Cremoneser Einbahnstraße
Ich war vielleicht für 10 Minuten eingenickt, da wurde ich durch ein Klopfen geweckt. Ich öffnete meine Augen. Da! Am Seitenfenster des Autos stand ein junger Mann und klopfte an die Scheibe! Ich erschrak zu Tode! Erst als ich sah, dass der junge Mann freundlich lächelte, fasste ich Mut und kurbelte das Fenster einen Spalt breit nach unten. "Ne ha bisogno d'aiuto?" fragte mich der junge Mann. Ich verstand nicht, was er von mir wollte, zuckte mit den Schultern und schaute ihn fragend an."Brauche... ilfe?" versuchte er es nun mit brüchigem Deutsch, das mit einem starken italienischen Akzent vermischt war (daher auch das Wort Hilfe ohne H, das H existiert in der italienischen Sprache so gut wie nicht und wird nie ausgesprochen).
"Si, si!" antwortete ich ihm.
"Come posso aiutarvi? Wie (h)elfe kann?"
Ich versuchte ihm, mit einfachstem Deutsch, ein paar Worten italienisch und mit der gestikulierenden Sprache der Hände zu erklären, dass ich meinen Ehemann suchte, der in Cremona-Zentrum in einer Via R... wohnte und einen gelben Renault 12 mit deutschem Kennzeichen fuhr.
Mit einem mitleidigen Blick auf die schlafende Bianca auf der hinteren Sitzbank deutete er mir, dass ich auf ihn warten solle, er würde versuchen, das Auto zu finden.
Dann schwang er sich auf ein altersschwaches Mofa und fuhr knatternd davon.
Erlebte ich das gerade wirklich? Da stand ich morgens um kurz nach 5 Uhr auf einem öffentlichen Parkplatz an der Piazza Roma - so hieß der Platz mit der Wasserfontäne - im Zentrum von Cremona in Italien, hatte eine Irrfahrt sondergleichen durch die Schweizer Alpen hinter mir, hatte bereits Bekanntschaft mit den unzähligen Einbahnstraßen Cremonas gemacht, und nun hatte mich ein wildfremder Cremoneser einfach so angesprochen und machte sich für mich auf die Suche nach meinem Mann!! Wenn ich nicht so hundemüde gewesen wäre, ich hätte wohl darüber gelacht. So aber lehnte ich mich zurück und dachte:"Du hast den netten Mann sicher falsch verstanden. Der kommt bestimmt nicht wieder!"
Doch weit gefehlt. Ca 15 Minuten später kam der nette Italiener tatsächlich wieder angefahren, parkte neben meinem Golf, zog seinen Sturzhelm aus und kam freudestrahlend auf mich zu.
"Venga, venga! Ho trovato il suo marito! (H)abe gefunde deine Mann!"
Ich konnte es kaum glauben! Er hatte doch tatsächlich Italos Auto gefunden, das in einer Via Robolotti geparkt war... in der ominösen Via R...!
Der Mofafahrer machte mir in seinem deutsch-italienischen Kauderwelsch klar, dass ich ihm folgen solle. Er zog seinen Helm auf und fuhr vor mir her, ich blieb immer brav direkt hinter ihm.
Via Robolotti, Cremona
Die Fahrt von der Piazza zur Via Robolotti war wirklich kurz... wenn man so fuhr wie der Mofafahrer...nämlich konsequent die Einbahnstraßen und roten Ampeln ignorierend. So waren es nur ein paar Minuten, in denen ich disziplinerte deutsche Autofahrerin einen Schweißausbruch nach dem anderen bekam. Ich schickte pausenlos Stoßgebete zum Himmel und bat darum, dass uns keine Polizei begegnen würde. Meine Gebete wurden erhört. Die zahlreichen Verkehrsdelikte blieben unbemerkt und ich war tatsächlich in der Via Robolotti, einer kleinen Strasse mit aneinandergereihten Palazzi (das sind typisch italienische Stadthäuser mit mehreren Wohnungen), angekommen.Da! Etwas weiter vorne, gegenüber einer Panetteria (Bäckerei) , erkannte ich Italos gelben Renault 12! Ich hatte ihn tatsächlich gefunden! Voller Freude bedankte ich mich bei meinem mofafahrenden italienischen Schutzengel. "Grazie mille!" stammelte ich immer wieder, zu mehr reichte damals meine italienischen Sprachkenntnisse nicht. Er winkte nur immer wieder ab. "Keine Problämm! Muss (h)elfe Signora mit bambina!" Er schaute auf die schlafende Bianca und lächelte. Dann fuhr er davon.
Nun war ich einen großen Schritt weiter gekommen. Ich hatte Italo's Auto gefunden in der Straße, in der er wohnte. Jetzt musste ich nur noch die Namensschilder an den Klingeln der Häuser nach seinem Namen absuchen und meine Überraschung wäre gelungen- wenngleich ich mir den Ablauf bis dahin etwas anders vorgestellt hatte.
