jene Übelkeit, jenen Schwindel,  wenn Szenen, Bilder, Gesichter aus dem Unbewußten wie aus vergessenen Alpträumen hochstiegen.
Dann kam mir eines Tages der Zufall, diese Konstellation des Ungewußten, zu Hilfe: Jahre später, vom 27. Juni bis zum 29. September gab es im Rathaus der Stadt die erste Ausstellung über die luccheser Palazzi des 16. Jahrhunderts, und ich konnte dort mit Mario Berengo, Mailänder Professor und ´esperto assoluto´ fürs 16. lucchesische Jahrhundert, ausführlich sprechen. Berengo bestätigte mir: ein gewisser Nicolao Granucci, nicht unbekannt in der Stadtgeschichte, habe tatsächlich in der Via dei Fossi gewohnt, und auf dem alten Stadtplan Berengos ist auch die Villa am Ende der Straße eingezeichnet, an die ich mich erinnern konnte, Mario Berengo, Historiker und Archivar... ist es nicht merkwürdig, ausgerechnet jetzt fand diese Ausstellung über die luccheser Palazzi des l6.Jahrhunderts statt, und Berengo bestätigte mir, daß jenes Haus dem "Todesdoktor" Rusticci gehört, daß der es Nicolao Granucci vererbt hatte, und dann: daß Granucci in der Kirche San Donino von Marlia begraben liege. Gesicherte Fakten, von denen ich jetzt hörte. Granucci - sei allerdings ein Pseudonym für Massimiliano Arnolfini gewesen.
    Im Dezember 1968 hatte ich dann in der Biblioteca Governativa von Lucca ein Buch entdeckt; es war ein alter Schmöker des verkannten Romanciers und Zauberkünstlers aus dem sechzehnten Jahrhundert: Nicolao Granucci; und dieser Granucci hatte so manche Ähnlichkeiten mit mir selbst, vor allem hatte er die gleiche Sucht zur Abwesenheit; als hätten wir die Vaterländer und Zeiten getauscht: Er war damals in meiner Heimat Transsylvanien im Exil gewesen, und ich lebte heute als Emigrant hier in seiner Gegend, der Lucchersia.
                                             
                  Die Bäder von Lucca
Wir waren in diesen Tagen nach Bagni di Lucca gefahren, im Hauptbad von Villa wollten wir die heißen Quellen besuchen und tüchtig alle Gifte ausschwitzen. In den langen Gängen dieses Bades summte die Leere, Schritte hallten laut in langen weißen Korridoren, offene Türen, nackte Frauen- und Männerkörper in weiße Leintücher gehüllt, schimmernde weiche Frauenhaut, Haare wie Inseln und Flecken, das Dreieck ein Auge. Große, kleine, dünne und unförmige Körper, die froren, Nacktheit, die sich verstecken wollte. Scham. Ein scharfer Geruch nach Schwefel erfüllte die hallenden Räume, zu hören, zu sehen war der Tag in diesem berühmten Badeort: Villa, Bagni di Lucca; die Stimmen, die klangen gedämpft, aus allen Türen ein Flüstern; nur die Ursache der Heilwirkung war nirgends mit bloßem Auge zu erkennen: Das heilende Wasser strahlte radioaktiv.
Nach dem Besuch beim Arzt nahm die alte Bademeisterin mich und L. in Empfang, sie wies uns eine Kabine an und reichte jedem ein weißes Leintuch; immer diese weißen Leintücher, dachte ich, als Kinder spielten wir dieses Gespensterspiel mit ihnen, trugen in der Hand einen Kürbis, Kerze flackernd im Innern, als wär´s ein Kapellchen, das Mondsgesicht, gelb, hatte Augenschlitze, Mund, Nase, alles nur Schlitze, und sonst war er hohl, ein schweres rundes Ding, gerippt, eben die Wurzel, an einer Stange, hochgehalten, als wäre es ein Galgen, etwas geneigt, der Erde zu.
Ich hatte mich ausgezogen, und nackt, ging ich mit vorsichtigen Schritten in die Schwitzgrotte, saß nackt auf der Steinbank, vor mir zwei leere Höhlenaugen, sah das heiße Wasser in zwei Becken, es dampfte in leichten gekräuselten Säulen. Der Körper löste sich auf, ein Schneemann, der zerrinnt. In Strömen rann mir der Schweiß vom Körper. Regelmäßiges Tropfen von Wasser, und die Angst packte mich jetzt in der Schwitzgrotte: bist im Körper, in der Haut gefangen. Auch der Fels, sieh, ist in diesem Kalkstein gefangen, kleine Poren, da, auch Schwefelflecken, gelb...
Ich hörte die alte Bademeisterin mit brüchiger Stimme rufen, die Stimme kam von ganz weit her, ich stand langsam auf, spürte Schwindel, dann schwankte ich, mein Körper hinterließ eine Schweißspur, ich hatte das Leintuch um den Körper geschlungen, und ging mit tappenden Schritten, noch ganz benommen, barfuß über die nassen Holzlatten, darunter hart der heiße Stein; kam in den weißen Ruheraum, lag dann im Lehm, Lehmpackungen, radioaktiver Lehm. Anfangs ein wohliges Gefühl, Schlammpackung, mit der hier Heine versucht hatte, seine Syphilis zu kurieren, was mißlang. Wie auch Montaignes Kur hier mißlang, Montaigne war einige Jahrhunderte früher hier gewesen als Heine, und Montaigne starb unter Qualen an Blasensteinen.
 Die Temperatur 41 Grad auch damals, als verginge keine Zeit, als wären wir hier näher dem Innern der Erde, Schlammpackung wie hohes Fieber; Summen, sonst kein Laut; ich schwitzte wie als Kind im "Wickel"; vor mir das Fenster, von Dampf beschlagen; Dampfwolken, Wolken, Wasser; im Dampf ist das Fenster zart und weich; Wasser in den Augen, Tränen auf undurchdringlichem Glas. Draußen ein Strauch. Chlorophyll. Das Grüne lockt. Und hier meine Haut. Weich. Wie wir vergehen, hier in diesem Körper. Je müder ich bin, dachte ich in meiner Lehmpackung, umso stärker und näher sind die Toten, an die ich denke, sie brechen die Wand auf, die uns trennt, zurück geht's tief ins Vergangene ...
Der Bademeister kam, und ich war froh, einen Menschen zu sehen, denn das Einsamkeitssummen war inzwischen unerträglich stark geworden.
                  Montaigne in Bagni
Montaigne, wie er ausgesehen haben mag, wie  damals wohl ihre Kuren waren ... ihn auf einen Feder Strich zitieren?  Montaigne... Ja, man schrieb ja auch damals, genau wie heute ein Datum. Oder man sagte, welch schöner Tag, che bella giornata. Montaignes Ankunft hier in Bagni di Lucca ... das war, ja, das war  am 8. Mai 1581... Die Vergangenheit stirbt nie. Sie ist nicht einmal vergangen. Es war also Mai, als Michel de Montaigne, Landedelmann aus der Weingegend von Bordeaux, hierher in die Lucchesia kam, er war in einer von Pferden getragenen Sänfte  in Villa, dem Hauptort der Bäder von Lucca, angekommen, mehrere Diener ritten voraus. Der Herr Montaigne war ausgestiegen, neben der schaukelnden Sänfte hergegangen. Neugierige Frauen sahen aus den Fenstern; wie immer, die Vorhänge zurückgeschoben, so sahen sie hinab, sahen ihn, ohne daß er sie sah: Gemessen ging er, blieb stehen, sah sich  um. Auf dem Hauptplatz vor der Thermalquelle ließ er die Diener mit den Pferden warten und ging allein in eines der Gästehäuser. Er beherrschte das Italienische, beherrschte sogar das "passato remoto". In zehn Häuser ging er, begutachtete vor allem die Klos; er war Pragmatiker; und er war krank. Er hatte schreckliche Schmerzen gehabt, krank auf den Tod mit seinen Blasensteinen, infernalisch  beim Urinieren.
Nahm Quartier bei Paulino Cherubini, Capitano della Compagnia delle Ordinanze, eine angesehene Persönlichkeit; der Capitano hatte viel zu sagen, man befand sich schließlich im gefährlichen Grenzgebiet zum Todfeind Florenz.
Michel hatte Angst vor Stummheit im Schmerz bei den Koliken. Und wenn ich hier sterbe? dachte er: Ach was, laß uns bei den Freunden lieben und lachen, doch sterben und verwelken bei den Unbekannten, bei den Fremden im Ausland. Hier bin ich. Und ein Fremder. Doch kauf ich mich jetzt ein. Wenn man  zahlen kann, findet sich schon jemand, der uns den Kopf richtet und die Füße einreibt. Wenn ich zu wählen hätte, würde ich lieber zu Pferde als im Bett sterben. Lieber außerhalb des Hauses und weit weg von den Meinen; der Tod mitten unter Anverwandten ist wie ein Herzzerreißen der Dinge.
War er hierher gekommen, um zu sterben? Das nicht. Doch er  rechnete schon lange damit, und war dabei ruhig und gelassen. Er sah die Leute mit einer Schärfe von der Seite an, daß die meinen mußten, es sei Mißtrauen, gar Hohn;  sein Blick aber war nur prüfend; freilich, etwas zu lang.  Doch er nahm die Welt so in sich auf, wie sie auf ihn zukam, im gleichen Rhythmus. Und hier oben, wo die Weinberge bis zum Himmel hochsteigen, wie winkend hinein in die Bläue, also steil wie ein Gedanke, war die Zeit in der Natur  sichtbar  geworden, dachte er erstaunt. Auch dieses Haus des Capitano scheint ganz in der Natur aufzugehen, es atmet Ruhe. Und wie sagt Plotin noch: Zeit ist das Leben der Seele; hier hat jeder und jedes Ding Zeit.
Er mietete also  eine Wohnung bei Cherubini; er nahm einen großen Eßraum, drei Zimmer und eine Kammer für seine Diener. Im ganzen waren da acht Betten, zwei mit Baldachin. Für den Tisch gab es Salz und Servietten jeden Tag; das weiße Tischtuch wurde alle drei Tage gewechselt. Küchengeräte aus Eisen gehörten zum Inventar - so hielt er es nachher in seinem Tagebuch fest; Und alles für 11 Scudi, einige Soldi mehr als zehneinhalb Pistolen, dies war der Mietpreis für 15 Tage. Töpfe, Geschirr, Teller, alles aus Steingut,  die    kaufte er, ebenso Becher und Besteck. Fleisch gab es soviel man wollte, Kalbfleisch und Ziegenfleisch, doch sonst überhaupt nichts. Poco o nulla. Und den Einkauf  besorgte die Hausfrau. Etwa zwanzig Pistolen pro Kopf.
Kochen lassen konnte man in jedem Haus. Den Wein aber, sauer bei der Höhe, ließ er sich lieber aus Lucca und Pescia besorgen.
Er war allein,  um nachdenken zu können, aber auch weil er fast gierig aß. Jetzt ausgehungert von der Reisestrapaze. Doch freute er sich dabei über den wunderbaren Rundblick und das Rauschen der Lima im Tal. Nach dem Essen versuchte er den Tag zu beschreiben; doch wie immer hatte er an seiner Schrift wenig Vergnügen. Meine Hand, dachte er verärgert, ist so ungeschickt,  daß alles wie hingekrakelt aussieht. Gekrakel, Michel. Hast nachher Mühe, es wieder zu entziffern. Als hätte ich zwei linke Hände. Schon beim Schneiden der Feder kam er in heftige Erregung, weil das Spitzen wieder nicht gelang. Er warf das Schreibzeug zu Boden, doch es flatterte nur langsam in entgegengesetzter Richtung seiner Wut, die schneller war, und schlug auch nicht auf, er hätte es lieber knallen gehört.
Er überlas die Notizen vom Vortag aus Rom. Unleserliches überflog er... Hochamt, kleine Kapelle... Priesterornat... ein spiritato, trübsinnig der Besessene, er schauderte vor Kälte. Gebete... Beschwörungsformeln. Der Teufel sollte rausfahrn aus dem Leib. Doch der spuckte dem Priester ins Gesicht. Die Hostiendecke hatte der dann vor Schreck fallen lassen. In der    rechten Hand aber hielt er krampfhaft die Kerze.
Montaigne hatte hier furchtbar gelitten mit seinen Blasensteinen, starb bald darauf, das Bad hier hatte ihm nichts genützt, obwohl er jeden Morgen zum Bad ging, genau wie es in den Handschriften beschrieben wird: diszipliniert aus Kurgründen. Dort traf er meist den Bologneser Obersten Francesco Gambarini, im Ruhestand seit zwei Jahren; weißhaariger kann man nicht sein; und dann diese schöne Tochter. Sie wohnen vier Meilen von hier entfernt in Borgo a Mozzano. Als er im Dienst war, hatte er 16 Scudi Sold  im Monat. Aber er kommt aus einer reichen Familie, Gentiluomo, Passion fürs Kriegshandwerk. Hier befehligt er 200 Soldaten, alle aus dem Dorf, ebenso der Capitano und die Sergeanten, die genießen Immunität wie Diplomaten, dürfen nicht verhaftet werden.  Der Oberst muß von auswärts sein.
