per Anhalter nach Bariloche

Sabrina kommt pünktlich. Wir haben uns tags zuvor im Nationalpark Payunia kennengelernt. Gemeinsam wollen wir nach Bariloche, mehr als Tausend Kilometer weiter südlich. Nach Möglichkeit per Anhalter. Ein Busticket kann ich mir nicht leisten, will ich mir nicht leisten. Meine Neugier hat einen knurrenden Magen … ›if you’re bored, you’re boring‹ las ich einst auf einem Schulterblatt.

Von Malargüe nehmen wir den Bus ins drei Stunden entfernte San Rafael, zurück also. Dort müssen wir an den Stadtrand. Mit einem Omnibus geht es raus. An einem Kreisel steigen wir aus, in Nähe einer Tankstelle: Mehrere Lkws stehen da. Sabrina und ich fragen abwechselnd – aber alle wollen in die andere Richtung. Wir gehen weiter, auf der Ruta 143 Richtung Osten. Die Besiedlung wird spärlicher, es wird grüner – ruhiger. An einem Schrein legen wir unser zu schwer gewordenes Gepäck ab. Sabrina fällt der viele Müll um den Schrein auf: Überall Plastikflaschen, alle aber noch gefüllt. Da nach wie vor niemand anhält, und uns nur durch Lichthupe oder Winken zu verstehen gegeben wird, dass man kein Platz hat oder ein anderes Ziel, schreibe ich mit Kugelschreiber auf mein braunes Brotpapier Neuquén. Neuquén liegt 600 Kilometer weiter im Süden und ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt nach Patagonien. Vielleicht hilft das. Tut es nicht. Es ist schwieriger als gedacht. Wir sind dennoch frohen Mutes – genau das zeichnet Reisen dieser Art aus. Nach langer Zeit, Sabrina liegt inzwischen an einen Baum gelehnt, hält ein grüner, verbeulter, vom Rost angegriffener, Chevrolet an. Er fährt zwar nur ins 80 Kilometer entfernte General Alvear, immerhin kommen wir so aber von der Stelle. Wir schmeißen unser Gepäck auf die Ladefläche. Der Fahrer, ein junger Mann mit milden Augen und einer gelben Kuppe am Zeigefinger, behauptet, dass es von dort aus leichter sei. Er sei gerade auf dem Weg ins Lager, er verkauft Holzmöbel. Zum Leben reicht es, das was er verdient, aber die Regierung, sie nimmt den Leuten alles weg. Sie sei korrupt, würde Arbeit nicht angemessen honorieren und allmählich würde Argentinien sich wie Venezuela und Kuba in Richtung Kommunismus bewegen. Selbiges hörte ich hier schon einmal, vom einem Ingenieur, Hostelbesitzer und Paragliding-Pilot in einer Person. Im Fenster ziehen Weinplantagen vorbei, wir überholen einen Laster, auf dessen Ladefläche dunkle vermummte Männer stehen. Sie winken. ›Bolivianer‹, stellt unser Fahrer fest. Sie arbeiten auf den Plantagen, für weniger Geld, und nehmen so den Einheimischen die Arbeit weg.

In General Alvear trennen sich unsere Wege. Sabrina zündet sich eine Malboro an, ich besorge eine Pulle Roten. Immerhin, 80 Kilometer. Wir gehen jetzt südwärts. An einer Kreuzung laden wir unser Gepäck ab. Niemand hält an. Mein Schatten reicht inzwischen bis auf die anderen Straßenseite. Es wird kühl. Wir beschließen hier zu übernachten. Sabrina winkt weiter, ich suche eine Stelle zum campen. Als ich zurückkomme, läuft Sabrina zu einem Sattelschlepper. Sie gestikuliert. Als ich die Fahrerkabine erreiche, heißt es, dass er nicht genug Platz hat. Wir sind sicher, er hätte zwei Personen mitgenommen. Wenn sie weiblich wären. In einem Obstgarten schlagen wir unser Zelt auf. Wir essen Nudelsalat, Sesam-Kräcker und trinken Rotwein. Die Nacht ist frostig. Straßenhunde erfüllen die Nacht mit Gebell und Geheul. Rivalenkämpfe. Sabrina schläft schlecht. Ich wache morgens frierend auf. Zum Frühstück gibt es Baguette, Frischkäse und stilles Wasser. Unter Birnenbäumen. Zwischen den Blätter funkelt Morgenlicht.

Danach folgen wir für eine Stunde der Ruta 143 in den Süden. Niemand hält an. Vielleicht machen wir auch etwas falsch. Wir stecken das Schild wieder weg und versuchen nur noch mit Handzeichen die Autos zum halten zu bewegen. Die Sonne brennt, der Wind ist frisch. An einer Busstation legen wir ab. Ein Einheimischer kommt zu uns. Auf seinem Arm schnurrt eine Russisch Blau. Er empfehlt uns, mit einem Omnibus zu Raststätte Carmensa zu fahren. Dort würden wir mehr Glück haben. Er verabschiedet sich und bietet uns an, ihn aufzusuchen, sollten wir warmes Wasser oder eine Toilette brauchen. Als ich später bei ihm anklopfe, bemerke ich seine Tattoos. Er streift sein Shirt ab: Auf seinem Schulterblatt dribbelt die Argentinische Nummer 10, auf dem Oberarm prangt Che – jenes Foto was zur Ikonographie geworden ist. In Kuba habe ich damals erfahren, dass dieses Foto auf der Bestattung seines Freundes geschossen wurde. Über dem Herzen sitzt ein Tattoo einer Frau – seine Ex.

