Reichtum ist Diebstahl

So schlimm war es seit der Nachkriegszeit nicht mehr: Das internationale Rote Kreuz hat eine Studie veröffentlicht, nach der 43 Millionen Menschen in Europa nicht in der Lage sind, sich aus eigenen Mitteln ausreichend Nahrungsmittel zu kaufen. Ohne Tafeln, Suppenküchen und Lebensmittelspenden könnten sie ihre Miete nicht mehr zahlen. Nach den ganzen Finanz- und Eurokrisen gibt es jetzt eine humanitäre Krise, also nicht nur eine Krise schwächelnden Geldes, sondern auch eine mit schwächelnden Menschen. Was ja auch kein Wunder ist, wenn ausgerechnet bei den Menschen immer gespart wird. Wenn reihenweise kleine Geschäfte und Unternehmen pleite gehen, weil die Leute kein Geld mehr haben, das sie ausgeben könnten, dann ist es halt aus.

Den Bäcker, den Schlachter, den Schuster, das Reisebüro an der Ecke, die rettet kein Euro-Rettungsschirm. Da geht der Rollo runter und das Licht aus, wenn der Umsatz nicht mehr ausreicht. Und die ehemaligen Geschäftsleute können gemeinsam mit ihren ehemaligen Kunden bei der Suppenküche anstehen. Das ist ein Schicksal, das derzeit auch arbeitsame, leistungsbereite und gut ausgebildete Menschen trifft, egal was die Oberschlaumeier von der Armen-Bekämpfungsfront behaupten. Armut ist Diebstahl, das stimmt allerdings. Nur sind es nicht die Armen, die die Reichen bestehlen – es ist genau umgekehrt.

Die Armen sind arm, weil die Reichen schon alles geklaut haben. Nur nennt man das dann anders. Reiche haben Eigentum, das sie dazu einsetzen können, Menschen, die weniger haben, dazu zu bringen, den Reichtum der Besitzenden zu vermehren, wenn sie einen Bruchteil von dem, was sie mit ihrer Arbeit erwirtschaften, behalten dürfen. Das nennt man Lohnarbeit, ist aber genau betrachtet gesellschaftlich organisierter Diebstahl an Lebenszeit und Kraft, dem schwer beizukommen ist, weil ja alle denken, das wäre okay so. Ist es aber nicht – das merken vor allem die, deren Arbeitskraft gerade nicht nachgefragt wird. Das ist der Hauptgrund dafür, warum Menschen arm sind.

Menschen sind arm, weil sie nicht haben, was sie zum Leben bräuchten und man ihnen auch keine Möglichkeit gibt, sich das, was sie brauchen, selbst zu erarbeiten. Deshalb hat Armut wenig mit individueller Faulheit, Dummheit oder falsch verstandener Mildtätigkeit zu tun, wie unter anderem ein gewisser René Zeyer behauptet. Natürlich gibt es auch Arme, die faul und dumm sind. Es gibt aber auch Reiche, die faul und dumm sind. Nur die können sich das leisten – Arme dagegen nicht. Die meisten sind aber weder faul noch dumm. Sie sind bloß nicht erfolgreich. Sie haben halt das Pech gehabt, nicht auf der Sonnenseite des Lebens geboren worden zu sein.

Aber den neoliberalen Querdenker interessiert nicht die Bohne, was überhaupt die Ursachen von Armut sind. Dafür hat er ein einfaches und wohlfeiles Rezept, wie die Armut zu bekämpfen sei: Nämlich gar nicht. “Die beste und wirksamste Bekämpfung von Armut besteht darin, dass Arme nicht unterstützt werden.” Denn die gängigen Methoden der Armutsbekämpfung würden die Armen nur entmündigen und demotivieren. In diesem Punkt muss ich sogar widerwillig zustimmen – natürlich würde es viele armen Menschen sehr viel mehr helfen, wenn sie etwas Vernünftiges tun könnten, um sich selbst zu ernähren und ihre Lage zu verbessern. Aber genau diese Chance bekommen sie ja nicht. Sie können sich doch nicht einfach ein Stück Land abstecken, um darauf Gemüse anzubauen oder den leer stehenden Laden nebenan übernehmen, um daraus eine Nähstube zu machen, obwohl das gewiss sinnvoll wäre. Sie können es aber nicht, weil sie auf perfide Weise von allem, was sie zum Leben bräuchten, ausgeschlossen werden: Weil das Land und der Laden und überhaupt alles halt irgendwem anders gehören und es nur einen Weg gibt, an alle nötigen Dinge zu kommen: Geld. Geld, das sie weder haben, noch verdienen können. Das Eigentum der einen verursacht die Armut der anderen.