Vor zwei Jahren hatte Montaigne mal zugesehen bei einem kleinen Manöver. Sie kämpfen gut, verstehen was vom Soldatenhandwerk. Alle Achtung.
Montaigne und Gambarini grüßten sich.
Das Fräulein machte keinen Hofknicks, sondern eine Verbeugung wie Männer. So ist das üblich hier. Sie muß wohl sehr krank sein, sieht fast durchsichtig zart aus, das Gesicht wie man sagt: wächsern, Puppe. Montaigne war ihnen gut bekannt, war  in Borgo a Mozzano gewesen, sie haben eine schöne Wohnung, sogar mit Glasfenstern, eine Seltenheit hier, wo die Häuser  sonst nur Holzfenster haben, dachte er,. während der Colonello eifrig auf ihn einredete, dabei zuckte dessen Hand wie ein  Nervenblitz durch die Luft, als greife er nach etwas Unsichtbarem.
Dann kam auch Montaigne in den nassen Raum. Ein Nebenraum diente zum Auskleiden. Nackt standen die Männer unter der Brause; mehrere Röhren verteilten das heiße Wasser auf den Körper, vor allem    aber traf ein starker Strahl den Kopf, massierte und erwärmte ihn. Der Bologneser wirkte neben den beiden kleinen Gestalten wie ein Hüne, trotz seiner nervös zuckenden Hand strahlte er  Kraft aus. Die Intimität des Nackten empfand Gambarini als peinlich, er bewegte sich, als wären alle Blicke auf ihn  gerichtet und hielten ihn fest. Der Raum ist ja groß genug, dachte Montaigne, er ist fast halb so groß wie mein Salon bei Cherubini. Was ist das Anregendste hier bei der Kur? Doch nur die Gesellschaft. Und während ihm das warme Wasser wohltuend den Kopf massierte, überlegte er, daß es wichtig sei, Heiterkeit an diese Orte mitzubringen, wo die Zeit sich dehnt und Langeweile aufkommen kann, genügend Heiterkeit, um die geselligen Vergnügungen  zu genießen, die Spaziergänge und Ausflüge. Ob in Frankreich, Banièrs, Plombièrs, in Deutschland Baden-Baden oder hier Villa, - alle diese Zerstreuungen nehmen ihn hinlänglich in Anspruch; für Melancholie, seinen Todfeind, ist kein Raum. Gesichter sehen, diese Reize, ein Liebes- Abenteuer zu erhoffen, das macht die eintönige Zeit im Badeort prickelnder. Und doch, zur Witwe Sercambi wird  er heute abend nicht gehen. Ich weiß, überlegt er, der Colonello kommt in diesem Nekromantischen Erzählkreis wieder mit seinen Geistergeschichten. Die schaurigste kenn ich,  die hat er mir schon in  seinem Haus erzählt. Beginnt mit einem Spruch: "Und nach drei Tagen/ wacht die Schöne wieder auf,/ öffnet, öffnet, lieber Vater mein,/ öffnet und zaudert nicht./ Drei Tage lag ich wie tot/ Zu retten meine Ehr." Auf dem Gesicht des großen und hageren Colonello liegt ein besonders weicher Zug, Unglück  zeichnet. Und seine Tochter, die schöne Emilia, etwa 25 Jahre alt, hat ein Wachsgesicht, ist zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe.
Am nächsten Morgen traf der Colonello seinen würdigen und verehrten Freund  Montaigne im Bad Bernabó, etwa drei Meilen Fußweg von Villa entfernt. Das Bad  hatte vor vielen Jahren ein Leprakranker entdeckt, so hieß es. Und  die Leute erzählen andauernd Gerüchte über dieses Bad; gestern sei ein reicher Gentiluomo aus Cremona hier gesehen worden, der wollte seine  Zwergwüchsigkeit heilen; auch von einer Himmelserscheinung redeten die Leute,  man habe eine Marienerscheinung in einer Grotte beobachten können.
Montaigne begutachtete das Bad. Die Quelle war nur von einem Dach bedeckt, ringsum Steinsitze, als wäre das Wasser, das da in einer Eisenrinne floß, heilig. "Sieh, die Rinne ist von unten schon stark verrostet", sagte Montaigne: "Die Kraft des Wassers ist enorm." Als wäre es ein Selbstgespräch, Montaigne beachtete Gambarini kaum;  dies Wasser, von dem er zu trinken begann, ein großes Wasserglas an den Lippen, war dem Körper näher, war also wirklicher für den Körperfanatiker als der Mann, der neben ihm stand. "Dieses Wasser ist etwas wärmer als das in Villa", sagte er. "Riecht´s nicht stärker nach Schwefel? Sieh, die Stelle, wo es in die Rinne fällt", und er tastete mit dem Zeigefinger die glitschige Stelle ab: "weiß, wie Asche."
Im Tal rauschte die Lima.
Montaigne  trank, goutierte, als wär´s der  köstlichste Wein. Denn er fühlte sich heute morgen nicht wohl. Er ging hinter die nächste Steineiche und pisste auf die rissige Rinde, ein Zug Ameisen ertrank im zischenden Strahl. Wenn die schreien könnten. Jetzt bin ich für sie der Herrgott. Die Farbe ist normal, gestern fast schwarz der Urin, dachte er, verzog schmerzhaft das fleischig runde Gesicht, winzige Steinbildungen traten aus. Das abgelassene Wasser war rot.
Ich hätte gern den Zwerg gesehen, dachte er: der aber kommt ausgerechnet heute nicht. Wir sind allein.
"Ob der Zwerg gestreckt werden kann", sagte er in die Stille und erschrak.
"Einige unerklärliche Heilungen sind nachgewiesen."
"Und die Erscheinungen?"
"Du meinst die der Maria von gestern?" (Er hat es also auch erfahren!) "Es ist der Mensch, der glaubt und betet", hörte er den andern sagen: "Es gibt eine Erregung der Sinne, und die Seele der Leute kann von einer religiösen Leidenschaft zum Glühen gebracht werden, die dann solche Wirkungen auslöst. Ich für meinen Teil, trachte auch nach nichts anderem, als etwas  hoffen und  wünschen zu können; es ist erbarmungswürdig, zum Wünschen zu matt und zu müde zu sein."
Er atmete schwer. Hatte zuletzt lauter und heftiger gesprochen, als müsse er etwas abwehren. Blieb stehn und schwieg. Sein kleiner Schatten zwischen den Bäumen, der stand nun im Staub der Straße. Ein Reiter kam im Galopp vorbei. Sie wichen ihm aus. Montaigne  hatte eine laute und eindringliche Stimme. Er wandte sich ab, sah in den Fluß. Es war ihm aufgefallen, daß ihn das Sprechen anstrengte und ebenso schadete wie irgendeine Ausschweifung. Aber er wollte sich nicht mäßigen. Die Lautstärke und der Tonfall der Stimme, dachte er, enthalten ja bereits etwas von Sinn und Bedeutung meiner Meinung. Est quaedam vox ad auditum accomodatat...
 Es ist viel versteckter Gram und eine große Beherrschung in dem starken Mann: "Und die Organe, die früher am tätigsten und die kräftigsten waren", sagt er, "die werden vertrocknen. Natur spritzte früher in die Zeit, so daß die Kinder eins nach dem andern kamen, in der Vollkraft meiner Jahre nahmen sie den ersten Platz ein, diese Organe werden nun am elendesten sein, sie entziehen uns Saft und Kraft und Lust am Leben: wer keiner Frau mehr nachschaut, der ist schon tot."
Sie gingen in Richtung Kapelle. Da sagte Montaigne: Niemals habe er einen Bauern aus seiner Nachbarschaft darüber nachdenken sehen, in welcher Haltung er die letzten Stunden seines Lebens bestehen würde; "er findet sich besser mit dem Tode ab, als der gelehrte Aristoteles. Wir quälen uns immer nur selbst, wenn wir der Natur vorgreifen. Nur gelehrte Pedanten lassen sich, auch wenn sie vollständig gesund sind, durch den Tod den Appetit verderben. Und was uns die Wissenschaften als höchsten Gewinn versprechen,  hat die Natur für sich, sie führt uns, ihre Schüler,  ganz ohne Zwang."
Er hat keine gute Meinung von den Frauen, keine von der großen Liebe. Montaigne hat nie eine große Liebe gehabt, dazu ist er zu nüchtern. Er läßt sich nie aus der Ruhe bringen in seiner  Selbstgerechtigkeit, der edle Egoist.
Man merkte es Montaigne an, daß ihm jetzt das Sprechen schwerfiel, er hatte Schmerzen; und es war ihm doch wichtig, den Schmerz in den Griff zu bekommen, indem er es sagte: "Ich bin im Kampf mit dieser Krankheit, aber dennoch ist es möglich, sich aufrecht zu halten, wenn man sich von der Todesfurcht befreit."
Er nahm Grausamkeiten hin, der berühmte Mann. Und war rücksichtslos offen. Und er schonte auch sich selbst nicht, wie der ein wenig schwerfällig, von Schmerzen Geplagte, von Zeit zu Zeit die Hand an die Seite legte, stehenblieb,  über sich selbst sprach, als spreche er über ein Experiment: er zum Beispiel, er selbst sei schamhaft-frech, sagte er, keusch-sinnlich, schwatzhaft-schweigsam, geistvoll-stumpf, und jetzt eben sehr müde. "Das alles bin ich und seh ich in mir, je nachdem wie ich mich drehe. Und eben sind´s die Nieren und die Blase vor allem. Man sieht´s ja an den Ärzten, was  für eine Scheinwissenschaft  die Wissenschaft der Doctoren ist. Da lese ich gerade ein Buch von Donati über dies Wasser von Villa "De aquis lucensibus, quae vulgo Vilenses appellantur", eben in Lucca erschienen, der schlägt vor, di pranzar poco e cenar molto, also wenig zu Mittag und  viel zu Abend zu essen, sein College Franciotti aber sagt in seinem "Tractatus" genau das Gegenteil. Die medizinische Kunst, ja, ist keine, die wissen nichts und widersprechen sich dauernd. Denn es  hilft da kein Buch, nur Erfahrung und Beobachtung; Nicolao, Sie irren, wenn Sie unbedingt ein festes und starkes Gefüge in uns Menschen sehen wollen."
Da er sich an Donati gehalten, "mi provoco il vomito anche in seguito." Und er habe große Bauchschmerzen gehabt, und damit dann stundenlang den Klorand gedrückt, oft scheißen müssen. Und drückte sich meist so offen und drastisch aus; wie sein Kollege Rabelais. Montaigne hatte auch jetzt große Schmerzen, eine einsetzende Kolik, der Blasengrieß. Daß nun das Steinleiden ein Glied befällt, mit dem wir am meisten gesündigt haben, scheint folgerichtig, dachte der Colonello: die Mitte, wo der Schmerz im Harnkanal brennt.
Sie waren inzwischen in Richtung Villa die Serpentinen hochgestiegen. Wie zärtlich dies Grün der Landschaft ist! Auch die eigene Natur bändigt man nur, wie ihre Schmerzen mit Sanftmut. Montaigne krümmte sich am Straßenrand. Schweißtropfen auf der hohen Stirn, unter den Krämpfen zuckte der ganze Körper wie bei der Fallsucht; unter den dünnen, wie mit Tusche gezogenen Brauen die halbgeschlossenen Lider, darunter quollen dicke Tränen hervor; er  übergab sich mehrmals. Grüne Galle und Erbrochenes lag im Staub der Straße wie eingepökelt. Andere fluchen wie Kutscher. Das verstärkt das innere Zerren. Wir müssen die Gesetze unseres Daseins sanftmütig ertragen,  dachte der Geplagte. Aber du stirbst ja nicht, weil du krank bist, du stirbst, weil du lebst. Wenigstens einmal im Monat berührt dich der Tod mit eiskalter Hand. Redete sich gut zu. Diese Anfälle passen zu meinem raschen und sprunghaften Temperament. Und jetzt ist´s ja wieder gut, ich nehme an, daß mich das heftige Erbrechen bei den Anfällen reinigt. Und daß die Natur in diesen Steinen alles Überflüssige und Schlechte sammelt. Der Anfall ist wie eine Medicin. Und stört nur dann, wenn es mir an Mut fehlt. Bei einem besonders schweren Anfall habe ich einmal zehn Stunden im Sattel ausgehalten. Man muß einfach die Schmerzen fortdenkend ertragen; eine andere Verhaltensregel gibt es nicht. Spielt, eßt, lauft, redet euch heiser, schlaft mit einer Frau, würde ich sagen, wenn ihr es könnt. Lacht auf. Und der Schmerz  hält eher wach.
Er schritt  schnell aus, seine kleine Gestalt lief durch den Staub. Er wollte den Colonello erreichen, da dessen übertrieben großes Barett mit dem Federbusch schon  gegen den Horizont wie ein Scherenschnitt zu erkennen war.
Sie waren inzwischen oben angekommen.
"Na, mein Freund, Ihr seht ja von weitem wie ein schwarzer Paradiesvogel aus", sagte Montaigne laut lachend.
