Post nach Kanada

Eigentlich geht es elektronisch schneller – schlage ich vor – einfach nur die Karten scannen, dann als Anhang einer E-Mail verschicken und – schwupps! – sind alle Bilder in Kanada. Aber davon verstehe sie nichts, erklärt mir die alte Dame, man hört so viel von Viren, die sich ausbreiten und das wolle sie ihrem Sohn nicht antun. Ihr ist es lieber, wenn ich für sie zur Post ginge und das Brieflein handgeschrieben, die Postkarten beigefügt, abschicke.

Aber wenn ich will, kann sie mir die Karten vorher angucken. Diese -

Moskau Postkarte 1971 RGW-Gebäude

Oder jene:

Moskau Postkarte 1971 Verkehr

Und andere mehr.

Es überkommt ein warmes Gefühl – Moskau ist meine Heimat.

Die Postkarten müssten Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger entstanden sein, überlege ich dabei, den Autos nach zu urteilen….

Ja! Moskau! Damals! —> Nun kommen mir die Ansichtskarten sehr-sehr bekannt vor:

Es ist Sommer 1968. Ich werde von meinen Eltern in die DDR geschickt, in ein Pionierlager.

“Nimm die Ansichtskarten mit, dann kannst du den anderen Kindern zeigen, wo du wohnst!”

So höre ich Karten guckend die Stimme meiner Mutter von damals, sehe mich vor Abflug die Ansichtskarten in den Rucksack zu den Jagdpatronen stecken, die ich zuvor in der Schule gegen Indianer getauscht hatte. Ich wusste nämlich was cool ist: Für die Karten interessierte sich im Lager kein Kind – für die Jagdpatronen schon.

Sie waren wissbegierig. Niemand von denen hatte zuvor Patronen gesehen.

“Sind die echt?”

Klar waren die echt!

Wenn man sie auseinander nahm, konnte man mit Hilfe eines Nagels und etwas Knete einen erstklassigen Knaller bauen, der, wenn gut geworfen, rumste wie aus der Pistole geschossen. Mit dem Pulver konnte man extra kokeln, mit Papierkügelchen ein kleines Feuerwerk machen.

Die Gruppenleiter – erinnere ich mich nun – wollten unbedingt erfahren, wer der Verursacher der allabendlichen Knallerei ist, befragten daher alle Kinder – Aber niemand wusste etwas. Sie hielten dicht. Petzen war verpönt. Es waren Ehrenkinder.

Wenn man sich das heute einmal überlegt: Ich hatte im Flugzeug echte Patronen im Handgepäck, denn Sicherheitskontrollen gab es weder in Scheremetjewo noch in Schönefeld. Und – fällt mir jetzt erst ein – wie hätten wohl meine Eltern zu leiden gehabt, wäre auch nur eines der vielen Kinder zum Verräter mutiert.

So viele Erinnerungen sind von nur wenigen kitschigen Karten ausgelöst.


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