Der Abschlussabend des „festival nouvelles“ im Pôle-Sud in Straßburg war nichts für schwache Männer. Dafür umso mehr für starke Frauen. Mit Aude Lachaise, Gwendoline Robin sowie Bouchra Ouizguen und ihrer Gruppe CIE ANANIA, war ein künstlerisches, weibliches Aufgebot vor Ort, das es in sich hatte.
Aude Lachaise "Marlon" (c) Jérôme Delatour
Aude Lachaise, die Allroundkünstlerin mit Erfahrungen im Tanz, Gesang, der Performance und der Schauspielerei bot ein one-woman-piece der ganz besonderen Art. „Marlon“ so der Titel, verrät zumindest schon die Richtung, in die Aude Lachaise mit dem Publikum losmarschiert. Sie macht sich tanzend, aber vor allem sprechend auf den Weg, die Untiefen der weiblichen Lust zu erkunden. Dazu verwendet sie ein Vokabular, das sich nicht unbedingt in der Schriftsprache wiederfindet, ohne das aber ein ungezwungener Umgang mit dem Sexualleben nicht auszukommen scheint. Lachaise gelingt ein witziger, spritziger Ausflug mit sprachlich-philosophischen Exkursen rund um das Thema Liebe und rund um Marlon Brando, dem sie hoffnungslos verfallen scheint. Ein klein wenig agiert Lachaise als Sexualtherapeutin. Als Vermittlerin zwischen vermeintlich schwer Vermittelbaren und dem Publikum, das nicht anders kann, als über ihre ausgefuchsten Gedankengänge zu lachen. Nur einmal wird es relativ still im Saal – in dem Moment, in dem sie ankündigt, einen Freiwilligen auf die Bühne zu holen. Denn, sie würde doch zu gerne ein Prinzip des Kamasutra ausprobieren, wozu es klarerweise aber ein Gegenüber braucht. Nach einigen bangen Schreckminuten, dann die Erlösung. Lachaise zeigt körpersprachlich alleine vor, dass Druck wiederum Druck erzeugt und Streicheleinheiten eben Streicheleinheiten. Eine extrem gute Performerin, die ganz nah am Publikum agierte – zum Angreifen nahe – doch – in der ersten Reihe saß kein Marlon Brando.
Gwendonline Robin (c) MP
Wer meint, er oder sie habe ihre oder seine Emotionen jederzeit unter Kontrolle, dem sei die Performance „Echelle“ / „Territoire“ von Gwendoline Robin ans Herz gelegt, um wieder einmal das Gegenteil zu erfahren. Was Robin auslöst, sind Emotionen pur, direkt und unvermittelt. Die Belgierin, die ihr Diplom als bildende Künstlerin erwarb, zeigt ihrem Publikum Brennendes – im wahrsten Sinne des Wortes. Ohne Worte, nur durch stringente Aktionen, führt sie durch ihr Gedankengebäude, das sich mit dem Verhältnis der Nähe und der Ferne und der Betroffenheit, die mit zunehmender Ferne sinkt, auseinandersetzt. Auf einem großen, im Freien aufgebauten Podest hat sie aus Papier einige Hochhäuser sowie darum herum befindliche kleinere Ein- und Mehrfamilienhäuser gebastelt und aufgestellt. Ganz so, als ob sie ein städteplanerisches Modell vorführen müsste. Zwischen diesen kleinen Häusern beginnt sie in aller Ruhe und voller Konzentration, verschiedene Pasten zu verschmieren und Spuren zu legen. Aus einer kleinen Flasche wird schwarz-silbriges Pulver hie und da ausgestreut, und nachdem die Vorbereitungen beendet sind, zündet sie eine Lunte, welche die Modellhäuschen in Brand setzt. Zuerst fängt das Hochhaus Feuer, dann nach und nach einige danebenstehende Gebäude. Robin steht abseits des Geschehens, schaut seelenruhig zu und beginnt ganz langsam, sich einen feuerfesten, weißen Overall anzuziehen, der mit allerhand Schläuchen ausgestattet ist. Man meint, sie würde Feuerwehr spielen wollen und möchte ihr am liebsten zurufen: „Schneller, schneller“! Doch als erfahrener Performancegast übt man sich in scheinbarer Gelassenheit und ist gespannt, auf das, was noch kommen mag. Nach einer unendlich lange erschienenen Zeitspanne – wenn´s brennt, sind einige Minuten unendlich lange – hat Robin sich von Kopf bis Fuß vermummt, einen Helm auf dem Kopf und betritt nun das glosende Feld. Wenig ist übrig geblieben von der einst so weißen Architekturlandschaft. Verkohlt liegt das meiste nun auf dem Podest, kleine Rauchschwaden ziehen über die Szenerie. Da fängt plötzlich einer der Schläuche, die von Robins weißem Overall abstehen, Feuer und in den nächsten Sekunden erschüttern laut und mit viel Rauch einige Explosionen das Podium. Flammen züngeln an Robins Overall, sie versucht, die kleinen Brände mit ihren Händen zu löschen, bleibt noch für kurze Zeit stehen und legt sich dann zwischen die Brandherde, die ungemütlich weiterglosen. Und jetzt macht es „Klick“ im Kopf. „Echelle“ was so viel wie Maßstab heißt, dieser Maßstab wird durch Robins Spiel von der toten Frau, als die sie jetzt offensichtlich vor uns liegt, durchbrochen. Sie ist nun eines jener Opfer, das vom Feuer anheim gesucht wurde, das sich in den kleinen Häuschen ausbreitete. Sie