Die Patienten mit Steinleiden hatten wie unter der Folter geschrien. Aber Montaigne hatte sich   vollkommen in der Hand. Und witzelte weiter. Er machte eine Pause, stützte sich auf einen Fels, indem er die beiden Hände nach hinten, die Handrücken ans Kreuz, die Handflächen an den Berg legte, als könne er so den Stein von seinem Körper fernhalten: "Die Attacken befallen mich so oft, daß ich gar nicht mehr weiß, was Gesundheit ist. Aber kein Schmerz kann so bitter und durchdringend sein, daß ein beherrschter Mensch darüber in Raserei und Verzweiflung geraten müßte."
Wenn man leben könnte, dachte der Colonello, so wie der Ruhige da, der die Dinge an sich herankommen ließ; der auch ohne alle Umstände  bekannte, daß er gerne auf alle tastenden Versuche verzichten würde, klare Entscheidungen zu fällen, denn seine Seele könne keinen festen Standort haben, und so bleibe er stets im Stadium des Lernens und Probens. Und jetzt sei er in großer Verlegenheit, sagte er: auf dem Wege über Rom habe er Briefe von einem gewissen Herrn M. Tausin erhalten, "die am 2. August in Bordeaux geschrieben worden sind". Seine Stimme klang, als habe er eine Todesnachricht erhalten: "Man teilt mir mit", sagte er, "daß ich  einstimmig zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt worden bin, und man fordert mich auf, dieses Amt aus Vaterlandsliebe anzunehmen. Das Schlimme aber ist, daß mir auch der König ein Schreiben hat zukommen lassen, und mich dringend bittet, nicht Nein zu sagen." Aber ich werde „Nein“ sagen.
Montaigne starb zwei Jahre später, im Jahre 1583.
                            Pisa. Turm und Tod
„Pisa orientierte sich bereits seit der Antike am Meer. Damals lag die Stadt noch an einem großen Lagunensee, der sich bis nach Livorno erstreckte. Kaiser Augustus ließ einen Flottenstützpunkt im Süden der Lagune errichten, den pontus pesanus. Die Stadt selbst gründete sich aus einer römischen Militärkolonie. Sie lag im Mündungsgebiet der beiden Ströme Arno und Serchio.
Pisa (lateinisch:Pisae) ist etruskisch für Mund. Die freie Entfaltung Pisas war durch den Zerfall des römischen Reiches begünstigt. Die übrigen tyrrhenischen Küstenstädte waren durch die Sarazeneneinfälle und Sumpffieber in ihrer Entwicklung immer wieder zurück geworfen. Pisa hingegen hatte die nötige Zeit um eine Flotte aufzubauen, um so Schiffe für die Kreuzzüge bereitzustellen. So vertrieben sie die Muselmanen aus Palermo im Jahre 1063. Ferner nahmen sie Sardinien und Reggio di Calabria im Jahre 1015, Karthago, Bona und die lysarischen Inseln in den Jahren 1030 bis 1035 in ihren Besitz. Letztlich konnten sie sich Handelsstützpunkte an der syrischen und kleinasiatischen Küste sichern. Aus dieser neu gewonnenen Machtposition heraus konnte Pisa zu einer internationalen und autonomen Stadt werden.
Zu dieser Zeit zählte Pisa zu den vier stärksten Seemächten der Apenninen-Halbinsel, neben Amalfi, Genua und Venedig.
In den folgenden Machtkämpfen zwischen Kaiser und Papst und dem zufolge auch zwischen Ghibellinen und Guelfen mußte Pisa eine klare Position einnehmen. Die Stadt stellte sich auf die Seite des Kaisers und der Ghibellinen. Zum stärksten Rivalen für Pisa wurde die Guelfen-Stadt Genua, die zu einer aufstrebenden See- macht wurde. Durch den Untergang der Staufer verschlechterte sich die Lage für die Ghibellinen-Städte.
Aufgrund dieser Ereignisse konnte Pisa seine Machtstellung als Seerepublik nicht behaupten.“ (Wikipedia)
Immer wenn wir mit unserem Segelboot am Meloria-Turm bei Livorno vorbeisegeln, das Wasser ist hier nur zwischen 3-6 m tief, man sieht die Felsen, muss ich an den Untergang Pisas denken.
Diese alte Seemacht unterlag in der Seeschlacht am Felsriff Meloria gegen Genua am 6.August 1284. So lang her also ihr Ende. Diese vernichtende Niederlage der pisanischen Seeflotte, bei der über 20.000 Pisaner ums Leben kamen, dies war der Ausgangspunkt für den Machtverlust Pisas. Von dieser Niederlage konnte sich die Stadt nie wieder ganz erholen und verlor ihre Seemachtstellung für immer.
Hier der Schiefe Turm, aber auch Dom und Baptisterium sind in jener grossen Zeit erbaut worden.
Die Piazza dei Cavalieri (zu deutsch Platz der Ritter) ist berühmt für ihre repräsentativen Bauten. Sie liegt in der Altstadt Pisas und bezeichnete früher den weltlichen Hauptplatz der Stadt Pisa. Die einflussreiche Familie Medici demonstrierte auf diesem Platz ihre Macht, doch das ist nicht die einzige Bedeutung des Platzes für die Geschichte dieser Stadt. Pisa verlor die Eigenständigkeit 1406 auf jenem Platz mit der Übergabe der Schlüssel der Stadt an Vertreter der größten Konkurrentin Florenz.
Der Palazzo dei Cavalieri wurde um 1560 von dem Architekten Giorgio Vasari erbaut, der den Auftrag von der florentinischen Familie Medici bekam. Die Piazza sollte neu und besser gestaltet werden. Der Palast erhielt eine kurvige, von Wappen geschmückte Fassade und eine von Statuen geschmückte Treppe. Der ehemalige Ältestenpalast, auch Palazzo della Carovana genannt, beherbergt heute eine Eliteuniversität, die eine Nachfahrin der von Napoleon gegründeten Scuola Normale Superiore ist.
Die, ebenfalls von Giorgio Vasari um 1567 erbaute, Kirche Santo Stefano dei Cavalieri ist für ihr imposantes Inneres bekannt. Arabische Schätze, ein Barockaltar und eine antike bemalte Holzdecke veredeln diese Kirche und erinnern an das große Ansehen der Piazza dei Cavalieri. Der tüchtige Architekt Vasari errichtete ebenfalls den bekannten Uhrenpalast Palazzo dell'Orologio. Er bezeichnete den Übergang von der Torre delle Sette Vie, einem Stadtgefängnis und der Torre della Fame, dem Hungerturm, der seinen Namen dem elend verhungerten Stadthauptmann Graf Ugolino della Gherardesca verdankt. Er wurde 1288 des Verrats angeklagt und mit seinen Kindern in diesen Turm gesperrt. Hinweise auf diesen Grafen finden sich in Dantes ,,Inferno". Letztendlich ist die Piazza dei Cavalieri einer der schönsten europäischen Plätze aus der Renaissance.
In der Stephanskirche beindruckt die Steinigung. Dieses Grauen. Und gleich vis a vs der Hungerturm. Ugolino della Gherardesca, ca. 1220 in Pisa; † März 1289 ebd.), also auf dem Höhepunkt von Pisas Seemacht. Ugolino war toskanischer Adliger sardischer Herkunft, Flottenbefehlshaber und als Oberhaupt der mächtigen Familie della Gherardesca einer der führenden Politiker der Stadtrepublik Pisa. Sein politischen Konkurrenten, des Erzbischofs Ruggieri,  brachte ihn ins Gefängnis, er wurde er schließlich zusammen mit zwei Söhnen und zwei Enkeln eingekerkert und dem Hungertod überlassen. In Dantes „Göttlicher Komödie“:
Doch obwohl Pisa eigentlich immer kaiserlich also ghibellinisch war, verbündete er sich mit den Guelfen. Schwankte hin und her. IN der entscheidenden Schlacht Meloria trug er zur Niederlage Pisas gegen Genua bei, indem er seine Schiffe zurückhielt. Dann weigerte er sich als Podesta Frieden mit Genua zu schliessen, da er Angst vor den heimkehrenden Ghibellinen hatte. begann er mit den von den Guelfen beherrschten Städten gegen das ghibellinische Pisa zu konspirieren. Schließlich griff er mit der Unterstützung Karls I. von Anjou seine Heimatstadt an und zwang sie zu einem erniedrigenden Friedensschluss, der seine Rehabilitierung und die der anderen exilierten Guelfen einschloss.
Als Verräter wurde er gerichtet. Auch Dante stuft ihn unter die Verräter ein
Ugolino wurde gefangengenommen und zusammen mit seinen Söhnen Gaddo und Uguccione und seinen Enkeln Nino (genannt il Brigata) und Anselmuccio in die „Muda“ geworfen, einen Turm, der der Familie Gualdini gehörte. Auf Anordnung des Erzbischofs, der sich in der Zwischenzeit selbst zum Podestà ausgerufen hatte, wurden die Schlüssel zum Gefängnis im März 1289 in den Arno geworfen und die Gefangenen dem Hungertod überlassen.
Ihre Leichen wurden im Kreuzgang der Kirche San Francesco begraben. Im Jahre 1902 wurden die Überreste exhumiert und in die Grabkapelle der Familie della Gherardesca überführt.
Obwohl schon Giovanni Villani und andere Schriftsteller die Geschichte Ugolinos erwähnen, beruht ihre Bekanntheit gänzlich auf Dantes Göttlicher Komödie, in der Ugolino und Ruggieri in das Eis des zweiten Rings (Antenora) des neunten und tiefsten Höllenkreises verbannt sind (Canto XXXII, 124-140 und XXXIII, 1-90).
Ugolino erscheint im Inferno als verdammte Seele, aber auch als rächender Dämon: Aus dem Eis des neunten Höllenkreises ragt nur sein Kopf heraus, der aus Rache ewig an dem Schädel des Erzbischofs Ruggieri nagt.
In Dantes ‘‘Göttlicher Komödie‘‘ wird die Szene wie folgt geschildert: (Karl Streckfuss)
„Du höre jetzt: Ich war Graf Ugolin, / Erzbischof Roger er, den ich zerbissen. / Nun horch, warum ich solch ein Nachbar bin. / Dass er die Freiheit tückisch mir entrissen, / Als er durch Arglist mein Vertrau’n betört, / Und mich getötet hat, das wirst du wissen. / [...] / Ein enges Loch in des Verlieses Mauer, / Durch mich benannt vom Hunger, wo gewiss / Man manchen noch verschließt zu bittrer Trauer, / [...] / Als ich erwacht’ im ersten Morgenrot, / Da jammerten, halb schlafend noch, die Meinen, / Die bei mir waren, und verlangten Brot. / [...] / Schon wachten sie, die Stunde naht’ heran, / Wo man uns sonst die Speise bracht’, und jeden / Weht’ ob des Traumes Unglücksahndung an. / Verriegeln hört’ ich unter mir den öden, / Grau’nvollen Turm – und ins Gesicht sah ich / Den Kindern allen, ohn’ ein Wort zu reden. / Ich weinte nicht. So starrt’ ich innerlich, / Sie weinten, und mein Anselmuccio fragte: / Du blickst so, – Vater! Ach, was hast du? Sprich! / Doch weint’ ich nicht, und diesen Tag lang sagte / Ich nichts und nichts die Nacht, bis abermal / Des Morgens Licht der Welt im Osten tagte. / Als in mein jammervoll Verlies sein Strahl / Ein wenig fiel, da schien es mir, ich fände / Auf vier Gesichtern mein’s und meine Qual. / Ich biss vor Jammer mich in beide Hände, / Und jene, wähnend, dass ich es aus Gier / Nach Speise tat’, erhoben sich behende / Und schrien: Iss uns, und minder leiden wir! / Wie wir von dir die arme Hüll’ erhalten, / Oh, so entkleid’ uns, Vater, auch von ihr. / Da sucht’ ich ihrethalb mich still zu halten; / Stumm blieben wir den Tag, den andern noch. / Und du, o Erde, konntest dich nicht spalten? / Als wir den vierten Tag erreicht, da kroch / Mein Gaddo zu mir hin mit leisem Flehen: / Was hilfst du nicht? Mein Vater, hilf mir doch! / Dort starb er – und so hab’ ich sie gesehen, / Wie du mich siehst, am fünften, sechsten Tag, / Jetzt den, jetzt den hinsinken und vergehen. / Schon blind, tappt’ ich dahin, wo jeder lag, / Rief sie drei Tage, seit ihr Blick gebrochen, / Bis Hunger tat, was Kummer nicht vermag.“ (Inf. XXXIII, 13-18; 37-39;43-75)[1]
31.Juli 92. Ich stehe in Pisa auf der Piazza dei Cavalieri vor der Scuola Normale, im Rücken der Hungerturm des Grafen Ugolino, Hungertod, damals fast "privat"; kein Grauen mehr, wir sind "abgehärtet", die alte Bestialität, an die die Militärkirche Santo Stefano mit Galeeren (hier nun schon als "Kultur"  erinnert), ist wie ein grausames Märchen; in Bosnien  werden Kinder lebend ins Feuer der  wiedererstandenen Öfen  geworfen.
