Bleibt von jedem gelesenen Roman vielleicht einfach nur ein Bild im Kopf, eine einzelne Szene? Was beispielsweise wird dem Leser dieser Lektüre geblieben sein? Fragen, die sich die etwa 70-jährige Aaliya auf Seite 200 stellt.
Nachdenklich schlage ich das Buch zu und weiß es sofort. Ich werde immer an ein kleines Zimmer in Beirut denken. Vor dem Fenster flackert eine Straßenlaterne (je nach Stromversorgung stark oder schwach). Ich werde den marineblauen Chenille-Sessel sehen, den Gebetsteppich mit dem nach Mekka zeigenden Kompass als Bettvorleger und Kisten voll mit handschriftlichen Übersetzungen der Romane von Tolstoi, Pessoa, Kundera und Nabokov ins Arabische. Aaliyas Wohnung ist mir während des Lesens so vertraut geworden, dass ich für eine Verfilmung das perfekte Setting herrichten könnte. Ach, ja! Inclusive des verstaubten Spiegels. Denn so blitzblank die Wohnung, so halbblind ist der Spiegel. Aaliya ist in einem Alter, da sie sich selbst nicht mehr anschauen mag.
Ihre Leidenschaft ist das Lesen. Überall in ihrer Wohnung stehen Büchertürme herum. Begleitet vom Duft des Jasmins spazieren wir mit ihr durch die Weltliteratur und träumen uns weit weg aus dem Libanon: Meine Bücher verraten mir, wie das Leben in einem zuverlässigen Land ist … Im Vergleich mit dem Mittleren Osten ist die Welt von Burroughs und Garcia Marquez viel vorhersehbarer. Dickens‘ Londoner sind vertrauenswürdiger als die Libanesen (S. 84/85).
Sie liebt die Einsamkeit und die Stille. Ich kann mir vorstellen, den ganzen Tag im Sessel zu sitzen, in Leben, Geschichten und Sätze einzutauchen … ein Buch zum ersten Mal zu lesen, ist so kostbar wie der erste Schluck Orangensaft, der die Fastenzeit im Ramadan beendet (S. 183/184). Doch nicht immer ist sie in der Stimmung für ein neues Buch. Manche Tage sind einfach keine Neues-Buch-Tage. Da spaziert sie dann gern durch die Strassen ihrer Stadt oder geht ins Nationalmuseum. Hier hält sie sich am liebsten bei den Sarkophagen auf – wegen der Stille.
Seit fünfzig Jahren übersetzt Aaliya Schriftsteller aus der ganzen Welt ins Arabische, ihr Wissen ist unermesslich. Sie philosophiert außerdem gern über Beirut, den Libanon und seinen Nachbarstaat Israel. Sie erzählt vom Wahnsinn des Krieges und von den Kämpfen zwischen israelischem Militär und der Hisbollah, sie spricht von komplett zerstörten Beiruter Vierteln. Auch wenn sie als Araberin Israel nicht mag, sind doch viele der von ihr sehr geschätzten Autoren Juden. Für sie sei das kein Widerspruch: Ich identifiziere mich mit Außenseitern, mit den Entfremdeten oder Enteigneten (S. 302). Auf der nun folgenden Seite erwähnt und zitiert sie Àlvaro de Campos, David und Wassili Grossman sowie Czesław Miłosz –
Womit ich direkt bei einem kleinen Problem bin, welches ich mit dem Roman habe. Denn so authentisch und wunderbar skurril alle Szenen darin sind, so unglaubwürdig wirken auf mich die unzähligen Sätze weltberühmter Autoren, welche Aaliya pausenlos zitiert. Manchmal sind das drei Zitate pro Seite (ein Zitatnachweis im Anhang fehlt außerdem). Das stört den Lesefluss und katapultiert mich manchmal regelrecht aus der Story hinaus. Ich nehme das Aaliya einfach nicht ab. In solchen Momenten spricht für mich immer ganz klar der Autor Rabih Alameddine – eine der berühmtesten Stimmen des Nahen Ostens, wie es im Klappentext heißt. Warum erzählt er nicht einfach Aaliyas Geschichte? Sie hat doch auch mal in einem kleinen Buchladen gearbeitet. Darüber hätte ich gern viel mehr erfahren.
Dennoch bleibt ein positives Lesegefühl und eine tiefe Sympathie für die Figur der Aaliya. Ich habe das Gefühl, sie würde mit der Baba Dunja aus Alina Bronskys Roman ein perfektes Team abgegeben. Baba Dunjas lakonische Bemerkung Ich habe alles gesehen und vor nichts mehr Angst. Der Tod kann kommen, aber bitte höflich (S. 12) könnte ebenso gut von Aaliya sein. So, wie dort in Tschernowo, ist es hier in Beirut eine kleine Gemeinschaft älterer Leute, die bei allem Leid und Chaos ihren Witz und ihren sarkastischen Humor nicht verliert.
Denn da sind ja noch die „drei Hexen“ Joumana, Fadia und Marie-Thérèse. Frauen in Aaliyas Alter, die ebenfalls in dem Haus wohnen und ein lustiges Leben auf der Treppe führen mit Kaffeeklatsch im Morgenmantel. Auch ein tolles Film-Setting! Sie sind immer da, aber ganz besonders dann, wenn es einer der Frauen nicht gut geht. Als ein Wasserrohr bricht und Aaliyas Wohnung geflutet wird, sind sie es, die beherzt dabei helfen, die Kartons voller Übersetzungen zu trocknen. Mit Föhn, Bügeleisen, Wäscheklammern + Leine … und viel Geschwätz.
Der Roman selbst ist alles andere als geschwätzig. Die Story ist warmherzig und klug erzählt. 2015 war Eine überflüssige Frau Gewinner des California Book Award. Zum Indiebookday 2016 habe ich diesen Roman aus dem Louisoder Verlag gewählt, weil mich der Klappentext wahnsinnig neugierig gemacht hat, aber auch, weil das Buch mit seinem großartigen Cover und dem gefälligen Format (11 x 18 cm) so wunderbar in der Hand liegt. Nun bekommt es einen Platz in meinem Bücherregal. Denn irgendwann zieht mich die Sehnsucht nach Beirut und dann ist es gut, das Buch aus dem Regal ziehen und gedanklich in die kleine Wohnung der Aaliya schlüpfen zu können. Mit einem Jasmintee werde ich mich leise neben sie in ihrem marineblauen Sessel setzen und den Roman ein zweites Mal lesen, denn zu entdecken gibt es noch genug darin.
Rabih Alameddine. Eine überflüssige Frau. Aus dem Englischen von Marion Hertle. Louisoder Verlag. München 2016. 448 Seiten. 24,90,- €