Der Umgang mit unehelichen Kindern im Irland des 20. Jahrhunderts ist spätestens seit dem Film “Philomena” einem grösseren Publikum bekannt. Die wahren Ausmasse der verkauften und durch schlechte Behandlung verstorbenen Kinder kommen erst Jahrzehnte später ans Tageslicht. In einem Massengrab in Tuam (Co. Galway) sollen, in einem alten Abwassertank, die sterblichen Überreste von 800 Kindern liegen. Dieser Tage wurden die Iren wieder einmal mit der jüngeren Vergangenheit konfrontiert. Diesmal nicht, wie du nun vielleicht vermuten würdest, mit Geschehnissen aus dem Nordirlandkonflikt. Obwohl auch hier viel Aufarbeitung nötig wäre.
Irland und die unehelichen Kinder
Sex vor der Ehe ist in Irland noch bis fast ins 21. Jahrhundert hinein nicht nur verpönt, sondern wird als die grösstmögliche Sünde angesehen. Entsteht wie im Beispiel von Philomena Lee aus der Liaison gar ein Kind, wird die Mutter stigmatisiert und von der eigenen Familie verstossen. Die Frauen werden in katholische Einrichtungen wie Klöster oder Frauenhäuser versorgt. Dort sollen sie ihre Sünden mit harter Arbeit büssen. Ihre Kinder werden von den Nonnen “umsorgt”. Viele sterben dabei bereits in sehr jungen Jahren. Kinder, welche die misslichen Umstände überleben, werden verkauft. Meist reiche Amerikaner adoptieren die Glücklosen. Das Einverständnis der Mutter dazu wird erzwungen. Für die Nonnen ist der Verkauf der Babys und Kinder ein Geschäftsmodell. Das nicht alle die Tortur in der Einrichtung überleben, wird in Kauf genommen.
Philomena – eine Mutter sucht ihren Sohn
Eines der “gefallenen Mädchen” ist Philomena Lee. Ihre Mutter früh gestorben, der Vater mit sechs Kindern heilos überfordert. Philomena kommt zu den Nonnen ins Internat. Aufklärung steht dort nicht auf dem Stundenplan und so kommt es, dass Philomena einen jungen Mann kennenlernt und von ihm schwanger wird. Sie wird für ihr kurzes Vergnügen bitter bestraft. Im erzkatholischen Irland ist es für die Nonnen eine Wonne gewesen die Mädchen für ihre Sünden büssen zu lassen. Ohne Schmerzmittel müssen die Mädchen gebären und sich dazu den hämischen Spott der Schwestern anhören. Philomena bringt einen gesunden Jungen zur Welt, Anthony. Im Mutter-Kind-Heim der Sean Ross Abbey in Tipperary darf die unglückliche Mutter, neben dem stundenlangem Schuften in der Wäscherei, ihren Sohn eine Stunde pro Tag sehen. Mit vier Jahren wird Anthony von einem reichen amerikanischen Paar adoptiert und von Irland in die USA gebracht.
Bild aus der Sean Ross Abbey, welches die Kinder beim Tee zeigt. Beaufsichtigt von einer Schwester / © Brian Lockier, www.adoptionrightsalliance.com
Die toten Kinder von Tuam
Schreckliches erfahren wir dieser Tage aus Tuam. In der kleinen Ortschaft im County Galway trieben zur selben Zeit wie die Schwestern der Sean Ross Abbey bei Tipperary die Nonnen der Bon Secours ihr Unwesen. Wie die lokale Historikerin Catherine Corless nach Recherchen in Todesregistern der Region Galway herausfand starben in dem Heim mindesten 796 Kinder zwischen 0 und 9 Jahren. Erschwerend zu dieser schlimmen Tatsache kommt hinzu, dass den Behörden und Locals die Vorkommnisse im “St. Marys Mother and Baby Home” längstens bekannt sein müssten.
Findet Philomena Lee ihren Sohn?
Vor einigen Jahren lüftet Philomena Lee ihr Geheimnis, welches sie 50 Jahre lang gehütet hat. Sie vertraut sich ihrer Tochter, Jane, an und erzählt ihr, nach dem Genuss einiger Gläser Sherry, von Anthony. Durch einige Umstände lernt Jane den Ex-BBC Starreporter Martin Sixmith kennen und schafft es ein Treffen mit diesem und ihrer Mutter zu arrangieren. Tatsächlich tun sich die strengläubige Philomena Lee und der Agnostiker Sixmith zusammen und reisen gemeinsam nach Amerika. Durch Recherchen findet Martin Sixmith relativ schnell eine Spur von Anthony, welcher nun Michael A. Hess heisst. Er war juristischer Berater der Bush-Administration, homosexuell und starb einige Jahre zuvor an AIDS.
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Barry Sweeney und die Skelette
Es ist ein zwölfjähriger Junge, Barry Sweeney, und sein Freund Francis, welche eine schaurige Entdeckung machen. Beim Spielen entdecken sie eine Betonplatte, welche beim Draufklopfen ein hohles Geräusch abgibt. Die Abenteuerlust packt die beiden Jungs und sie stemmen die Betonplatte auf. Was sie sehen ist nicht der erhoffte Goldschatz. Der Anblick lässt den beiden das Blut in den Adern gefrieren. “Der Raum war bis zum Rand voll mit Skeletten”, wird Barry der “Irish Mail on Sunday” dreissig Jahre später zu Protokoll geben. Während die Jungs in der Folge von Alpträumen geplagt werden, lässt die Bevölkerung im wahrsten Sinne des Wortes Gras über die Sache wachsen. Wenigstens ein Priester war gekommen um die sterblichen Überreste zu segnen. Weiter passierte nichts.