Mittagessen im Restaurant "La Grotta" mit Mario Pezzella, Hochschullehrer  an der Scuola Normale. Unser Gespräch dreht sich um die neuen Terroranschläge. Die Mafia und - die Schulkinder sind aktiv. Einem Afrikaner wurde unter einer römischen Brücke von Halbwüchsigen die Haut abgezogen. Pezzella erzählt, dass bei seinen Studenten die  Ausdrucksfähigkeit, ja die Worte für Dinge fehlen, die sie fühlen. Wortmarken werden hin- und her geschoben. In Deutschland heißt das: Super. Total gut. Oder: Scheiße. Spracharmut aus Mangel an Gemeinschaftsformen des Zusammenlebens. Es ist nirgends so schlimm, wie in den Familien, wo oft die einzige Verbindung zwischen den Eltern und Jugendlichen das Spickbrett in der Küche ist. Was außen geschieht, wird gekonnt formuliert, aber für "Zustände", Erregungen, persönliche Wahrnehmungen gibt es keine Sprache mehr.Rasch auftauchende und wieder verschwindende Reflexe,Gefühle, Weltfetzen, die sich nicht binden. Daher kann heute auch niemand mehr erzählen, wie noch unsere Eltern und Großeltern.
Wir sprechen darüber, dass heute nichts mehr "wirklich" ist, alles nur Vorführung, Theater, die Welt ein Gespensterwerk.  So dringen Film, Elektronenmikroskop, Teilchenbeschleuniger, Formeln der Quantenphysik viel exakter in Bereiche ein, wo früher nur die topoi der SCHRIFT, die Änigmen des verhüllten Offenbarens von göttlich Abgründigem berührten, damit auch Fülle. Heute stellt die arme Künstlichkeit  auch die Alltagswelt her: Verkehr, im Wohnzimmer elektronische Haustiere,  im Büro der Computer, dann der Fernsehabend. Im Körper neue Genvorgänge, in der Liebe Aids. "Draußen" AKW, Raketenkriege, Satelliten.  Aber in der Familie, in der Politik, im sozialen Leben, in der Wirtschaft, und im  Wissenschaftsbetrieb wird immer noch so gehandelt und geredet, als lebten wir noch in der Körperwelt des vorigen Jahrhunderts.
Der schiefe Turm
"Dieser Turm ist die Seele der Stadt", sagt der Historiker Rodolfo Bernardini. Einst habe er für die Seemacht Pisa einen imperialen Traum verkörpert.
Doch die Neigung wurde so gefährlich, dass der Turm  in den neunziger Jahren gesperrt werden musste.
Mit Metallringen um den Turm, tonnenschweren Gegengewichten aus Blei und schließlich Bodenabsenkungen an der Nordseite erzielten die Experten erste Erfolge, die gefährliche Neigung zu begradigen. Das Monument richtete sich zunächst um 4,1 Zentimeter auf. Jetzt soll über 41 Bohrkanäle an der Nordseite weiteres Erdreich abgetragen werden.
Allerdings neigt sich der berühmteste Turm Italiens, seit es ihn gibt. Schon 1174, ein Jahr nach Baubeginn, sackte er unter dem Gewicht des ersten Stockwerks ab. Um die Schräglage zu korrigieren, bauten die Architekten den Turm damals senkrecht weiter. Er ist daher in sich krumm.
Heute also in Pisa, als ich da am Palazzo Lanfranchi vorbeiging, musste ich wieder an Shelley denken. Und daran, dass seine Segelfahrt von Lerici nach Livorno, von dort nach Pisa, seine letzte gewesen war. Ich wusste, es war auch der letzte Brief an Mary, seine Frau. In diesem Brief schrieb Shelley von Pisa aus an Mary, er könne sich nicht freimachen, Williams käme allein mit dem Boot nach Lerici zurück. Doch am 7. Juli machte er sich dann doch frei. Und das war fatal. Wo saß er als er dieses schrieb, in der Villa? Im Palazzo Lanfranchi? Und wenn wir jetzt  zum Campo Santo gehe, ist es so, als sähe ich am besten mit seinen Augen. Denn nichts, Nichts hat sich verändert seither hier auf der Pizza dei Miracoli, auch nicht der Schiefe Turm, es sei denn, dass die Architekten es tatsächlich geschafft hatten, mit einer Unterschürfung an der Nordseite, die 4,5 Meter der Schieflage um 44cm zu verringern. Ging also Shelley an jenem 7. Juli 1821, wie er schrieb, zum Campo Santo am Dom, sah wie wir jetzt die Sarkophage, etruskische und römische an, und vor allem jene Urne, die der griechischen seines toten Freundes Keats ähnelte. Und wie jetzt war da ja auch Pan zu sehn, der lüsterne Erdgott der Mittagsstunde, wenn alles sirrte und flimmerte, heiße Luft, wie eine Grenze des Lichts, das sich in Wohlgefallen aufzulösen schien ... Einsame Gedanken, die sich dem Begriff auch heute entziehen, Grenzen des Himmels; nackt bleibt dabei und öde das Hirn. Hier war das Meer einmal Eins mit der Urne, die Form, Firmament, das sich in den Wellen spiegelte, dies ist das Element, das er mag, das dazwischen liegt. Er, ein unbekanntes Wesen, das hier erkennbar wird in der langsamsten Zeit, zögert dort am Dom in der Mittagsglut, dass es fast stehen bleibt, als wüsste er schon, ahnte er seinen nahen Tod im Meer. .
Von hier schrieb er also an Mary einen Brief, den er aber nie  abgeschickt hat; denn er schrieb ihn an Niemanden; und er wußte schon, dass noch nichts ist, bevor wir es nicht schreibend wirklich gesehen haben, denn Vorgänge werden erst zur Geschichte und erkennbar im sekundären Akt der Wahrnehmung. Und die Augenblicke lassen sich in den Ablauf der Gedanken nicht einbringen, entweder du lebst oder du schreibst. Eines aber, so sagte er oft, ist möglich: das Boot, als wäre es das Gefäß der individuellen Gedanken, in der Steuermannskunst aber bist du eins mit den Elementen, See und Wind, die Bewegung des Steuers steht im Zusammenhang mit den elementaren Bewegungen des Gefühls. Es sei die alte Steuermannskunst, von der schon Platon gesprochen hatte, höchste Form der Selbstbewegung. (Ich sehe einen Wagen gleich dem Boot/ Das sichelschmal des Mondes Vater trägt.) Waren sie deshalb erst   nachmittags aus Livorno abgesegelt, um nachts anzukommen. Die Pausen sind dann äolisch gefüllt mit Zwischentönen. Und so war es auch am 8. Juli: Berge und Wälder waren am Ufer zu sehen, durch jenen luftigen Schleier erschienen sie wie im Spiegel eines Zauberers. Wolken sind seine Räder, blau und golden, wie jene, die die Geister des Gewitters auf des erleuchteten Meeres Fläche türmten: Such as the genii of the thunderstorm, schrieb er: Wenn Sonne in sie fährt; sie rollen und bewegen sich, als wäre ein Wind in ihnen; darin sitzt ein geflügeltes Kind, das Antlitz wie die Weiße allerhellsten Schnees, die Federn wie sonnige Frost-Kristalle. Es ist wie das Unbetretene, die Reinheit, die sonst nur besudelt wird, herabgezogen in den Dreck von dem Mob und den Reichen. Im Gewitter aber geschieht die Transformation, der Grund wird erkennbar. Der Vorschein wird durchstoßen, und durch den Körper fließen Licht  und Musik - wie durch leeren Raum:    Zehntausend Kreise wie Atome ineinander in sich selbst verschlungen, Sphäre in Sphäre; jeden ZWISCHENRAUM bevölkern unvorstellbare Gestalten, durchsichtig füreinander, wie sie Geister in dunklen Tiefen träumen; und sie wirbeln auf tausend unsichtbaren Achsen kreisend in tausenderlei Bewegung durcheinander; mit Gewalt mörderischer Schnelligkeit gemessen, langsam kraftvoll, drehen sie sich entzündend mit vielfach gemischten Tönen, wilde Musik und verständliche Worte ...   im Innern der Kreise ist einer, der sprüht, der spricht im Traum des rasenden innern Lichts von einer fernen Liebe, die erscheint, wenn alles, was nur Vorschein war, uns täuscht, gelöscht ist und verschwunden im Weiß der Schnelligkeit, du absinkst erst im Hirn bewusstlos, dann im Schlaf der Erde eine Lücke findest, um hinüber zu der Wirklichkeit des Potentiellen zu kommen, in einen Raum, wo du das bist, was kurz im Blitzen deines Gedankens glückt als "fading coal"; der Körper    aber trennt, grenzt nie an die Berührung der Imagination. Man spürt sie in dem weißen Kind des Sturmes, der Bogen seiner Bahn ist die Stirn, dort blitzen blaue Feuer, die den Abgrund füllen. Und dann der Gott, der rief: Seid nicht! Und sie so nicht mehr waren, wie meine Worte.
Was wusste er von Galileo Galilei und seinen Fallgesetzen, Galilei, der ja diesen Gedanken so nah war. Und von dem die Legende überliefert ist, er habe diese Gesetze auch vom Turm aus überprüft, nämlich, dass alle Gegenstände, egal ob Stein oder Feder alle gleich schnell fallen, der Fall also keineswegs mit dem äußeren Gewicht, mit dem An- und Augenschein zu tun hat. Er selbst beschreibt sein Experiment mit einem zur schiefen Ebene geneigten Brett, einer Rinne, in der eine Metallkugel abwärts rollte, da es noch keine genauen Uhren gab, maß er die Zeit der Beschleunigung mit seinem Puls oder mit einer Wasseruhr.  Wichtig war, dass er vom Augenschein und vom praktischen Experiment abstrahieren konnte, er sich VORSTELLTE, dass ohne jeden Widerstand, also im Vakuum ein Körper in Bewegung nicht mehr aufzuhalten war. (Und ich hör die Stimme meines Physiklehrers Roth, der „Physi“ hieß, schnarrend: Ein Körper, der in Bewegung ist, der will in Bewegung bleiben. Ein Körper der in Ruhe ist, der will in Ruhe bleiben.“ Das Trägheitsgesetz. Das aber ist unmöglich in unserem irdischen Erfahrungsraum. Für ihn konnte Galilei die irdischen Abweichungen berechnen, Analyse der Kräfte der Reibung, des Auftriebs, etc.. mathematisch berechnen. Dazu diente ihm, wie Kepler, sein Zeitgenosse, ein wunderbares geistiges Argument, dass es zwei Bücher Gottes gebe, die Bibel, das Buch der Erlösung, und das Buch der Natur, das in der Sprache der Mathematik und Geometrie geschrieben sei. Das Experiment diente ihm nur zum Erzeugen von Phänomenen, die man normalerweise nicht sieht. Kepler hat das in seiner „Welt-Harmonik“ noch schärfer und schöner durchdacht. Gott habe die Welt geschaffen gemäß seinen Schöpfungsgedanken, Zahl und Figur für uns, Proportionen also. (Die übrigens in der hebräischen Bibel ebenfalls eine große Rolle spielen, denn jeder Buchstabe ist gleichzeitig auch Zahl. Und eine Art qualitative Mathematik. Die ungeheuer und enorm sinnreich ist im Hebräischen. In der Übersetzung geht das alles verloren! So etwa im Wort „Gott“ Jahweh.  Ohne Vokale geschrieen JHWH=  J(10)H(5) W(6) H(5), das potenzierte Eine (10) wird durch die Trennung zwei mal 5 (W bedeutet „und“  oder Mensch)  Erbsünde: durch Mann und Weib gespalten.
Und nach Kepler vollzieht der Mensch als Ebenbild Gottes durch Mathematik die Schöpfung, also die Gedanken Gottes nach, die in ihm wirken!. Das ist freilich von Platons  „Mimesis“ abgeleitet: des alten Begriffes "Mimesis", was keineswegs Realitätsspiegelung heißt, sondern Sichineinssetzen mit der "Ebenbildlichkeit", die "Apriorität des Individuellen"  zu entdecken (Omoisis to theo,  bei Platon: Angleichung an das Göttliche im Menschen. Dazu gehört, den Schein, das sogenannte "Wirkliche", die Hülle zu zerbrechen, zu entlarven; in der Moderne mit sprachlichen Mitteln; meta-phérein -Metapher-  heißt ja hinüber-tragen, anderswohin tragen.)  Und da wären wir wieder bei Shelley. Doch auch zum Geheimnisvollsten, nämlich der Schwerkarft, aber auch der geistigen Schwerkraft des Herzens, die Zeit und Raum und auch jede nur angelernte vernünftelnde Logik aufhebt. Wir spüten diese Umkehrungn sogar körperlich wenn wir im Turm selbst sind, beim hinauf gehen meinen hinab zu gehen du umgekehrt, alles wird ach im Gleichgewichtssinn schon auf den Kopf gestellt, jenen andern Kopf der Schöpfungsgedanken nämlich.
IN PISA  maß Galilei die Unzeit
ich seh hinauf Blau jener Fall
die Wolken ziehen weiter
der Turm fällt um.
Von unten gehst du hoch
warum/ du meinst hinab
zu gehen im Kopf
die Sprachen fallen
aus.
Kein Stil in einem Zentrum mehr
die Galerien gestaut
die Zeit/ im Bild siehst du dich klein
als wärst du nicht mehr drin
wie auch/ sowohl im Vers gefügt
als läs ich ihn verkehrt
im Gras dort auf der Wiese
Angst, so kehr ihn um
im Kopf schaff ich ein wenig Platz
da steht der Turm und trägt das Blau
den Himmel schon
im Substantiv davon.
