Die Zeder ist das Symbol der Flagge des Libanon. Die Zeder mit ihrem Duft ist es auch, die diese Geschichte begleitet. Wenn der Vater Brahim seinem Sohn Samir Geschichten aus der Heimat erzählt, dann ist immer auch die Libanon-Zeder darin verwoben. Aufgewachsen ist Samir in Deutschland. Als sein Vater spurlos und für immer verschwindet, ist der Junge gerade acht Jahre alt. Eigentlich war es ein ganz normaler Abend und wie immer erzählt Brahim seinem Sohn eine Gute-Nacht-Geschichte, küsst den ahnungslosen Samir auf die Stirn.
Es war der letzte Kuss, den er für mich hatte. Eine große Zufriedenheit überkam mich. Wie warme Daunen legte sie sich auf mich und hüllte mich ein. Dann fuhr er mir durchs Haar. Es war das letzte Mal, dass er es tat … Hätte ich damals gewusst, dass dies die letzten Sekunden waren, die mir mit meinem Vater blieben, ich hätte mir mehr Mühe gegeben. Ich hätte versucht, ihn länger anzuschauen … Aber ich war zu müde. Und so war das Letzte, was ich von meinem Vater sah, seine Silhouette im Türrahmen und wie er liebevoll – zumindest glaube ich das heute – zu mir herüberblickte (S. 98/99).
Samir bleibt nur die Erinnerung an den verschwundenen Vater, ihm bleiben dessen Geschichten über den Libanon und ein damit verbundenes wunderschönes Bild vom Meer, von schneebedeckten Bergen, von kleinen Gassen und vom Duft der Zedern. Krieg und Zerstörung kamen in den Geschichten des Vaters nicht vor. Was Samir noch bleibt, das ist ein kleines gerahmtes Dia, darauf eine Abbildung des Vaters als junger Mann in Uniform. Mit diesem Dia reist der erwachsene Samir in die alte Heimat. Er fliegt nach Beirut. In diesem zweiten Teil der Geschichte taucht der Leser ein in das bunte Leben dieser Stadt. Einer Stadt mit allen Facetten des Lebens – neben vom Krieg zerstörte Häusern und Hotels leuchten hell die bereits sanierten Fassaden, locken Strandleben und intensive nächtliche Partys. Samirs Reise ist ein Trip in die Vergangenheit des Libanon und in die Vergangenheit seines Vaters. Wurde er damals vielleicht nachts von Sicherheitskräften entführt, vielleicht sogar gefoltert? Hatte er ein Doppelleben als Agent geführt? Lebte sein Vater überhaupt noch? Alles stellt der phantasiebegabte Samir sich vor. Und ich folge auf atemraubenden ca. 300 Seiten seinen wilden Spekulationen. Lasse mich schließlich vom Ende des Romans komplett überraschen. Und bin in großer Vorfreude, als ich erfahre, dass der Autor zur Buchpremiere in Berlin sein wird …
Ein Abend im ocelot, not just another bookstore (08.04.16).:
Überrascht hat mich gleich zu Beginn der Veranstaltung die kleine Anekdote des Lektors von Pierre Jarawan, dass vor einem Jahr lediglich 100 Seiten des Romans existierten! Der Autor hatte sein Manuskript an den Verlag geschickt und damit schnell sowohl den Lektor als auch das gesamte Team vom Berlin Verlag begeistert.
Heute liegt hier das fertige Buch. Und im ocelot knistert die Spannung. Kein einziger Stuhl, der frei geblieben ist …
Pierre Jarawan hat sich etwas ganz Besonderes für sein Publikum ausgedacht. Einen Mix aus Dia-Show, Musik, Vorlesen und Diskutieren. Die Passagen liest er selbst, unterbricht immer wieder, um seinem Publikum spannende Fakten mitzuteilen. Beispielsweise, dass die Stadt Beirut zur einen Hälfte christlich und zur anderen muslimisch ist. Die Muslime wiederum teilen sich streng in Sunniten und Schiiten. Insgesamt gibt es im Libanon 18 praktizierende Religionsgemeinschaften, wovon die Christen am stärksten vertreten sind (auch Samirs Familie ist christlich). Die Landessprache jedoch ist Arabisch. Der Libanon liegt am Mittelmeer und grenzt an Israel und Syrien. Noch vor einigen Jahren kamen die Syrer als Besatzer in den Libanon. Heute leben Hunderttausende syrische Flüchtlinge in diesem kleinen Land (das nicht größer als Hessen sei, sagt Pierre Jarawan).
Wenn am Ende dieses Abends Pierre Jarawan seinen Roman signiert, bleibt das Gefühl, einen wundervollen Autor mit unendlicher Fabulierlust kennen gelernt zu haben. Und es bleibt das Gefühl, mit allen Sinnen Freude empfangen zu haben. Wir haben den schönen Songs von Livy Pear gelauscht, wir haben viele Fotos vom Libanon und von Beirut auf der Leinwand gesehen. Wir haben Zuckermandeln geknabbert. Wir haben vom Autor Passagen des Romans vorgelesen und viel erklärt bekommen. Pierre Jarawan kennt sich bestens aus und hat viele Publikumsfragen beantwortet. Und auch wenn das Thema Nahost viel Trauriges und Tragisches vereint, so löst es doch in mir immer auch eine alte Sehnsucht aus. Die Sehnsucht danach, die arabischen Länder zu bereisen, deren Menschen und Kultur besser kennen zu lernen. Da dies momentan so schwer zu realisieren ist, bleibt mir nur, den Autoren zu lauschen, die über diese Länder erzählen … und ihre Bücher zu lesen. Einzutauchen in fremde Welten …
Über den Libanon gibt es bisher leider sehr wenige Romane. Es gibt den auf einer Graphic Novel basierenden Film Waltz with Bashir (erzählt wird allerdings aus der Perspektive einiger junger israelischer Soldaten im Krieg gegen den Libanon). Und es gibt Eine überflüssige Frau von Rabih Alameddine (2016 erschienen im Verlag Louisoder). Gemeinsam mit Am Ende bleiben die Zedern bilden sie nun mein Libanon-Trio.
Pierre Jarawan. Am Ende bleiben die Zedern. Berlin Verlag 2016. 444 Seiten. 22 ,-€