Bianca schlief immer noch.Sie hatte von all dem nichts mitbekommen. Ich verließ das Auto und ging die kleine Straße hinunter - immer mit dem Blick auf mein Auto, in dem die schlafende Bianca lag. Ein Haus nach dem anderen suchte ich nach Italos Namen ab. Die eine Straßenseite hatte ich bereits komplett abgesucht. Nun wechselte ich zur anderen. So langsam kamen mir Zweifel. Was, wenn er noch kein Namensschild angebracht hatte? Dann würde ich ihn nicht finden und würde doch warten müssen, bis er zur Arbeit ging.
Noch 3 Häuser, die ich absuchen konnte... noch zwei... das letzte Haus.
Ich war enttäuscht, sehr enttäuscht. Ich hatte seinen Namen nicht gefunden. Also setzte ich mich unverrichteter Dinge wieder ins Auto.Mittlerweile war es ungefähr 6 Uhr. Noch 3 Stunden. Dann würde er das Haus verlassen und mit seinem Auto zur Arbeit fahren. Ich stellte mich darauf ein, dass ich solange würde warten müssen.
zwei Ape's
Es war mittlerweile hell geworden und die Stadt erwachte langsam zum Leben. Straßenkehrer verrichteten ihren frühmorgendlichen Dienst, kleine Lieferwägen - meist diese kleinen 3-rädrigen Ape's - fuhren trotz der frühen Stunde hupend durch die engen Gässchen. Und vorne am Eck öffnete gerade eine typische italienische Bar, in der die Italiener ihren Espresso tranken, einen kurzen Schwatz hielten und anschließend zur Arbeit gingen.Bianca war nun auch aufgewacht. Staunend rieb sie sich die Augen und schaute sich um. "Mama, sind wir in Italien?" fragte sie mich. Ich bejahte ihre Frage. Sie musste auf Toilette. Ich hatte das gleiche Bedürfnis und so machten wir uns gemeinsam auf den Weg zu der kleinen Bar am Eck. Ich bestellte einen Kakao und je ein Brioche für Bianca und mich. Die Frau in der Bar war sehr nett. Sie zeigte uns die Toilette und richtete uns in der Zwischenzeit an einem kleinen Tisch unser bestelltes Frühstück. Mit freundlichen, aber neugierigen Blicken beobachtete sie uns. Ich muss schlimm ausgesehen haben: ungeduscht, total übermüdet, mit von der langen Fahrt zerknittertem Umstandskleid und unübersehbarem Babybauch, mit einer kleinen Tochter, die langsam aber sicher zur Hochform auflief. Kein Wunder! Sie hatte unser Abenteuer ja auch erfolgreich verschlafen! Im Gegensatz zu mir. Ich wollte nur noch ins Bett.
Die Signora kam auf mich zu und fragte mich so in etwa, ob wir in Ferien hier wären, das war es zumindest, was ich verstanden hatte. Ich verneinte und versuchte nun auch ihr mit Händen und Füßen und ein paar italienischen Brocken zu erklären, dass ich meinen Mann, der hier in der Straße wohnen würde, suchte.
Ihr Blick veränderte sich. Zuerst wurde er misstrauisch, dann ungläubig, und als ihr Blick zu Bianca schweifte, da wurde ihr Blick ganz weich und mitleidig. Es ratterte hinter ihrer Stirn, das konnte man klar und deutlich erkennen. Dann plötzlich fing sie an uns anzustrahlen. Sie machte mir klar, dass ich warten solle, ging zu einem Telefonapparat, der an der Wand hing, wählte eine Nummer und sprach aufgeregt, laut und ziemlich schnell mit dem Menschen am anderen Ende der Leitung. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, kam sie wieder zu uns an den Tisch.
"Non si preoccupi! Fra poco troviamo il vostro marito!" sagte sie, was soviel bedeutete wie:"Machen Sie sich keine Sorgen. In Kürze haben wir ihren Mann gefunden!" Die nächsten 10 Minuten rührte sie sich nicht mehr vom Fleck und sprach die ganze Zeit mit beruhigender Stimme auf uns ein. Irgendwie tat das gut, auch wenn wir nicht ein Wort von dem verstanden, was sie da brabbelte.
Dann öffnete sich die Türe der Bar und herein kam eine ältere Frau. Sie hatte graue Haare, die sauber auf Lockenwickler gedreht und mit einer durchsichtigen Haube bedeckt waren. Ihr Gesicht war freundlich und wirkte mit den Lockenwicklern umrahmt irgendwie auch sehr interessant. Bekleidet war sie mit einem geblümten Morgenmantel, der durch einen Bindegürtel um ihre immer noch schlanke Taille zusammengehalten wurde. Ihre Füße zierten rosa Frotteepantoffeln.
Kein Zweifel, sie war gerade aus dem Bett geklingelt worden und hatte sich sofort auf den Weg gemacht, um bei dem Projekt "Verrückte Deutsche mit Kind sucht ihren Ehemann" mitzuhelfen.