Insofern ist es mehr als recht und billig, wenn die Reichen ein bisschen von ihrem Reichtum abgeben müssen, ob nun aus Zwang oder aus falsch verstandener Solidarität ist völlig egal. Sehr viel besser wäre es allerdings, wenn man die Reichen gleich komplett enteignen würde – dann gäbe es nämlich genug für alle und entsprechend keine Armen mehr, die unterstützt oder bekämpft werden müssen. Aber das wäre ja Kommunismus und somit ist das völlig indiskutabel, denn es gibt ja nichts besseres als freie Marktwirtschaft und unsere freiheitlich demokratische Grundordnung. Und genau deshalb gibt es Programme gegen zuviel Armut.

Was dieser Querdenker nämlich überhaupt nicht kapiert hat, ist, dass so genannte Armutsbekämpfungs-Programme überhaupt nicht dazu da sind, um die Armut zu bekämpfen – Armut ist zwangsläufiger Bestandteil einer Gesellschaft, die Reichtum per Privateigentum bestimmten Leuten vorbehält. Und wenn einige Leute sehr reich werden können, gibt es zwangsläufig auch immer welche, mit denen es das Schicksal weniger gut meint. Es ist also durchaus gewollt, dass es einen gewissen Anteil armer Menschen gibt.

Schon um die anderen zu motivieren, nicht arm zu werden. Nicht arm sein zu wollen, ist doch ein wunderbares Disziplinierungsinstrument, damit der Laden weiterhin läuft: Da stehen die Leute morgens früher auf und bleiben abends länger auf der Arbeit, und das alles ohne Lohnerhöhung – nur weil sie Angst haben, ihren Job zu verlieren. Natürlich sollen auch nicht zu viele Leute arm sein, sonst fehlt die Kaufkraft und die Binnennachfrage, das ist schlecht für die nationale Wirtschaft und außerdem sieht es nicht so gut aus, wenn in den deutschen Innenstädten zu viele Schnorrer und Flaschensammler unterwegs sind.

Und am Ende könnte es sein, dass es Stress gibt, wenn zu viele Menschen nichts mehr zu verlieren haben. Wenn es um die nackte Existenz geht, werden Menschen schon mal rebellisch und gehen auf die Straße. Und wenn sie dann merken, dass sie viele sind, dann gibt es am Ende noch einen Aufstand. Die bisherigen Revolutionen, die mit Hungerrevolten angefangen haben, waren für die herrschenden Schichten zumindest zeitweise nicht sehr lustig, also vermeidet man sie besser. Und genau dazu sind Armutsbekämpfungs-Programme da – die Armen sollen ruhig arm bleiben, aber verhungern soll keiner. Die Armutsindustrie und die gezielte Demotivation der Leute keine Panne, sondern Bestandteil des Systems. Man stelle sich mal vor, die Millionen, die jetzt demotiviert, aber mit vollem Bauch vor der Glotze hängen, bekämen irgendwann so richtig Kohldampf und wären dann auch noch verdammt motiviert, mit den beschissenen Verhältnissen aufzuräumen, denen sie ihre Lage verdanken! DANN geriete das Gesellschaftssystem aus den Fugen. Und nicht wegen zu viel sozialer Umverteilung, wie ollen Zeyer behauptet. Im Gegenteil: Wenn noch weniger umverteilt wird, als derzeit eh schon der Fall ist, dann fangen die Probleme erst richtig an.

Nun ja, wenn die Revolution kommt, wird der wohl einer der ersten sein, die an die Wand gestellt werden. Aber nicht von den Revolutionären, sondern von der alten Garde ehemaliger Milliardäre.



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