Aber wir sprachen natürlich auch über Newton, der  ja in seiner Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1686) das Gesetz der Schwerkraft ableitet. Er vereinte damit die Forschungen Galileo Galileis zur Beschleunigung und Johannes Keplers zu den Planetenbewegungen (Keplerschen Gesetze) zu einer einheitlichen Theorie der Gravitation und legte die Grundsteine der klassischen Mechanik, indem er die drei Grundgesetze der Bewegung formulierte
Dabei ist besonders wichtig di Gravitations-Naturkonstante G.
Doch auch hier gibt es eine Legende: Im Jahre 1666 Sir Isaac Newton unter einem Apfelbaum geschlafen haben Er hatte zuvor darüber nachgedacht, was den Mond wohl in seiner Bahn hält. Plötzlich fiel ihm ein Apfel auf den Kopf, und da begriff er: Die gleiche Kraft, die den Apfel zur Erde fallen lässt, hält auch den Mond in seiner Bahn. Das ist die sogenannte Erdanziehungskraft. ER hatte schon 1666 seine Formeln aufgeschrieben.
Und ich las dann Gedicht, erzählt ihr auch, dass sich seine Formeln  zuerst als falsch erwiesen, erst 10 Jahre später, als neue Fernrohre eine genauere Bestimmung der Distanz Erde Mond möglich machten, waren sie genau richtig.  Sein Intuition, apriorisch und außerhalb der Erfahrung. Jenes ebenbildliche Schöpfungswissen, von dem Kepler und Platon und Kepler gesprochen hatten, gaben ihm die richtige Formel ein. Heidegger hat dieses in seinem Kantbuch „Di Frage nach dem Ding“ zitiert, um seine apriorische Erkenntnistheorie zu unterbauen.
Wenn man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Novalis
WO ICH HINABSCHAU - mein Gewicht
einst wars der Apfel/ fiel
in das Gesetz; und ohne Namen kommst du
nicht davon/ am Campo Santo hockt das Eine
mit Falken und mit Tauben: du bist im Bild
der Flügel in der Farbe rauscht
der Engel blättert ab als wäre alles aus-
gestanden/ Augäpfel lesen  weiß verkehrt
die Seite ist schon umgeschlagen.
MANCHMAL noch um-
gelegt der alte Turm
Kopfgewächse aus Silben
und Worten kehren
eine Welt um
mit List.
Ja, es war Zeit zum Campo Santo zu gehen, der ja gleich nebenan lag, dieses lang gestreckte Gebäude. „Campo Santo Monumentale“, und es beeindruckt freilich auch heute noch, dass der Überlieferung nach, alle lesen das heute: 1203 Der Erzbischof Ubaldo de´Lanfranchi von der Kreuzfahrt damals in der Hohen Zeit der Seemacht Pisa  Erde in Säcken aus dem Garten Gethsemane im Heiligen Land mitgebracht habe. Und der Campo Santo, der freilich erst  siebzig Jahre später,1278 von Giovanni di Simone gebaut wurde.  erst 1358 wurde er fertig gestellt, soll diese Erde enthalten.
Wir sehen da vor uns einen lang gestreckten Kreuzgang mit Rundbogenarkaden, er umschließt rechteckig einen grünen Innenhof. Rasen, Zypressen, also Leben symbolisierend, ein starker Kontrast zur Todesatmosphäre auch der Fresken, vor allem zum „Triumph des Todes“, vor dem wir dann lange stehen… Es war ja ein ganz normaler Friedhof in jener alten Seemacht-Zeit, und spätantike Sarkophage umgeben uns, sie standen zuerst draußen vor dem Dom auf der Piazza die Miracoli.
Auffällt, dass wie Wüstenkarten sonderbar nackt geformt unterbrechen die Fresken aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Auch diese Wüsten sind ein Kriegsverbrechen. Alierte Bomber warfen ihre tödliche Last am 27. Juli 44 ausgerechnet auf diesen Kunstplatz, der zum Kulturerbe der Menschheit gehört. Das Bleidach schmolz und das flüssige Blei rann über die Freken, zerstörte sie. Schon bald wurde mit der Restaurierung begonnen. Einmalig die Methode, die Fresken wurden behutsam losgelöst und auf speziell entwickelte Eternitplatten mit Holzrahmen aufgezogen. Und Glück im Unglück: beim Loslösen kamen   rote Vorzeichnungen („sinopia“) von hohem künstlerischem Wert  zum Vorschein, sozusagen sichtbar gewordene Inspiration der Künstler, Ideen dem Kopf entsprungen und festgehalten als Urentwurf für die Fresken, die oft dann von Schülern oder Mitarbeitern ausgeführt wurden.
Das Fresko muss im Zusammenhang mit der großen Pest 1350 und den mittelalterlichen Totentänzen gesehen werden:  Und ich denke dabei auch an die Totentänze von Florenz (Santa Croce), und Basel (Predigerkirche).Und ich muss dabei auch an die heute Transkommunikation denken, als wäre sie ein Wideraufleben er alten „Totengespräche“ und Totentänze. Die Legende von den drei Lebenden und den drei Toten der Dialog von Lebenden und Toten, wobei die Toten die Lebenden warnen! Damals hieß es „gottgefällig“ zu leben, um der Strafe des Jüngsten Gerichts zu entgehen. Was ja im tiefsten Grunde richtig ist, wenn wir auf die neuern Forschungen des Nahtodes im klinischen Bereich und der Tonbandstimmenforschung eingehen. Aber auch sonst alter parapsychologischer Dokumente, die zum Teil in Emil Matthisens dreibändigem Werk „Das persönliche Überleben des Todes“ festgehalten sind: und wo das Leben als Vorbereitung, um die besseren Schwingungsebenen durch Reife zu erreichen, weil nach dem Tode Schwingungsgemeinschaften hierarchisch geordnet, diesen Zustand spiegeln. In der Literatur seit Dante gibt es viele Intuitionen dazu. Am schönsten vielleicht bei Novalis und Rilke:
Zitat
Aber auch das memento mori, der  großn Pest 1347-53, der Verweis auf die Vergänglichkeit des Lebens, auf die Nichtigkeiten  materieller und ideeller irdischer Güter., die wir auch in den „Trionfi“ von Petrarca finden, wo die Liebe zu Laura den Tod überwindet: Der Tod ist Nichts als Übergang, die eigentliche Angst auf dem Totenbett ist im Gegensatz zu uns, nicht das Sterben, sondern die Angst dem Danach nicht gewachsen zu sein.  Dem Gericht also. „Den Gerechten aber – und wegen ihrer Keuschheit gehört Laura zu ihnen – ist der frühe Tod deshalb recht. Rasche Verwesung bedeutet schnelle Trennung des Fleischs von den Knochen, ist Erleichterung der Seele, die vom Körper nur beschwert ist.“ Und bei Boccacio kommt der Glaubensverlust durch das Grauen im „Decamerone“ am stärksten zum Vorschein: Florenz, Santa Maria Novella, ist der Zufluchtsort von junge Männer und Frauen ungestört miteinander reden können. Draußen auf dem Lande suchen die zehn nur den angenehmen Ort, den „locus amoenus“ Liebes-Idylle angesichts des Grauens. Ihre Geschichten aber sind voller Lieb, mehr Erotik, ja Pornographie. Überwindung des Todes und ihrer Welt, die von der Epidemie erschüttert wird. Dieser Schwarze Tod mit Schreienden, dem Verwesungsgestank, dem Grauen beim Schwarzen Tod, ließ sich wie etwa heute Kriege, KZ schwer wiedergeben, besser in Sprache.
Buffalmacco: Die drei Lebenden und die drei Toten, Pisa, Camposanto. „Nachdem man lange zweifelte, wer für die Fresken in Pisa verantwortlich war, hat sich heute eine Meinung durchgesetzt, die sie auf überraschende Weise mit dem Dekameron des Boccaccio verbindet: Kein anderer als der in den Novellen zitierte florentinische Maler Buffalmacco wird in Anspruch genommen. Boccaccio schildert ihn als gescheiten, oft hinterhältigen Schalk, der seine dummen Mitbürger auf den Arm nimmt. Geschichten von ihm erzählt man sich schon in jenen Wochen, da die Pest wütet, also 1348; sein Werk ist Geschichte wie das des Giotto di Bondone (1267-1337). Mithin entstanden die Grundlagen für die Todesmeditation, auf die der Schwarze Tod in Italien stößt, nicht durch das reale Ereignis angeregt, sondern als Ausdrucksformen der direkt vorausgehenden Generation.“ (Eberhard König, FU, Berlin)
Hinzu kommen Antike und arabische Legenden im ikonographischen Programm des Mittelalters, etwa die Legende von der Freundschaftsprobe und  von Barlaam und Josaphat.
[...] Doch zum „Triumph des Todes“ in der Nordhalle! (Buffalmacco?) 1360, also 7 Jahre nach der Pest.  Es konnte fast ganz gerettet werden. Die Vorzeichnung , mit drei Hauptszenen sehr sinnreich: Unten links: Reiter und drei Damen weichen erschrocken vor  drei offenen Särgen zurück. Oben: Szenen aus dem Eremitenleben:  in der Mitte: die Unglücklichen rufen nach dem Tode;  unten rechts: zeigt den Tod, wie er’s ich auf jene stürzt, die das Leben lieben und weiter leben wollen. Wichtig, die Szene des Konzertes.
Es ist durch die vielen Jahre, auch weil die Fresken ja im Freien standen, die Farbe wie zerbröselt, und die Konturen unscharf. Aber es ist genau zu erkennen, dass es sich um einen Kampf der Engel und Dämonen im Zwischenreich handelt, um die Armen Seelen, die dieses Zwischenreich durchqueren müssen. Auch das ist n er Parapsychologie bekannt, in den Nahtoderlebnissen von Patienten geschildert worden. Und dazu , was heute genau so gilt, das unverantwortliche Erdenleben der meisten, auch meines freilich. Diese Trägheit, dieses In den Tag hinein leben mit banalem Zeug. So hier, wie im Memento mori  berittene Damen und Herren, die zur Jagd reiten, um sich zu vergnügen, plötzlich auf drei offene Särge mit Toten stoßen, die ihre eigenen sein könnten, und Entsetzen zeigen. Der Mönch Macarios an der Treppe zum Einsiedler, versucht sie zu warnen. Ähnlich in der rechten Ecke, wo  zehn junge Leute, wie im Decamerone übrigens, zusammen sitzen, idyllisch sich vergnügen, Laute und Wein, Tanz und Liebe, und genau darüber die Maske des Todes und Szenen von Armen Seelen, die von Dämonen in die Hölle geführt werden, nicht sehen.  Es ist der „Tag des Zornes“. Aus den Mündern der Verstorbenen kommen die Armen Seelen, als Kinder dargestellt. Alles ist umgeben auch von Totenvögeln und Fledermäusen. Nur der Eremit in der oberen rechten Ecke, scheint unberührt von allem.
Tod also zentral. Ich fand ein Gedicht von mir:
GRAU kommt
ganz nah/ an meinem Haar entlang der Tod.
Aus einer Ferne,/ die ich so nicht kannte.
Nun ist er fühlbar da/ und wirft schon Schattenringe.
Und kehrt mir meine Zeit,/ die ich hier lebte um.
Er kommt von vorn,/ aus dem, was bisher gar nicht war,
schon auf mich zu,/ und doch/ scheint es als sei es längst vergangen.
Jetzt stehst du vor mir,/ dein Gesicht ist blass.
Du hast dich abgewandt,/ dein Mund scheint blau.
Und das V ertraute kann nicht singen.
Schau, -  alles was noch einmal kommen wird, / ist für mich
so,
als ob es längst verging.
Auf dieser blassen Grenze,/ die jetzt deutlich wird,
steht einer,/ der mich in die Lehre nimmt.
Der den Verstand ver-rückt, die Worte - / weit hinter sich zurücklässt,
jetzt, -/ bevor der Aufstieg in das Eis beginnt.
Klammer dazu:
Das "Totengespräch", wie es Celan oder  auch Heiner Müller sahen - erscheint so als zeitgemäßes literarisches, vielleicht heute als wichtigstes Genre.  Es ist eine Wiederkehr des verdrängten Todes, die Kommunikation mit dem Undenkbaren, dem "exzentrischen" Bereich der Toten. Kommunikation über jene ganz anderen  Medien, als die von uns gewohnten. Aber auch, und das ist das frappierend Neue: über unsere; in diese Grenzsphäre hineinreichende Geräte ( Tonband, Fernsehen, Computer); sie ermöglichen das Undenkbare, die äußerst schwierige  Kommunikation mit einem anderen "Zeitfeld", nämlich  mit den sogenannten "Toten", die sich dagegen wehren, nur als verwesende Materie angesehen zu werden. Es klingt, wie Science-fiction: die Toten  bezeugen, dass es den Tod nicht gibt. Sie zeigen aber ebenfalls, dass wir uns kein Bild von jener  fremden Sphäre machen dürfen -  und es auch nicht können.  Das Geheimnis, das Verborgene muß gewahrt werden, es schützt sich aber schon durch seine sprachentzogene Unerklärlichkeit selbst vor dem zweckrationalen Zugriff dieser Zivilisation. Der  skeptische Physiker  Prof. H. S. meint, dass es bei diesen merkwürdigen "Durchsagen" schwierig sei, zu unterscheiden, welche dieser Entitäten "echt -autonom" und welche "hausgemachte Projektionen" sind, wobei es auch hier, wie beim Cyberspace, zu Wirklichkeit gewordene Virtualitäten sein könnten, dass es um höchst unheimlich "realisierbare Wahrscheinlichkeiten" von "Toten" geht:  "Aber das Ganze zeigt sich zu komplex und zu kompliziert, als dass wir unsere Vorstellungen berechtigterweise übertragen dürften". Bild- und Sprachverbot?   Aber diese Art zu denken ist tabuisiert, mit Vergessen geschlagen. Muss der Verdrängung des Unvorstellbaren mit absurden INVERSIONEN geantwortet werden, mit Para- und Hypotaxen? ( Wahrheit sei,  heißt es bei Celan, wenn das "größte der Schlachtschiffe an der Stirn eines Ertrunkenen zerschellt!") Und der Zweifel ist quälend, ob es nicht nur Annäherungen am Blindenstock der Feder sind!
