Von Stefan Sasse
In meinem gestrigen Artikel "Seifenblasenwelten" schrieb ich über die Enstehung abgeschlossener Informationsblasen, in denen man sich nicht mehr mit der Außenwelt auseinandersetzen muss. Diese Seifenblasen ermöglichen eines der erstaunlichsten Phänomene des aktuellen US-Wahlkampfs, das von Progressiven als "post-truth" umschrieben wird: das völlig ungestrafte und völlig ungenierte Lügen und Verdrehen von Fakten. Das überrascht auch auf den zweiten Blick, denn im Gegensatz etwa zu deutschen Wahlkämpfen sind in den USA die so genannten "fact checkers" hoch im Kurs: mehr oder minder neutrale Institutionen, die Reden und Werbespots daraufhin abklopfen, ob die Aussagen - etwa über politische Gegner oder eigene Leistungen - der Wirklichkeit entsprechen. Aus den Wahlkämpfen sind sie nicht mehr wegzudenken, und trotzem besticht gerade die Strategie der Republikaner dadurch, grobe Lügen aufzutischen und damit durchzukommen. Ohne die Seifenblasenwelten wäre das überhaupt nicht denkbar. Beispiele? Die konservative "Birther"-Bewegung stellte die Behauptung, dass Obama gar kein Amerikaner, sondern Kenianer sei, so lange und so verbissen auf, bis Obama in einem Akt der Kapitulation seine Geburtsurkunde veröffentlichte. Das brauchte die Behauptung aber nicht zum Erliegen. Stattdessen behauptet die Bewegung einfach, die Urkunde sei gefälscht. Und dann haben wir da Paul Ryan.
Ryan ist bekanntlich der Vizepräsidentschaftskandidat Mitt Romneys, ein Hardliner, wie er im Buche steht, aber mit mehr Substanz als es seinerzeit Sarah Palin war (Substanz nicht im inhaltlichen, sondern polit-professionellen Sinne).
Seine große Stunde, die ihn wohl in den Augen Romneys auch zum VP-Kandidaten qualifiziert hat, war seine Mitwirkung in der Simpson-Bowles-Commission, die im Streit um die Erhöhung der Schuldenobergrenze einen Kompromiss zwischen Republikanern und Demokraten ausarbeiten sollte. Dazu kam es nie - Ryan war der Hauptveranwortliche, der das Vorhaben torpedierte und stattdessen dafür sorgte, dass Ende des Jahres automatische Kürzungen bei Medicare und Militär in Kraft treten. Genau das wirft er nun Obama vor: "He created a bipartisan debt commission. They came back with an urgent report. He thanked them, sent them on their way, and then did exactly nothing." Das ist schlicht gelogen, und zahllose Kommentatoren haben das in Länge auseinandergenommen. Das aber ist genauso irrelevant wie die ständig vorgebrachte Lüge, Obama wolle über 700 Milliarden aus dem populären Medicare-Programm herausleiten, um Obamacare zu finanzieren. Auch das stimmt so nicht, aber was macht das schon? Lügen dieser Art werden ständig in den großen Reden zur Prime-Time präsentiert, und obwohl sie in praktisch allen wichtigen Medien Lügen genannt werden, fiecht das niemanden an. Gleiches gilt für "You didn't build that", eine Zeile, die Obama auf die Infrastruktur der USA bezog, die die Republikaner aber durch geschicktes Schneiden auf die "small businesses" bezogen, die so zentral für das amerikanische Selbstverständnis sind. Die Lüge wurde inzwischen so oft eine solche genannt, dass der Werbespot längst hätte aus dem Fernsehen verschwinden müssen - stattdessen wurde das geschnittene Video erneut zur Prime-Time auf dem Krönungsparteitag in Tampa gezeigt und ein kompletter Tag unter das Motto "we built that" gestellt.
Der Grund dafür liegt schlicht in den geschaffenen Seifenblasenwelten. Es gibt keinerlei Notwendigkeit, diese zu verlassen. Fox News würde niemals kritisch darüber berichten oder die Irrtümer aufklären. So ist es auch möglich, dass diese Aussagen stehen bleiben und, vor allem, dass ein zentrales republikanisches Narrativ nicht angekratzt wird: dass Obama nicht etwa ein relativ moderater Präsident ist, sondern ein sozialistischer Usurpator. Seine komplette Legitimität wird in Frage gestellt. Es geht nicht um die Frage der richtigen oder falschen Wirtschaftspolitik (wo man wahrlich verschiedener Meinung sein kann), es geht um einen Kampf Gut gegen Böse. Und in diesem Kampf ist den Republikanern jedes Mittel Recht. Es bleibt abzuwarten, ob die Democrats ebenfalls in verstärktem Maße zu diesen Mitteln greifen werden; ihre Versuche, Romney zum heimlichen CEO von Bain Capital zu machen, nachdem dieser die Firma verlassen hatte, zeigen ähnliche Anzeichen. Es steht zu hoffen, dass sie davon Abstand nehmen - und dass das amerikanische Volk besser ist, als die Republikaner zu glauben scheinen.