Psychologie: Unsere Sprache prägt, wie wir denken

Aus: Spektrum der Wissenschaft, April 2012
Pormpuraaw ist eine kleine Siedlung der Aborigines in Nordaustralien. Die amerikanische Psychologin Lera Boroditsky bittet ein fünf Jahre altes Mädchen, nach Norden zu zeigen. Ohne zu zögern deutet sie in die richtige Richtung. Später stellt Boroditsky dieselbe Aufgabe in den USA. In einem Hörsaal der Stanford University sitzen angesehene, mehrfach ausgezeichnete Gelehrte; manche besuchen seit 40 Jahren Vorträge diesen Raum. Wie sich zeigt, haben sie keine Ahnung, wo Norden liegt; sie verweigern ratlos die Antwort oder deuten in alle möglichen Richtungen.
Eine Fünfjährige aus einer bestimmten Kultur bringt ohne weiteres etwas fertig, das angesehene Forscher einer anderen Kultur überfordert. Was ist der Grund für die höchst unterschiedliche kognitive Fähigkeit? Die überraschende Antwort lautet: die Sprache.
Anders als Englisch oder Deutsch enthält Kuuk Thaayorre – die in Pormpuraaw gesprochene Eingeborenensprache – keine relativen Raumausdrücke wie links und rechts. Wer Kuuk Thaayorre spricht, gebraucht absolute Himmelsrichtungen wie Norden, Süden, Osten, Westen. Zwar tun wir das auch im Deutschen, aber nur bei großen Entfernungen. Wir würden beispielsweise nie sagen: "Diese Banausen platzieren die Suppenlöffel südöstlich von den Gabeln!" Doch auf Kuuk Thaayorre sagt man etwa "Die Tasse steht südöstlich vom Teller" oder "Der südlich von Maria stehende Knabe ist mein Bruder". Um sich in Pormpuraaw verständlich auszudrücken, muss man immer die Windrose im Kopf haben.
Rund um den Globus kommunizieren Menschen miteinander auf vielfältige Weise, und jede der schätzungsweise 7000 Sprachen verlangt von denen, die sie verwenden, ganz unterschiedliche Leistungen. In der Aprilausgabe von Spektrum der Wissenschaft bringt Lera Boroditsky viele Beispiele dafür.
Angenommen, ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich Anton Tschechows Drama "Onkel Wanja" auf einer Bühne in der 42. Straße New Yorks gesehen habe. Auf Mian, das in Papua-Neuguinea gesprochen wird, würde das Verb aussagen, ob das Stück soeben, gestern oder vor langer Zeit gespielt wurde. Das Indonesische dagegen gibt damit nicht einmal preis, ob die Aufführung bereits stattfand oder noch bevorsteht. Auf Russisch enthüllt das Verb mein Geschlecht. Wenn ich Mandarin verwende, muss ich wissen, ob Onkel Wanja ein Bruder der Mutter oder des Vaters ist und ob er blutsverwandt oder angeheiratet ist, denn für jeden dieser Fälle gibt es einen speziellen Ausdruck. Und mit Pirahã, einer in Amazonien beheimateten Sprache, könnte ich "42. Straße" gar nicht ausdrücken, weil es darin keine exakten Zahlwörter gibt, sondern nur Bezeichnungen für "wenige" und "viele".
Wer anders über den Raum denkt, hat auch eine andere Zeitvorstellung. Jemand, der englisch oder deutsch spricht, ordnet Bildkarten, die Zeitabläufe zeigen, so, dass die Zeit von links nach rechts fortschreitet. Hebräisch oder arabisch Sprechende legen die Karten eher von rechts nach links. Doch Aborigines ordnen die Karten stets von Osten nach Westen. Wenn die Testperson so sitzt, dass sie nach Süden schaut, verlaufen die Karten von links nach rechts. Schaut sie nach Norden, ordnet sie die Bilder von rechts nach links. Hat die Person Osten vor sich, läuft die Kartenfolge auf den Körper zu, und so weiter. Dabei sagte die Forscherin den Probanden nie, welche Himmelsrichtung sie vor sich hatten – die Aborigines wussten das ohnehin schon.
Auch die Wahrnehmung von Farben, Zeugenaussagen über einen Unfall, die Fertigkeit im Kopfrechnen und sogar Vorurteile über ethnische Gruppen hängen davon ab, in welcher Weise wir uns ausdrücken. Offenbar spielt die Sprache eine viel größere Rolle für unser geistiges Leben, als die Wissenschaftler früher annahmen.

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