Die Geschichte ist zum Gespensterreich geworden - und wir, die Nachgeborenen, sind im späten Nachher ihre Phantome. Die Metapher ist ein vielleicht antiquiertes Sprungbrett, dahin zu kommen, wo wir uns jetzt schon befinden, hinüberzukommen in den historischen Nullbereich, wo womöglich eine Tür wartet.
 Rudolf Otto meint, es gäbe "synthetische wesentliche Prädikate" mit denen das, was er dann das "Numinose" nannte, das Schrecken (tremendum) einjagt, doch noch umschrieben werden könnte; diese "Prädikate" könnten nur verstanden werden, "wenn sie einem Gegenstand als ihrem Träger beigelegt  werden, der selber in ihnen noch nicht mit erkannt ist, auch nicht in ihnen erkannt werden kann, sondern der auf andere Weise erkannt werden muß."
Erstaunlich ist, dass heute einiges bisher nur Gedachte oder in der Literatur, vor allem in der Science-fiction, Vorweggenommene aufs Unheimliche und Paradoxeste real zu werden scheint; dass auch die jahrtausendealte Tradition wieder einströmt,  wie im Traum stößt bei dieser Öffnung dem Subjekt das Gewesene zu, es wird wie frische Erlebnisse aufgenommen, und so Verdrängung schmerzlich aufgehoben, es entsteht nämlich "das umgekehrte Verhältnis zwischen realem Erlebnis und Erinnerung" (Freud),  nachdem  das Brett vor dem Kopf, diese Wand der Ideologien gefallen ist,  Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit sich auf das Schönste - und auf das Gefährlichste treffen, seither bedeuten auch einige der alten , "abgelegten", ja, sogar verfemte Gefühle und Bücher wieder etwas;  erstaunlich ist  auch: vieles bisher Abgelehnte, Verdrängte, Diskriminierte und sauber mit der Vernunft der Bilder und Begriffe "Eingeordnete"  kehrt wieder;  oft eine Wiederkehr, die  Grauen auslöst; denn eine Zeit des Subjekts scheint noch nicht ganz "real", jedoch in seiner furchtbaren Unreife und Irrationalität täglich schon erkennbar, gefährlich aufgebrochen auch in primitiven Gemütern: Wiederkehr des Verdrängten bis hin  zu den "Instinkten", bis hin zum blutigen Bürgerkrieg.
         
Dom (Kathedrale) und  Baptisterium.
Der Dom zeigt wieder die Macht der Seerepublik Pisa, die 1063 sogar Palermo erobert hatte, erbeutete Schätze machten diesen Dom in seiner Großartigkeit möglich. Baumeister war der berühmte Buscheto.  Noch im 14. Jhdt. wurde gebaut, da wars  Giovanni Pisano. Doch Baugeschichten und Jahreszahlen, Baudetails etc. von denen die Führer strotzen, besagen an sich gar nichts. Sie können erst mit dem Erlebnis des Dominnern uns etwas sagen. Schon die Piazza die Miracoli selbst, verwandelt Ästhetik und Schönheit in eine verzaubernde Stimmung, die tiefer geht als nur Landschaft gehen kann. Eine Einstimmung, die freilich nur wirken kann, wenn wir uns vom chronokratischen Zeitgefühl loslösen, uns Zeit gönnen, ja Plotins Spruch, Zeit sei das Leben der Seele, ganz ernst nehmen, alles wie bei der Meditation abschalten, vor allem die Touristenverunreinigung ringsum, und Gesichter in der Menge suchen, die diese Gestimmtheit, einen gewissen erwartungsvoll-staunendenfeierlichen Ernst ausstrahlen. Und nicht das Abhakgefühl der meisten, die nur da sind, weil man dies „gesehen haben muss“.
Der Dom ist  romanisch-pisanisch sehr stilprägend gewesen.
Baptisterium, Dom und Baptisterium, diese Dreiheit ist aufeinander so abgestimmt, und endet an der Marmormauer des Campo Santo als memento mori dieses  aufblitzenden Augenblicks, dass  man  dies Jetzt, ist man bereit, voll erlebt, falls man Turm und Campo Santo schon in sich aufgenommen hat, und niemals sollte man die Reihenfolge umkehren, und zuerst Dom und Babtisterium besuchen! Bewusst wird man sich dieses Moments nur wenn man den Campo Santo und das Turmgefühl kennt, und so der Augenblick Ewigkeit widerspiegelt., man es sich vorsagen sollte. Weil die Wirkung des lebendigen Grüns inmitten zum harten Marmor, sogar das Wort Gras so bedeutungsvoll wird, man es in sich umkehren sollte, denn es ist aller Zukunft, der Tod, Carraramarmor aber hat Ewigkeit in sich,  diese Formen des Heiligen gibt es seit 800 Jahren.
Und dann kommt man zu den Bronzetüren des Meisters Bonanno Pisano. Leben Jesu?  Byzaninischer Einfluss ist unverkennbar.
Die Kuppel ellipsenförmig und hat schonen gotischen  Note. Durch die Spitzbögen und Dekorationen.
Romanische Basilikabauten oder hochstrebende Gotik! Das Grunderlebnis ist wichtig. Und  das Erlebnis dann in der Kathedrale selbst: Ähnlich wie im Florentiner Dom, zuerst der  Architektureindruck der Schönheit und Stille, eine Andachtstimmung , wenn man es zulässt, durch sie ist Ästhetisch , die fünf Schiffe und die reich verzierte Kassettendecke, der Blick zur Schlussapsis wie eine große Erwartung, die Größe wird durch grauschwarze Bandverzierung der Mauern und Säulen die Bögen der Seitenschiffe gleichsam ins Vertraute und Geheimnisvolle wie in einen eigenen Innen-Raum reduziert. Doch dann wirkt schon die Apsis von vorne, so dass der romanisch-orientalische Aspekt  vom  Gefühl des Emporstrebens ersetzt wird, fließend die Übergänge im Gefühl. Vielleicht wirkten auch die Emporen, die marmorweiß sind und die auf  die Seitenschiffe und das Querhaus hinausgehen; sie sind durch starke zweiteilige Rundbogenfenster gegliedert. Aber eben schon in der Höhe verstärken sie die Perspektive zu jenem Punkt der Apsis, wie der Einfall des Unerklärlichen, des Einen in spirituellem Magnetismus zu geschehen scheint. Es ist nicht nur die Apsis, sondern die hohen Bogengänge, teilweise mit Spitzbögen im Mittelschiff, dann aber besonders über der Apsis, wenn wir diese erreichen, das Gotische, die Ellipsenform der Kuppel, die sich über dem Presbyterium auf hochstrebenden Spitzbögen erhebt, die uns zu jenem magischen Innenpunkt, der unsichtbar bleibt, hinführt..  Dort aber gibt es DEN Punkt des einfallenden inneren „Strahls“, fast magnetisch, ziehend, ähnlich wie ich es auch in Florenz am gleichen Punkt unter der hohen, hinaufstrebenden Kuppel vor dem Altar  empfunden hatte! Der ganze Raum ringsum, löste sich auf.
Der Eindruck wird verstärkt durch die weltberühmte  rein gotische Kanzel neben dem ersten Pilaster der Kuppel …  gut gewählt diesen Ort des WORTES.
Frei schwebend zum Leichten in aller Schwere HIER
Blau: pythagoräisch das große Quadrat
dieser Erde, Schwerkraft Gottes, des Herzens HIER
Doppeltes Dreieck, sein Auge.
Und gold wie die Gotik
himmelnd und leicht
das Geheimnis des Urlichts
Entelechien ein Blitz
aus dem Auge des Herrn
Und nicht zufällig sind ja hier in der Kuppel Fresken von Rimaldini über Mariae Himmelfahrt, und die Zwickel tragen die Gestalten der Evanghelisti, die ja auch himmelten. Himmelfahrt also, zumindest mit der Seele, diesen Einruck hatte ich. Und ich muss an das erstaunliche Erlebnis des André Frossard, der solch eine Vision in einer kleinen Kirche des Quartier Latin hatte, und einen Besteller darüber schrieb: „Gott existiert“, denken und kann mich darin gut einfühlen!.
Und andere Erinnerungen kommen: Kölner Dom, Straßburger Münster, Dom von Florenz, Ulm?  Oder Paris – Notre Dame de Paris, eigentlich hier das stärkste Domerlebnis. Es war auch der erste Dom in meinem Leben, den ich in meinem Leben 1968 nach der Flucht sah. Und dann war es das „Gebirge“ des Kölner Doms, eine Legende für mich, schon als Kind zu Weihnachten hatte ich seine Glocken gehört. Und viel gelesen. So wusste ich, dass die Baupläne von Albertus Magnus stammten, dem, doctor universalis, der sich selbst "Bruder Albert von Lauingen" nannte, den die Geschichte nur als Dominikanermönch und Ordens-Prior, als Bischof und päpstlichen Nuntius, als Universitätslehrer und Rektor der Hochschule Köln, als Naturforscher und Philosoph kannte, wurde 1193 in Lauingen geboren und starb am 15. November 1280 in Köln. Seine Schüler waren u. a. Thomas von Aquin und Meister Eckart.
Und auch die Geschichte dieser Baupläne ist etwas Wunderbares, und heute  bestätigt dieses meine Grundauffassung, dass Kunst, wie auch Wissenschaft, man denke an Galilei und Newton (Vgl dazu S.  ) apriorisch ist, Intuition, Einfall aus der andern Sphäre.
Eine Legende berichtet, dass Albertus Magnus den Plan zum Bau des Kölner Doms entworfen haben soll. Eines Nachts seien ihm im Gebet vier Männer erschienen: Ein Greis, ein älterer Mann, ein Mann in den besten Jahren und ein Jüngling. In der Hand hielten sie Zirkel, Winkelmaß, Maßstab und Waage. Es sei dann die Jungfrau Maria eingetreten, nach deren Angaben die vier Männer den Bauriss des Domes auf die Wand gezeichnet hätten. Später sei nach diesem Plan der Kölner Dom gebaut worden.
Dieses Ganz Andere als Einfall, die der einflussreiche Rudolf Otto in seinem Buch „Das Heilige“ mit dem „Numinosen“, einem Zustand, einer besonderen in Worten nicht ausdrückbaren Gestimmtheit in Beziehung setzt, und  dieses „Erwecktwerden“ zu etwas sonst zutiefst und intim, fast schamhaft Verborgenem, das plötzlich alles in eine wunderbare Geborgenheit verwandelte, hab ich am stärksten im Florentiner Dom, dann im Straßburger Münster gespürt. Calvin nennt es „divini numinis intelligentia.
Dieser Eindruck des leuchtenden innern Punktes unter der Kuppel vermittelt freilich über dese  Formen der genialen Architektur, wird in Pisa besonders verstärkt durch die wunderbare Kanzel. Des Giovanni Pisano, viel später erbaut 1302 bis 1311.
Man kann hier das ganze mittelalterlich Weltbild daran studieren, der Mittelstütztpfeiler enthält Figuren des Triviums und Quadriviums: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Astronomie, Arithmetik, Geometrie, Musik. Und auf einem Piedestal die Figuren der drei Theologischen Tugenden. Zwei Außenstützen werden von Löwen, die Pferde reissen, getragen. Symbol für den Sieg des Christentums über die Heiden. Eine andere Stütze wird von Figuren der vier Kardinaltugenden getragen, auf ihren Schultern die Kirche als Frau, sie säugt zwei Kinder, das alte und Neue Testament. Die Auß0ensäulen tragen einen schmalen Architrav. Sybillen und Propheten. Darüber  neun Reliefplatten getrennt durch Propheten und Heiligenfiguren. Darüber wieder ein reichverziertes Gesamtsims, das ein adlergeschmücktes Lesepult trägt. Die neun Reliefplatten erzählen biblische Geschichten. Verkündigung, Geburt des Täufers, Geburt Jesu, Die Heiligen drei Könige. Flucht nach Ägypten. Kindermord. Judaskuss und Gefangennahme. Kreuzigung. Die Auserwählten. Die Verdammten. Die Szenen voller Ungestüm und Leidenschaft.
