Eine Lesung mit Pierre Jarawan ist ein echtes Event, das man keinesfalls verpassen sollte. 2016 war ich zu der Präsentation seines Debüts “Am Ende bleiben die Zedern” in der Buchhandlung ocelot. Parallel zu seinen Geschichten über den Roman, über Beirut und den Libanon zeigte er eine spektakuläre Diashow. Schnell wurde klar – der Libanon ist ein aufregendes schönes Land voller Gegensätze. Da es so klein ist, kann man morgens in den Bergen Skilaufen und abends am Strand liegen und aufs Meer schauen!
Seitdem sind vier Jahre vergangen. Momentan finden keine Lesungen statt, ich habe aber Pierre Jarawan ein paar Fragen geschickt. Zuerst wollte ich wissen, ob ein Besuch des Libanon weiterhin lohne.
Ja, das würde es unbedingt, hatte er mir vor ein paar Tagen geantwortet. Auch wenn es aktuell natürlich schwierig sei – aber das Land ließe sich sehr leicht bereisen und hätte von Nachtleben bis Kultur und Natur viel Umwerfendes zu bieten.
Tatsächlich spürt man beim Lesen die Leidenschaft des Autors für dieses Land und ganz besonders für Beirut, eine Stadt, die einst als “das Paris des Nahen Ostens” galt. Und die sich trotz des Krieges als “raue unpolierte Schönheit” zeigt. Geht man mit Ich-Erzähler Amin durch Beirut, spürt man das sinnliche Licht, die orientalischen Düfte.
Worum also geht es in dem Buch? Es geht um die Macht von Geschichten, um den Zauber des Erzählens und um die Fähigkeit jedes Einzelnen, aus einem Sandkorn eine Geschichte entstehen zu lassen. Es geht um Literatur.
Um den Alltag zu verdrängen beispielsweise, kauft Amin regelmäßig Bücher bei dem Buchhändler Khalil. Weil er sich gern entführen lässt in die viel beschworenen Phantasiewelten, ist er unterwegs mit Joseph Conrad oder sitzt mit Charles Dickens in einer Kutsche.
Es geht aber auch um ein bis heute nicht aufgeklärtes Tabu-Thema im Libanon: Mehr als 17.00 Menschen werden seit den Jahren des Bürgerkrieges (1975-90) vermisst. Auch der Arabische Frühling von 2011 fließt in wenigen Details in die Geschichte ein, nimmt dem Roman aber in keinster Weise seine Leichtigkeit. Und wie Pierre Jarawan in der Nachbemerkung sagt – es ist ein Werk der Fiktion. Für das er sich sehr viel Zeit genommen hat. Sein Debüt hatte Pierre Jarawan damals in sehr kurzer Zeit geschrieben, an dem aktuellen Roman aber hat er vier Jahre gearbeitet. Ich frage ihn, wie er das erklären würde:
Ich wollte keine Kopie des Debüts schreiben, sondern einen ganz eigenständigen Roman, ich wollte auch zeigen, dass ich mich entwickelt habe, ich wollte dem Thema gerecht werden, habe lange nach der richtigen Sprache und der passenden Erzählstruktur gesucht, habe rund 300 Seiten Text zwischendrin mal gelöscht, weil es nicht funktioniert hat … aber natürlich war da am Anfang auch eine Angst, eventuellen Erwartungen nicht gerecht werden zu können.
Meine Erwartungen hat er erfüllt! Und tatsächlich hat Pierre Jarawan in seinem neuen Roman einen ganz neuen Ton gefunden. Er erzählt diese Geschichte nicht chronologisch, lässt immer wieder Erinnerungen seiner Figuren oder fast vergessene Momente einfließen. Man darf nur den roten Faden nicht verlieren, tauchen doch manchmal Orte, Figuren oder Begebenheiten auf, die bereits 200 Seiten zuvor erwähnt wurden. Ein Mädchen, in das Amin sich als Junge verliebt hatte, trägt heute einen anderen Namen … Aber das zeigt eben auch – nichts ist sicher in diesem Land voller Unruhen und Kriege.
Am besten lässt sich “Ein Lied für die Vermissten” vielleicht vergleichen mit einem farbenprächtigen Mosaik. Stein für Stein ergibt sich am Ende ein unvergessliches Bild, eine Geschichte mit Figuren, die im Herzen bleiben.
Wie beispielsweise Jafar, ein Freund aus Jugendtagen. Amin begegnet ihm erstmals, als er 1994 mit der Großmutter aus Deutschland zurückkehrt in den Libanon. Jafar kennt sich aus in den Gassen und auf den Märkten. Und er ist ein großer Erfinder von Geschichten – eine Fähigkeit, die den Jungen zu einem guten Taschengeld verhilft.
Unmöglich außerdem, Saber Mounir zu vergessen, den Bibliothekar mit seinem silbrigen Haar. Der früher ein berühmter Hakawati war – ein Straßenkünstler der Geschichten erzählt.
Abschließen möchte ich mit einem Satz aus dem Roman, der nicht nur symbolisch für die Krise im Libanon, sondern auch für die aktuelle Krise gelesen werden kann:
„Manchmal bricht uns der Boden unter den Füßen weg, doch wir fallen nicht in einen Abgrund, sondern in einen darunter verborgenen Gang, und an seinem Ende begegnen wir etwas Vertrautem“ (S. 436).
Was immer das Vertraute sein mag – mir ist in meinem Leben wenig so vertraut, wie Bücher, sie begleiten mich ungebrochen seit meiner Kindheit. Und es gibt wenig, was so trösten kann, womit man sich so weit weg träumen kann, wie mit einer guten Geschichte …
Wenn ihr Bücher kauft, dann kauft sie bitte bei einem lokalen Händler, bestellt das Buch online, telefonisch oder per Whatsapp. Buchhandlungen gehören zu unseren Städten, ohne sie geht es nicht.
Pierre Jarawan. Ein Lied für die Vermissten. Berlin Verlag 2020. 455 Seiten. 22,- €. auch als eBook und MP3 Audio