Die beiden Damen unterhielten sich sehr angeregt und lautstark. Immer wieder streiften ihre Blicke Bianca und mich. Dann gestikulierte mir die Dame mit den Lockenwicklern, dass ich mit ihr mitgehen sollte.
Ich nahm Bianca an die Hand und folgte ihr ein paar Häuser die Straße hinauf. Vor einem der Palazzi blieb sie stehen und klingelte Sturm. Minuten später wurde der Türsummer getätigt, die Türe zur Straße sprang auf und wir gingen hinein. Plötzlich standen wir in einem großen Innenhof, der mit wunderschönen Blumen und Bäumen in großen Terracotta-Töpfen geschmückt war. Am Ende des Innenhofes führte eine Treppe hinauf in die Stockwerke. Im zweiten Stock angekommen klingelte die ältere Dame erneut an einer Haustür. Jetzt werde ich Italo gleich gegenüber stehen, dachte ich und war sehr aufgeregt. Ich war so gespannt auf sein überraschtes Gesicht!
Die Türe öffnete sich - und vor mir stand ein total verschlafener...absolut fremder Mann!!!
Die ältere Dame redete ununterbrochen in italienisch auf ihn ein, zeigte immer wieder auf Bianca und mich. Nach ein paar Schrecksekunden war ich mir der Situation bewusst. Ich stand vor einem wildfremden Mann, der mich noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Ich war ungeduscht, total übermüdet, ich war unübersehbar schwanger und hatte ein kleines Mädchen an der Hand, das er ebenfalls noch nie gesehen hatte. Und die hilfsbereite Italienerin, die ihn aus dem Schlaf geklingelt hatte, versuchte ihm gerade mit einem nicht enden wollenden Redeschwall klar zu machen, dass ich seine Ehefrau sei und das kleine Mädchen an meiner Hand seine Tochter!!!
Er stand nur wortlos da. Schaute ungläubig von der immer noch redenden Dame zu mir, dann zu Bianca und wieder zurück zu der Italienerin.
Das war zuviel! Ich tippte der Italienerin auf die Schulter. Immer wieder. Doch sie war nicht zu bremsen. Sie bemerkte es gar nicht. "Signora!" versuchte ich es. "Signora, per favore...!" Und nochmals, dieses Mal ziemlich laut:"Signoooooraaaaa!"
Überrascht hielt sie inne und schaute mich an. Ich versuchte ihr mit meinen kläglichen Brocken in ihrer Sprache zu erklären, dass dieser Mann nicht meine Ehemann war. Ungläubig schaute sie von mir zu ihm. Da endlich erwachte auch er aus seiner Schockstarre und sprach mit ihr in einem für mich wohlklingenden italienisch. Ich verstand nicht, was er sprach, aber meine Helferin begriff plötzlich die Situation. Sie fing schallend zu lachen an. Der Mann war immer noch total geschockt, mir war das Ganze so unendlich peinlich... und sie lachte einfach!
Er und ich konnten gar nicht anders. Nach ein paar Sekunden mussten wir auch grinsen, dann kichern und letztendlich lachten wir alle gemeinsam so sehr, dass wir Tränen in den Augen hatten.
"Non fa niente! Se non e lui il vostro marito deve essere l'altro tedesco!" meinte die Dame mit den Lockenwicklern und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. Der Mann übersetzte mir: "Das macht nichts. Wenn er nicht ihr Mann ist, dann muss es der andere Deutsche sein!"
Sprachs, wir verabschiedeten uns von dem schockiert lachenden Mann und machten uns auf den Weg auf der anderen Straßenseite die Straße wieder ein Stückchen hinunter. Wieder klingelte sie, wieder wurden wir in einen wunderbaren, begrünten Innenhof eingelassen, wieder gingen wir die Treppen hoch und standen vor einer Wohnungstür im 1. Stock Kurz dachte ich noch: "Was. wenn er es wieder nicht ist?" Dann ging die Türe auf und Italo stand mir wahrhaftig und total verschlafen gegenüber.
hier wohnte Italo, im Eingang links
Endlich! Endlich! war diese verrückte Reise zu Ende und ich war an meinem Ziel angekommen. Freudestrahlend warf ich mich in seine Arme, er nahm Bianca auf den Arm und herzte und küsste sie. Unser zweiter italienischer Schutzengel klatschte vor Freude Beifall, nahm uns alle in den Arm, drückte jedem von uns einen feuchten Kuss auf die Wange, redete ohne Punkt und Komma irgendetwas auf uns ein, dann endete sie, drehte sie sich um und ging. Auch sie hatte ihre Mission erfolgreich beendet und ging stolz lächelnd bestimmt auf kürzestem Weg zurück in die Bar, um dort alles zu berichten.
Italo nahm uns mit in seine Wohnung, setzte sich in der Küche an den großen runden Tisch, der dort stand, schüttelte immer wieder den Kopf und sagte:"Ich kanns immer noch nicht fassen! Was macht ihr denn hier?"
Ich begann zu erzählen.