Und nun der berühmte Bronzeleuchter. Galileis  Messingkronleuchter mit den vielen Waagschalen. Eine Legende besagt, Galilei habe die Pendelbewegung des Leuchters beobachtet und daraus das Gesetz über den Isochronismus aufgestellt. so das Pendelgesetz gefunden. Es besagt, dass ein an einem Punkt aufgehängtes, frei schwingendes Pendel für eine Schwingung, also für die Bewegung vom höchsten Punkt der einen Seite bis zu dem höchsten Punkt der anderen Seite, unabhängig von der Schwingungsweite immer die (fast) gleiche Zeit benötigt. Die Schwingungsdauer ist abhängig von der Pendellänge und der Erdanziehungskraft. Diese Pendeleigenschaft der zeitgleichen Schwingungsdauer nannte schon Galilei "Isochronismus". Mit dieser Eigenschaft war das Pendel der ideale Gangregler für ortsfeste Uhren. Also unser ganze Zeitmessung ist davon abhängig.
                                       BEKANNTE NAMEN
             Rilke
O Herr gib jedem seinen eignen Tod
O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.
Rainer Maria Rilke, 15.4.1903, Viareggio
[täglich
Drittes Buch
Das Buch von der Armut und vom Tode
(1903)
Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe
in harten Adern, wie ein Erz allein;
und bin so tief, daß ich kein Ende sehe
und keine Ferne: alles wurde Nähe,
und alle Nähe wurde Stein.
Ich bin ja noch kein Wissender im Wehe, –
so macht mich dieses große Dunkel klein;
bist du es aber: mach dich schwer, brich ein:
daß deine ganze Hand an mir geschehe
und ich an dir mit meinem ganzen Schrein.
Du Berg, der blieb, da die Gebirge kamen, –
Hang ohne Hütten, Gipfel ohne Namen,
ewiger Schnee, in dem die Sterne lahmen,
und Träger jener Tale der Zyklamen,
aus denen aller Duft der Erde geht;
du, aller Berge Mund und Minaret
(von dem noch nie der Abendruf erschallte):
Geh ich in dir jetzt? Bin ich im Basalte
wie ein noch ungefundenes Metall?
Ehrfürchtig füll ich deine Felsenfalte,
und deine Härte fühl ich überall.
Oder ist das die Angst, in der ich bin?
die tiefe Angst der übergroßen Städte,
in die du mich gestellt hast bis ans Kinn?
O daß dir einer recht geredet hätte
von ihres Wesens Wahn und Abersinn.
Du stündest auf, du Sturm aus Anbeginn,
und triebest sie wie Hülsen vor dir hin ...
Und willst du jetzt von mir: so rede recht, –
so bin ich nicht mehr Herr in meinem Munde,
der nichts als zugehn will wie eine Wunde;
und meine Hände halten sich wie Hunde
an meinen Seiten, jedem Ruf zu schlecht.
  Vermischtes Reise-Tagebuch
FLORENZ
Ankunft in Florenz, mein Gott, wie wäre das früher gewesen, Flóorenz sagten die Leute bei uns in Transilvanien, sogar Mokan, der Geschichtslehrer. Also Ankunft, wieder einmal Ankunft, mit Blick nun, von der Autobahn kommend, auf die Villen der Vorstädte, dann endlos langweilige staubige Straßen.
Manchmal Verkehrsgewühl, heiße Mittagsluft, ohrenzerreissendes Hupkonzert; immer weniger ist dies für mich nun Nebensache, wie am Anfang, als ich noch überall Mythen nachreiste, eignen Träumen. Immer mehr kommt es an mich heran, das Florenz der Florentiner. Die Museen, die Kostbarkeiten sind für Fremde, für Besucher; die Uffizien, der Palazzo Vecchio – erste Erlebnisse – sind fern nun wie die Erinnerungen aus der Kinderzeit: Enthusiasmus bei dem naiv gestirnten Himmel der Deckenbemalung mit Engelornamenten, Blumen, Vegetalien, Tiere – weiter Öffnung des Raumes.
Wir gehen wieder einmal über den Ponte Vecchio, früher sollen von hier die Metzger vertrieben worden sein, dafür durften Goldschmiede das Panorama schmücken; fad nun der Lungarno, noch fader das „Schmuckstück“ mit Filigranarbeiten und goldnen Ohrgehängen, Pillenschächtelchen aus Silber, nachgemachten alten Zinngefäßen für reiche Scheißer aus dem Norden. Schau L., wunderbar, dass sich da vergammelte Hippies umarmend in der Mitte der Brücke breitmachen, ihr Lager aufgeschlagen haben; antiquierter Protest, auch das schon überholt: die Verweigerung. Das scharfe Profil einer jungen Frau in wallendem weißem Gewand ist vor dem Hintergrund des Nachmittagshimmels zu sehen. Geistesabwesen, wie irr, sieht sie über das Wasser.
Fugen kommen mir ins Gedächtnis. Gestern haben wir Mahlers Kindheitssymphonie gehört. L. sagt, das Motiv sei nicht ‚Weißt du wie viel Sternlein stehen’. Vor Jahren ein Foto mit den Eltern – genau hier an diesem Platz: Blick durch die geschwungenen Bögen der Brücke hindurch auf den Fluß, dahinter sanft die Berge. Ganz geprickt gingen die beiden damals noch von einer Brückenseite zur andern, sahen kindlich lachend ins Objektiv – das Foto klebt nun im Album. Sie sind nicht mehr da. Tot, sagt man.
Damals hier Verzückung, im Baptisterium schwingende Sicherheit, Kuppelgleichgewicht des Brunelleschi, so empfand ich es: als wäre ich für einen Augenblick geborgen; L. fühlte das gleiche, in den Uffizien das Anheimelnde – wie Baumschatten des Abendlandes, die Decken, immer wieder ein Kindertraum, gold- und blauschimmernde Himmel.
In der Campagna bei der ersten Anfahrt auf Rom ein prickelndes Gefühl von Frühlingsluft, das war köstlich wie eine einsetzende Verliebtheit. Wir begannen mit der Erde aufzutauen.
Als ich den Dom zum ersten Mal sah: plötzlich stand er vor mir, ein riesiges, für den verwirrten Blick unglaublich hohes, aber heiteres ‚Mausoleum’, wie eine Sphinx, ein schwerer orientalischer Traum. Damals hatten sich auch noch die Eindrücke mit Erinnerungen an zu Hause überlagert, völlig unzugänglich für andere, bis ins Absurde persönlich: unerfindlich, weshalb ich dabei an eine Tante denken musste, die Heydel hieß, an ihre efeubewachsene Mietwohnung mit einer großen beleuchteten Uhr.
Dann gab es eine Phase, da sah ich nicht einmal auf, als wir am Dom vorbeigingen. Ich dachte nur: etwas kitschig, ich muss nicht hinsehen, es genügt, dass er da ist und mich stört, diesem Menschengewühl noch die wenige Sonne wegnimmt. Die blau eingezeichnete Busspur hinter dem Baptisterium wirkte wie eine Sackgasse, geometrische Borniertheit.
Die Legenden, denen ich bisher nachgefahren bin, sind verbraucht, nichts Besonderes, nichts Neues mehr. Dagegen muss ich mich heftig wehren.
Hier liegt alles abseits, die Stille,
jetzt, toskanisch, ist passé,
ganz egal an welchem Ort.
Auch Rom wirkt
bei genauem Erleben (durch den Lärm)
völlig weglos und abgeschnitten.
Wer aber ist dann mein Adressat?
Irgendwo ist er zu vermuten,
denn ich weiß es mit großer Gewissheit,
dass mir der Lärm etwas verbirgt.
Ein Monolog geht um
tausendfach.
Von vorn aber kommt kein Genosse mehr heran.
Da in der Schlucht zwischen Baptisterium und dem sich hochtürmenden Dom, hat er wieder ‚das Gesicht’ gemacht, konnte er nicht aufschauen, nichts sehen also.
Es gab andere Begegnungen. Das Bemühen um genial als Kunst gestoppte Zeit war hier gelungen in Konstruktionen des ‚Stadtirren’ Brunelleschi, vom Kuppelbau erfolgreich aufgehobene Naturgesetze der Schwerkraft. Der aus des Meisters Kopf entsprungene Plan zum Bau hält allen Festigkeitslehren spottend.. Voller Ehrfurcht riecht man an den alten Holzmodellen im Museum, den Atem verschlagen uns die wurmstichigen Holzgerüche, die Probehandlungen des Meisters real vor uns. Wenn wir den Sinn spüren, hinaustreten auf die Piazza, hat sich die plötzlich verändert: die Piazza, die Straße ein Spielplatz, Fußball spielende Kinder, Flanierende, die mit ihren Mädchen den Ausflug für den Sonntag aushandeln; vertraut, tröstlich die Stimmen, die Farben, der Platz von sienafarbenen Häusern wie auf einer Bühne umgeben. Geborgenheit wie überall, wo die Welt wie eingezäunt zu sein scheint. L. sagt, sie denke an das sonnige Bischofsgärtchen mit Rosenzaun hinter der Notre Dame. Und weißt du noch, die im Mondschein spielenden Kinder hinter S. Martino in Lucca, oder jener Platz in Venedig, wo die Schritte auf dem Pflaster hallten und nur drei späte Spaziergänger sich flüsternd unterhielten. Wenn Man also eintritt von der Piazza in die Santa Croce, wo gleich das Cimabue-Kruzifix vorn empfängt, hervorleuchtet aus dem Dämmer, wie im Märchen ein Licht den Verirrten im Wald nach langem Irrgang.
Traumschichten für mich da an der Kirchenmauer entlang, wo nur marmorne Schnitte von Bildhauer-Blicken die Zeit ausgespart haben. Kitschige Denkmäler für den Exilierten, der die Hölle kannte, für den Mann aus Pisa, der die Fallgesetze fand, für den gütigen Zyniker, den Taktiker der Staatskunst – als sähe ich’s nun durch eine Jalousie im brütenden flimmernden Hochsommer, angenehm die Kühle des Stillstandes durch den aufgeweckten Traum. Sieh dort, wie sie sich kunstvoll stäuben und durch unsere gegenwärtigen Blicke leben, die nachvollziehen, was für sie war, freilich ihnen ganz fremd. Wo sie wohl jetzt sind, höre ich L. neben mir sagen.
Straßen, Gassen und dann wieder der schützende Dämmer des Kircheninnern. Die Via Magazzini vom Palazzo Vecchio zum Dom. Überall die zahmen weißen Tauben.
Weißt du noch, sagt L., hier in dieser Tavola Calda haben wir 1974 gemittagtgegessen??, caccia, abgeschossene Vögel, hattest du bestellt, ich sehe, wie sie die geschwungene Acht am Himmel ziehen, mit Schuldgefühlen gegessen, dachtest, es sei Wild, die Sprache traf sich nicht mit deiner Phantasie, du hast sie geschlachtet, die Acht, Fremdsprache, wie so oft, ich habe darunter gelitten, hier in diesem Land, in jenem andern, sage ich. Deinen Vogel, ich weiß, den hast du nie abgeschossen, sagt sie.
10. Juli 95. Schon vor zwei Wochen hatte GBF jedes Gespräch über Thomas Mann, Literatur und seine Verklegertätigkeit abgelehnt, ja, gesagt: Hör doch endlich auf damit. Bi mir ist seit jenem Traum von meinem Begräbnis und den Ahnen (Traumbeschriebung hab ich fotokopiert) eine Persönlichkeitsveränderung stattgefunde hat. Mich inmterresiert nur noch dieses Unaussprchlche, sagte er. (Am 31 Juli wird er 98). Er war still, mn konnte niht n ihn herankommen, und alles , was ich tue und schreibe kam mir daneben so oberflächlich vor. Es rtraf mih wie ein Shclag. Und ich konnte nicht schlafen
Heute nun war er besons abwesend, müde. Er sah L. und dann mich im Laufe des Abends schweigend, lächelnfd, o an, als müßte dieser forschende Blick in uns eindringen, uns enthüllen, damit wir da seien, wo er sich jetzt befand.
Anenntte sagte, es gehe ihm nicht gut, die Nieren, der Kopf. Und tatsächlich, er sagte, nun müsse er uns viel zeigen, sehr viel sagte er, dann  bat er mich, wir saßen im Garten, von seinem Stammsitz im Zimmer einen Traumbeschreibung  zu holen. Dann blätterte er ewig darin. Ich finde den Anfang nicht, sagte er. Wir warteten. Dann begann er zu lesen,  ich erwachte zwei Uhr nachts, und war angekleidet. Ich stand auf und befand mich in China. Irgendwelche Seeleute. , Europäer und Chinesen waren da, kümmerten sich aber nicht um  mich. Ich war erstaunt, konnte nichts rekonstruieren, verstand nichts mehr. Und es war immer noch zwei Uhr nachts usw. Und das las er mindestens zehn Mal, zuerst dachte ich es sei eine eine raffiniert komponierte Fuge: ich erwachte zwei Uhr nachts, und war angekleidet. Ich stand auf und befand mich in China. Irgendwelche Seeleute, Europäer und Chinesen waren da, kümmerten sich aber nicht um  mich. Ich war erstaunt, konnte nichts rekonstruieren, verstand nichts mehr. Und es war immer noch zwei Uhr nachts. Ich erwachte zwei Uhr nachts, und war angekleidet. Ich stand auf und befand mich in China. Irgendwelche Seeleute, Europäer und Chinesen waren da, kümmerten sich aber nicht um  mich. Ich war erstaunt, konnte nichts rekonstruieren, verstand nichts mehr. Und es war immer noch zwei Uhr nachts...  ich erwachte zwei Uhr nachts, und war angekleidet. Ich stand auf und befand mich in China. Irgendwelche Seeleute, Europäer und Chinesen waren da, kümmerten sich aber nicht um  mich. Ich war erstaunt, konnte nichts rekonstruieren, verstand nichts mehr. Und es war immer noch zwei Uhr nachts. Ich erwachte zwei Uhr nachts, und war angekleidet. Ich stand auf und befand mich in China. Irgendwelche Seeleute, Europäer und Chinesen waren da, kümmerten sich aber nicht um  mich. Ich war erstaunt, konnte nichts rekonstruieren, verstand nichts mehr. Und es war immer noch zwei Uhr nachts...