liegt vor uns, ganz nah – der Brand ist zu riechen, die Rauchschwaden brennen in der Nase. Das Opfer liegt vor uns. Eine Minute zuvor war es Spiel, war sie weit weg, diese Stadt, die wir wie in den Nachrichten aus einer entfernten Vogelperspektive betrachten konnten, und deren Untergang uns wenig berührt hat. Jetzt, da ein Mensch in Lebensgröße vor uns liegt, jetzt haben wir verstanden. Robins Performance, die für die Künstlerin tatsächlich mit großer Gefahr verbunden ist, trägt eine Erkenntniserweiterung in sich, die offenbar nur durch die eigene Erfahrung und das eigene Teilhaben funktioniert. Denn wir alle wissen, dass Unglücke, Mord und Totschlag, je weiter sie von uns entfernt sind, umso mehr kalt lassen. Auch wenn wir sie live über den Bildschirm mitverfolgen können, wie wir es tag- täglich von den Nachrichten her kennen. Wir sehen zu und essen dabei unser Abendbrot. Aus unserer Vogelperspektive, zuhause auf der Couch, ist Gewalt und Tod nur ein Berieselungsprogramm. Der Künstlerin gelingt es innerhalb weniger Sekunden diese Ungeheuerlichkeit, diese menschliche Entfremdung, diese Gleichgültigkeit aufzudecken. Es gelingt ihr, uns so betroffen zu machen, dass wir zukünftig ein neues Modell suchen müssen, mit den Schreckensnachrichten im Fernsehen umzugehen. Eine unglaubliche Leistung, die in jedes Psychologielehrbuch gehört und die zeigt, wie sehr ein künstlerisch denkender Mensch den Kunstbegriff auch heute noch ausweiten kann.
Bouchra Ouizguen "Madame Plaza" (c) Hibou Photography
Schock und Betroffenheit bei Robin, Kontemplation, verbunden mit einem sich langsam entwickelnden Nachdenkprozess bei Bouchra Ouizguen und ihrer Gruppe. Ein größeres Kontrastprogramm hätte nicht hintereinander gesetzt werden können. Bouchra Ouizguen stellte sich der Herausforderung, mit einer Gruppe von Frauen, sogenannten Aitas, ein Stück auf die Bühne zu bringen, mit dem sie derzeit durch die Welt tourt. Das Besondere daran ist, dass die Tänzerinnen und Sängerinnen einer alten marokkanischen Tradition entstammen, die sie gleichermaßen als Anbetungsobjekte als auch als Ausgestoßene auftreten lässt. Aitas sind, um einen beschreibenden Terminus zu finden, so etwas wie Kurtisanen, wie Geishas oder auch Nobelprostituierte, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich in Abendlokalen verdienen. Ihr Gesang, jahrhundertelang tradiert verweist auf eine alte Kultur, die jedoch gerade dabei ist auszusterben. Ihre eigenartige Stellung, die in den letzten Jahren jedoch immer prekärer wurde und sie an den Rand der Gesellschaft drängte, lässt aus ihnen heute jedoch – wie im Fall der CIE Anania – selbstbewusste Frauen hervorbringen, die über ihr eigenes Schicksal nachdenken und es aktiv in die Hand nehmen können. „Madame Plaza“ so der Titel des Stückes, ist aber viel mehr als ein folkloristischer Fingerzeig auf eine soziale Minderheit. Es ist ein Stück über Liebe, Verlassenwerden, Abhängigkeit. Ein Stück über Langeweile, die große dramatische, arabische Erzähltradition, aber auch ein Stück über die Intimität zwischen Mann und Frau. Wenn man an Tanz denkt, assoziiert man damit sofort schöne, schlanke Körper. CIE Anania jedoch kann damit nicht aufwarten. Vielmehr sind die Frauen massig, ihre Körper voluminös, aber ihr offensichtlich zur Schau getragener Stolz noch viel mächtiger. Dieses absolute Kontrastprogramm zum gängigen Bild von Tänzern tut richtig gut. Es tut unendlich gut, endlich einmal starke Frauen im doppelten Wortsinn auf der Bühne zu sehen. Frauen, die sich ihrer selbst bewusst sind und kein Stück ihrer Leibesfülle verstecken. Frauen, die Männerblicken Stand halten können, weil sie genauso zurückblicken können. Frauen, die sich ihres Schmerzes genauso wenig schämen, wie ihrer Verletzlichkeit. Die Halt finden untereinander und die dennoch träumen können. Das Warten auf einen Mann – dargestellt durch lange Szenen, in denen die Frauen auf Matratzen träge herumliegen, ohne dass sich auf der Bühne etwas anderes ereignet, oder auch das Erzählen einer der Frauen, im kleinen, intimen Kreis, das dann in Klagen übergeht, an dem alle mitfühlend Anteil nehmen – das sind nur zwei Bilder, die von einer Welt erzählen, die sich im Grunde nur durch ein anderes Zeitmaß von unserer unterscheiden. Auch die Vertrautheit zwischen Mann und Frau, die sich, von den anderen fast schon ein wenig beneidet, unzertrennlich zeigen, ist nachvollziehbar, egal von welcher Gesellschaft, egal in welchem Land. Auf diese Weise schafft Bouchra Ouizguen eine Choreografie, die international verstanden werden kann. Auch wenn sie aus einem Land und aus einer Zeit kommt, die ganz, ganz weit weg von uns ist.