Das Philomena Project
So tragisch die Geschichte von Philomena Lee und ihrem Sohn auch ist. Sie ist beileibe kein Einzelfall. Hinzu kommt, dass die katholische Kirche Irlands sich bis heute weigert die Adoptionskarten freizugeben. Mit diesen Adoptionskarte hätte Philomena die Möglichkeit gehabt ihren Anthony noch vor dessen Tod treffen zu können. Einige Male besuchten beide das Kloster in Roscrea um eine Spur des Anderen zu finden. Sie verpassten sich einmal nur um drei Wochen. Die Nonnen erzählten den Müttern jeweils alle Unterlagen seien bei einem Brand vernichtet worden. Den Kindern, welche auf der Suche ihrer leiblichen Mütter waren, wurde erzählt ihre Mutter habe sie nicht gewollt und als Baby weggegeben. Durch den Film “Philomena – eine Mutter sucht ihren Sohn” wird das Thema nun einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Damit Familien sich wiederfinden können hat Philomena mit Jane das “Philomena Project” gegründet. Dies in Zusammenarbeit mit der Adoption Rights Alliance. Die Unterlagen der Adoptionen sind auch im Jahr 2014 noch unter Verschluss.
Wie so viele unverheiratete irische Mütter musste auch Philomena Lee ihren Sohn Anthony unter Druck der Nonnen zur Adoption freigeben. © Brian Lockier, www.adoptionrightsalliance.com
Fast 800 Einträge im Totenregister
Die Knochen, welche Barry und Francis vor 30 Jahren gefunden haben, lagern weiterhin im ausgedienten Abwassertank. Das Heim für alleinstehende Mütter und ihre unehelichen Kinder wurde 1961 geschlossen. Die Schwestern des katholische Frauenordens “Bon Secours” zogen in eine andere Ortschaft. Der Frauenorden, welcher sich die Pflege von Kranken und Sterbenden auf die Fahne geschrieben hat (was für ein Hohn!) existiert noch heute. Auf die Wahrheit der damaligen Geschehnisse wartet die Öffentlichkeit. Geht es um Aufklärung der Dinge, winkt der Orden lediglich ab. Alle Nonnen von damals seien verstorben… Bevor Catherine Corless den Stein ins Rollen gebracht hat, glich sie die Namen aus dem Todesregister mit den Friedhofsregistern der Gegend ab. Sie fand nur eine offizielle Beerdigung. Es muss also davon ausgegangen werden, dass die übrigen Kinder heimlich auf dem Gelände der St. Marys im Massengrab begraben wurden. Die Bürgerinitiative “Children’s Home Graveyard Committee” sammelt Spenden für ein Denkmal für die Kinder. Ausserdem sollen die Knochen ausgegraben und die Geschichte aufgeklärt werden. Ermittlungen nimmt auch die Polizei auf. Dies nachdem die Verwandte eines verschollenen Jungen wegen der fehlenden Todesurkunde Beschwerde eingereicht hat.
Philomena Lee, Tuam und die Magdalenen Wäschereien
Nicht vergessen wollen wir die berüchtigten “Magdalene Laundries”. Dort wurden Mädchen ohne Prozess und Urteil weggesperrt, in sklavenartiger Gefangenschaft gehalten und zu harter Arbeit in der jeweiligen Wäscherei des Klosters gezwungen. Ohne Prozess und im Unklaren über die Länge des Freiheitentzuges geriet damals auch die junge Sinéad O’Connor. Sie wurde nach einigen Ladendiebstählen eine “Maggie” und geriet, glücklicherweise, an eine warmherzige Nonne. Diese schenkte Sinéad ihre erste Gitarre – es war der Start in eine tolle Karriere. Dank grossartigen Menschen wie Philomena, Catherine und Sinéad werden uns heute die traurigen Geschichten, der verstorbenen, verkauften und versklavten Kinder und Mütter überliefert. Sie gelangen langsam ins Bewusstsein der Iren. Aber es ist noch viel Aufklärungsarbeit, Wille und Offenheit gefordert um die Diskussion über die schrecklichen Geschehnisse in den katholischen Einrichtungen in Gang zu bringen. Nur so können die Ereignisse aufgearbeitet werden und die Verwandten der Opfer können vielleicht verstehen was damals geschah. Und vielleicht können sie dann auch verzeihen – wie Philomena dies getan hat. Hat dir der Artikel gefallen? Dann teile ihn doch gleich mit deinem sozialen Netzwerk. Sicherlich interessiert deine Freunde dieses Thema auch.
Links und Textquellen:
Artikel im Tagesspiegel Verbrechen im Kloster – Irlands geraubte Kinder
Artikel im Spiegel: In Massengrab in Irland sollen bis 800 Babys liegen
Artikel im Irish Examiner: Call for inquiry into Mother and Baby Home deaths
Artikel in der NZZ: Der Nonnen Schuld
Artikel in der Washington Post: Bodies of 800 Babies Long dead found in septic tank