Dann aber merkte ich, daß er einfach "vergessen" hatte, daß er es schon gelesen hatte. Sein Kurzzeitgedächtnis funktionierte nicht mehr. Der Kopf rauchte mir, ich dachte, ich drehe durch, und hörte immer noch seine Stimme: ... ich erwachte zwei Uhr nachts, und war angekleidet. Ich stand auf und befand mich in China. Irgendwelche Seeleute, Europäer und Chinesen waren da, kümmerten sich aber nicht um  mich. Ich war erstaunt, konnte nichts rekonstruieren, verstand nichts mehr. Und es war immer noch zwei Uhr nachts. Ich erwachte zwei Uhr nachts, und war angekleidet. Ich stand auf und befand mich in China. Irgendwelche Seeleute, Europäer und Chinesen waren da, kümmerten sich aber nicht um  mich. Ich war erstaunt, konnte nichts rekonstruieren, verstand nichts mehr. Und es war immer noch zwei Uhr nachts...
Freitag, 29. 12.  Fax von D.  gegen 23 Uhr, harte Kritik an diesem Buch.  Gegen 24 Uhr stießen sie Jeanne, die mein Freund Terplan und ich nicht weniger geliebt hatten, von der Treppe. Sie fiel auf das Handgelenk, die Hand war verstaucht. Jeanne  fiel mit dem Kopf auf den Steinboden.  Sie lag da und wimmerte, sie schrie, es war ein Todesschrei.
3. Januar Feuerbestattung von GBF in Pisa. Ich dachte: Niemals hinab, eingezwängt ins Erdloch. Nein frei, frei zu Asche und Rauch verstreut in die Luft, ins Gras zwischen die Bäume, die weiter in die Ferne und aufs Meer sehen, im Chlorophyl belichtet.
In der Nacht dieser "Traum": Mein Körper löst sich vom Denken, tut nicht mehr weh, ich kann mühelos aufstehen, öffne die Tür zum Garten,  gleite hinaus  fliege. Flüssiges Feuer auf den Stuhl  fällt durch den Olivenbaum Licht und Schatten; flüssiges weißes Feuer wie bei Van Gogs "Stuhl" schlagen daraus Flammen und erstarre alles geschält aus dem Namen  durchsichtig schwingts, schwere Augenlider. Bleiern im Mund Geschmack von Kupfer und  Dröhnen Eisenhämmer im Ohr, ausgelaufen dieses Silber, im Atem Metall, der Körper schwer; und entferne mich  im Hirn eine Helle, taste mit meinen Fingern über rissig poröse Materie, eisigkalt die Stelle wie verhext der Finger gleitet hinein bricht durch, ach, und aus dem Bild an der Wand  tropft es ein Engel Materie weint das Summen wächst...  ein Streifen Licht von draußen, es fällt ins Auge und schmerzt; ich schweige kann nicht reden oder wenn ich rede hört mich niemand;  sie sehen mich nicht; dort oben an den braunen Deckenbalken des Zimmers schweben leicht wie eine Feder das blaue Band  bis zum Meer  flüssiges Licht blendet durchdringt die Mauern würzige Luft ein eßbarer Gegenstand. Die erhöhte Klarsicht bis hinüber zum toskanischen Archipel  hier in der Bibliothek ist nun aus Kristall wie von Sinnen; die Luft scharf der Himmel  Vogelgezwitscher die Linie des Berges mit dem Rasiermesser geschnitten; dieses Rosa glüht von innen weich wie Kinderlippen fliege schwebe über den Wellen über dem Meer Sand Sand und kann in jedes einzelne Körnchen hineinsehen: jedes Teilchen ein vollkommenes geometrischen Muster strahlt ist Kristall mit scharfen Ecken jedes wirft einen Lichtstrahl zurück leuchtet; ein Regenbogen Strahlen kreuzen sich bilden schöne Muster dann wieder das Zimmer die Bücherwand die beiden Fenster  der Sessel ein dichtes Muster es ist nicht mein Zimmer es ist ein Bild von  Braque  keine Gebrauchsgegenstände mehr sondern himmlische Objekte  frei und schwebend Dröhnen Pochen? Sie aber winkten mir; und ich ging mit dem Buch aus dem Haus, es war windstill, im Nachbarhaus stand  auf dem Schornstein eine senkrechte Rauchfahne, Feder im Tintenfaß Trauermusik, Salutschüsse auf einem Friedhof, lauter frisch aufgeworfene Hügel, sonst nur zubetonierte Gräber, wir gingen in eine tranceversunkene Stadt, manchml schwankte ein hohes Gebäude vorbei, und Gesichter hingen müde, wie an eine Fensterscheibe gepresst, vor uns in der Luft.
4. Jan. Nach der Einäscherung in Pisa, las ich von Dr. Moodys "Psychomanteum" (nach Herodot) "Das Orakel der Toten". Raum mit Spiegeln, wo die Toten befragt werden. Ich baue es nach, es ist ganz einfach. Es kommen direkte Stimmen, einzelne Worte. Liebst du mich?  Ich höre ihre Stimme, die es sagt - manchmal höre ich sie noch in meinen Träumen. Liebst du mich? Ja, Ja - und wahre Liebe wird niemals enden. Dann wache ich schreiend auf.
5. Januar. Hier will niemand glauben, daß es die andere Welt gibt. Nach dem Tode aber will es drüben niemand glauben, daß wir je im Fleisch gewesen waren. Ungeheurlich ist schon die Geburt!                        
6. Januar. Morgens ging die Tür plötzlich geisterhaft auf. Ich dachte, es sei der Hund gewesen. Doch der saß friedlich auf der Treppe, weil er zur Hündin  wollte. Es mußte etwas anderes gewesen sein.
Dann die wirklichen Begegnungen: gleich am Anfang des Tages die Nachbarin umarmte mich, wünschte auch mit den Augen alles Gute. Ob das hilft? Wir waren dabei, das alte Auto auszuzräumen. Nostalgie. Es zum Schrottplatz zu fahren. Den neuen "Punto" abzuholen. Alle diese Verrichtungen in dieser physischen Direktheit machen ohne Tagebuch kein Vergnügen. Ich war deshalb etwas erregt. Gestern mit P. Henkelsekt darauf getrunken, daß ich wieder zum Tagebuch gekommen bin, das Vergessen aufbewahrt wird. Erinnere so das Gestern: daß ich das Telefonat mit dem verunglückten Jungen unserer Freunde in der Schweiz verschoben hatte, der Arme  lag dort mit Skiunfall im Krankenhaus. Mit ihm zu sprechen, wenn niemand mehr an ihn denkt, sei schön, sagte er. Telefonierte dann mit Franca, die ihre Tochter und nun auch ihren Dottore verloren hat. Dann mit Annette R. in London, die Knochenkrebs hat.  Begegnung mit Gerardo P., sprachen über die notwendige Verbindung mit den Toten. Und über mein neues Romanprojekt "Engelszungen".
7. Januar. Heute mit J. wieder über den allgemeinen Unglauben gesprochen. Über dieses Leben im winzigen Ausschnitt und mit Reduzierventil. Das müsse "falsifiziert" werden, um zu einer richtigen Haltung zu kommen, sagte ich.
Gespräch mit dem Sohn. Daß er nicht mehr leben wolle, sagte er. Nur euch zuliebe bleibe ich noch da, das sagte er an einer Straßenbahnhaltestelle. Wenn ich nur könnte, sagte er, würde ich den Schalter abdrehen. Eigentlich habt ihr mich nicht gewollt, niemand hat mich gewollt. Ich versuchte ihm verzweifelt  das Schöne dieser Welt, die geistigen Freuden, die Berührungen mit der andern Sphäre nahe zu bringen, daß Freitod keine Lösung sei, daß Selbstmörder nachher orientierungslos herumirrten, gequält, weil sie der Natur zuwiderhandeln. Er aber: Du aber hast es ja selbst in allen deinen Büchern beschrieben, daß die Welt sowieso untergeht.
8.Januar. In der Süddeutschen gestern die Rezension von E. Endres über Jean-Claude Schmitts Wälzer "Die Wiederkehr der Toten. Geistergeschichten im Mittelalter", Klett, 95.  Das Christentum ist nicht gespensterfreundlich. Warum? Auch in der Bibel gibt es kaum Totengeister. Die  Hexe von Endor ist eine Ausnahme. Las in  Jaques le Goff "Die Geburt des Fegefeuers" über die gesellschaftliche Bedeutung der Jenseitsvorstellungen.  Die Toten sollen auf uns  angewiesen sein, ihre Qual könne so auch verkürzt werden, da sie ja nichts anderes seien als Erinnerte. Ähnlich bei Heidegger, der von Verstorbenen als "Gegenstand eines Besorgens" spricht. In Sein und Zeit. Es sind die  bekannten Toten,  die nicht zur Ruhe kommen, in unser Leben hineinreichen. Und auch bei Heidegger gehen diese Toten mit uns um, als lebten sie, und erziehen uns, gehen über irgendeine Vorhandenheit weit hinaus, es sei der Bereich des Noch-mehr.  Sowohl Schmitt als auch Heidegger fallen auf die  "Erfahrung" rein, und wissen natürlich, daß es um eine "nicht vorhandene Realität" gehe, und daß die Toten nur in der Phantasie  der Lebenden eine Existenzberechtigung haben. Doch diese imaginäre Existenz könne sehr viel bedeuten. Auch Schmitt meint, was in unserer Zeit noch lebe, was noch nicht aufgenommen sei in Frieden, der das Gegenteil eines schuldhaften Vergessens sei, arbeite an einer Wiederkehr des Verbrechen von Auschwitz, von Katyn, von Algerien, von Bosnien.
Und hier auch Celan: die Sinnlosigkeit des Todes darf nicht sein!
9.Januar
Zu Rühmkorfs "Tabu I"
Es ist schon so wie du sagst
was du sagst zu den  "fleißigen alten Kerlen"
 lieber Rühmi nur fehlt noch
"in Ewigkeit Amen" und daß wir sie nicht mehr teilen
wie früher die großen Ströme
nach dem Ende der Großen Teilung
kalt war der Krieg doch wir lebten
jetzt werden die Kriege heißer
und wir sind kalt und kälter geworden.
Auch ich bin beim nervösen Flackern
angekommen und hoffe etwas gefunden zu haben
alter Freund
daß die Erbsünde eine reine Lüge ist
an die alle inklusiv meiner noch glauben
auf Sand gebaut auf Kindermärchen ist unsere Angst
Ob Lena Jenissei der  Rhein Mississipi
die Donau auch und warum so exotisch
die Wolga sogar hier ach wie heißt er
Po natürlich und du denkst an Ärgeres
wir am Arsch der Welt
teilst mit keinen Armen wo andere nur austeilen
Jahre und Angst
Es stimmt früher da gabs weniger Gitter Chemie und Atome
offensichtlich nackter die Welt und aus-
gezogen  ist sie so gegenwärtig und kommt der Wahrheit näher.
10. Januar. Ich sagte zu  Anna, daß sich seit langem schon  der Zusammenbruch der materiellen Welt vorbereite, also ein neues Paradigma nötig sei ( verwies auf K. Poppers Buch "Logik der Forschung") und wagte zu sagen, daß die "Aliens" von dieser Katastrophe sprächen, sie rufen zur Bewußtseinsveränderung auf, sagte ich mit Nachdruck.
Anna glaubt nicht daran, meinte, ich sei auf dem Irrweg. Ich aber sprach von einem Gewissenskonflikt. Und daß sie zu angepaßt sei.
Wieder ein Traum mit Jeanne: Sie stellte diesmal die Linse ihrer Kamera genau auf meine Stirn ein, und die Bilder begannen zu kreisen, sich schnell zu bewegen:  In dem Augenblick war ein geflügeltes Pferd zu sehen, und das Pferd, das durch die Linse zu sehen war,  wandte uns scheinbar den Kopf  zu mit tückisch zurückgelegten Ohren, es sah uns mit rollenden Augen und noch tückischerem Ausdruck an,  eine Blesse lief quer über den Kopf. Jeder weiß,  daß es aus dem Blut der geköpften Medusa "entsprungen" war, Poesie versteinert den Augenblick mit einem inneren Auge; doch es war ein wirklicher Stall: Ende Dezember ...


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Wie man als Reisender auf seine Kontaktlinsen achtet