Wir warten also auf den nächsten Bus. Zwei Pesos soll es pro Person kosten, hat uns Fabrizio verraten: ›Zahlt nicht mehr!‹ Der Busfahrer verlangt acht. Wir dürfen nach einem hin und her, schließlich doch zum Normal-Fahrpreis mit. In Carmensa hüpfen wir aus dem Bus. Der Wind streicht durch die Palmenblätter. Trotzdem ist die Hitze außerhalb des Schattens nur schwer zu ertragen. Zwei Einheimische haben weiter hinten Platz genommen. Wir warten. Und winken. Niemand hält an. Die Tankstelle hat geschlossen, sie wird renoviert, lediglich eine Zapfsäule steht bereit. Das Restaurant daneben entpuppt sich als Touristeninfo und Geschäft, welches regionale Weine, Konfitüre und eingelegtes Gemüse verkauft. Wie sie mir helfen könne? Ich muss mich erst ein wenig sammeln, ihre Schönheit irritiert mich. Sie hat das Gesicht einer Wildkatze: Markante Wangenknochen, dunkle, in die Breite gehenden Augen, schneeweiße Zähne. Eine Strähne zeichnet eine schwarze  Vignette auf die sommersprossige Haut. Und sie ist so nett: ›Kaffee?‹ Nein, den würden sie nicht haben, aber sie könne mir Mate-Tee anbieten oder Wasser aufkochen. Ich darf an ihrem Tisch Platz nehmen, währenddessen besorgt sie Wasser, spült die Tassen und legt mir sogar eine Serviette zurecht. Sie trinkt Tee, ich Kaffee. Ich mag sie. Ich bin so außer Häuschen, dass ich zurück zu Sabrina laufe. Ich versuche über ein Absperrband zu springen. Wie gesagt, versuche …

Sabrina hat sich unter eine Palme gelegt. Ich versuche mein Glück. Die Wenigsten halten an, und wenn, dann haben sie keinen Platz oder sie dürfen aufgrund von Sicherheitsbestimmungen niemanden mitnehmen. Wir überlegen, zurück nach General Alvear zu fahren und von dort einen Bus nach Neuquén zu nehmen. Kurz nach 14 Uhr haben wir doch Glück. Hugo, so sein Name, fährt nach Neuquén. Er liefert getrocknetes Eis an eine Kellerei. Zunähst jedoch will er sich stärken. Den Rest seines Essens bietet er uns an: Pommes und Hühnchen. Dann schenkt er uns Orangensaft ein. Um halb drei fahren wir endlich los. Meine Augen finden keinen Halt. Endlose Weite. Grün-gelbliche Steppe. Sand, Risse in der Erde. Ganz klein und schwach kann man die Anden erkennen. Die Straße verändert ihre Markierungen, die Sonne ihren Stand, die Reifen ihr Geräusch – die Landschaft bleibt gleich. Mir fallen die Augen zu. Später erklärt Hugo uns die Schreine am Straßenrand: Es handelt sich um die so genannte Difunta Correa. Sie ist die Schutzheilige der Reisenden. Der angebliche Müll ist keiner. Es sind Opfergaben, Wasser: Difunta Correa war eine Frau, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts, während des Argentinischen Bürgerkrieges, zusammen mit ihrem Säugling, auf die Suche nach ihrem Mann machte. Sie verdurstete in der Wüste, ihr Kind überlebte, der Muttermilch zum Dank.

Immer wieder werden wir angehalten und kontrolliert. Hugo ist genervt von den Fragen der Polizei: ›Die sehen doch auf meinen Papieren, was ich liefere und wohin ich liefere. Was sollen diese Fragen? Sollen sie lesen!‹. Der Grund der häufigen Kontrollen sind die Autodiebstähle in Argentinien, der Schwarzhandel, ›illegale‹ Einreisen. Die Schatten werden wieder einmal länger. Der Horizont färbt sich violett. Die Metronome des Fortschritts – Ölpumpen – zeichnen sich als Schatten ab. Bevor wir abgesetzt werden, muss Hugo noch seine Fracht abliefern. Bei dieser Gelegenheit dürfen wir uns die Kellerei anschauen, Hugo hat den Sicherheitsmann überredet.

Im Dunkeln kommen wir in Neuquén an. Es ist frostig. Beide sind wir leicht kränklich und schwach von der letzten kalten Nacht. Wir entscheiden einen Bus zu nehmen. Schließlich sind es noch weitere 460 Kilometer nach Bariloche


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