Paperblog

Dieter Schlesak SCHÄSSBURG. DIE KLEINE WELTSTADT IN SIEBENBÜRGEN   http://www.youtube.com/watch?v=l1HJTY9o5bw&feature=related http://www.youtube.com/watch?v=FHFf7NIwOHQ&feature=related   I ANKUNFT   Albert Schotsch, Kunstfotograf aus Schässburg Dieses Sehnsuchtsfoto aus der Ferne. Es lässt das Herz höher schlagen, es holt Träume und Erinnerungen hoch. Es IST wie die Kindheit. Nur noch einige Kilometer bis Schäßburg. Viel zu rasch geht alles. Die Distanzen sind so klein. Früher der Pferdewagen. Da brauchte man Stunden. Und jetzt das Auto... in der alten Kokellandschaft, der Wench, ja, Wench, was heißt Wench? Am Ufer der Stadt zu, die man noch nicht sieht, sie ist hinter dem Berg mit den Friedhöfen. Hinter den Berg, denk ich, werde ich nicht mehr kommen; am Ufer eine verlassene Industrieanlage, früher Schussfahrt auf Schiern. Die Gegend war ja einmal dicht mit meinen Erinnerungen besetzt, mit jenem Kind, das ich nicht mehr bin, das aber immer noch in mir ist. Schneegeruch? Was löscht da aus? Ich biege rechts ab, fahre an Viehställen entlang, ein Zigeunerlager. .. den alten Bezeichnungen nachfahren, die in meinem Hirn platzen: Hula Daneşului, Atelshill, Versunken. Vergessen. Aber jetzt wären ich angekommen, hier im „Zuhause" Mein Gott... Derhiem? Von der Albertstraße bog ich in die Holzmarktgasse ein; und ich erkannte mein Kinder- und Erinnerungshaus wieder; grünverblichene Jalousien, wie alt-gewordene Augen, niedriges Gassentor, gelbverblichener Zaun, Farbe vom Wetter verwaschen, abgeblättert: unser Haus. Wieso steht es so vor mir wie eine Kreatur und wie ein Schlag ins Gesicht. Im Garten arbeitete ein Mann mittleren Alters, sah über den Zaun, schien misstrauisch. - „Wer sind Sie, was suchen Sie?" Ich zögerte, stotterte, sagte meinen Namen! Freude auf seinem Gesicht? „Kommen Sie bitte herein, auch meine Frau wird sich freuen." Es ist nicht mehr Tabu, unser Haus. Früher: das Haus der Se-curitate. Der ehemalige Folterkeller daneben, die Schreie, nachts, die frühere Landwirtschaftskammer, sie ist jetzt eine Klinik. Erinnerungen fließen, die Wand ist weg. Und da bricht Wirklichkeit ein, fließt wieder. Ist sie zu stark, diese Wirklichkeit? Jeder Stein ist nah und doch so fern, der Garten, wo ich mein gemietetes Auto parke, komisches Gefühl, jetzt im Garten, wo der Birnbaum, der Apfelbaum mal stand, die Laube, der Zaun zum Senator Lang, jetzt mit dem Auto überfahren, die gleiche Erde, da ist jetzt eine Art Schopfen, ein Hühnerstall mit gackernden Hühnern, ein Hahn kräht, alles so eng und klein, und doch so fremd, was schimmert da durch? Und dort, ja, dort am Zaun saßen wir Ostern und in einem „Mutterbuch" von Autoren, wo auch ich vorkomme. Ist es zu sehen: Das Küchenfenster mit dem Mauervorsprung, ich taste mit den Händen danach, der Mauervorsprung ist immer noch abgetreten, damals von meinen Kinderfüßen abgetreten, wir stiegen hier immer so zum Spaß ins Haus ein, und erhielten dafür Prügel, wenn Mutter uns dabei erwischte. Ganz scheu ging ich ins Haus, Herr Agapie empfing mich, ging mir voraus, als würde ich mich hier nicht auskennen; Reise in die Nähe, ins ferne Land der Jahre? Die braune Eingangstür, das Schild Transilvania Versicherung immer noch da, der Klingelknopf der gleiche, die vier Marmortreppen, das Vorzimmer, der weiße Spiegel, alles noch da, die Tür zur Diele, der Tisch, die Holztäfelung, und die Nische mit der Holzwand, den Bänken, die aufklappbar waren, rings um den Tisch, wo wir meist aßen, mit den Eltern und Großeltern. Das Speisezimmer, der Kachelofen, die Kredenz, das Rauchereck, alles noch da? Wie ist das möglich? Nur - alles abgeschabt und alt. Armselig wirkte es auf mich. Wir setzten uns an den Tisch, Frau Agapie kam, begrüßte mich herzlich. Wir tranken Tee. Eine Tzuika lehnte ich ab. Zu früh. Fürchtete auch, meine Sinne zu betäuben. Frau Agapie hatte sich fein gemacht, geschminkt sogar, ihre dunklen Haare gekämmt. Sie sah mich noch neugieriger an als ihr Mann. Beide sind Lehrer an der Bergschule, er war eine Zeitlang Bergschuldirektor, konnte aber kein Wort deutsch. Die Töchter studieren in Klausenburg, eine sogar Germanistik. Ich musste erzählen. „Italien?" „Ja." „Und weshalb nicht Deutschland?" Ich versuchte es ihnen zu erklären, sie verstanden es nicht, dass ich gewartet habe, also sozusagen in der Vorläufigkeit gelebt, mich sozusagen aufgespart. hatte, jahrzehntelang, um einmal wieder nach Hause zu kommen, „Und jetzt kommen Sie also nach Hause?" fragten sie verwundert. „Wissen Sie auch, was Sie hier erwartet?" Ich erklärte ihnen, dass mich Mutter geschickt hatte, nach den Gräbern und den Häusern zu sehen. „Die werden jetzt entschädigt, zurückgegeben..." Sie sahen mich misstrauisch an: „Die meisten Häuser sind ja vom Staat oder von Privatpersonen gekauft worden, wir haben es auch gekauft, vom Herrn Machat, dem Sohn des Professors Machat. Und der hat es von Ihrem Vater gekauft, als Ihre Eltern auswanderten, samt den Möbeln." Ich beruhigte sie, es sei Nostalgie, es sei Neugierde, die mich jetzt habe zurückkehren lassen, und der Wunsch meiner Mutter. Und ich hätte mein Geburtshaus in der ehemaligen Baiergasse, Str. 1 decembrie 1918 zurückbekommen, das sei ein seltsames Gefühl.... „Oh, ja. Da, da." „Sie können aber hier bei uns wohnen", boten sie mir an. „Ja, gerne, ich möchte es ausprobieren, wie es ist, nach so vielen Jahren, hier zu schlafen! Ich danke ihnen von Herzen, genau das wollte ich Sie bitten, wieder ein paar Nächte in meinem alten Elternhaus zu schlafen, zu sehen, was für Erinnerungen da hochkommen. Ich möchte darüber schreiben!" „Wir wissen es, wir haben davon gehört, dass Sie Schriftsteller sind. Und es freut uns auch, dass unser Haus jetzt seine Vergangenheit zurückerhält, zurückerhalten darf ... jetzt nach der Revolution! Sie wissen es ja, wer vorher hier jahrelang gewütet hat, welche Leute, was für eine Institution..." „Ich weiß... die Securitate!" Ich sagte, ich müsse mich jetzt verabschieden, meine besten Freunde erwarteten mich noch, der Herr Salmen... „Ach, der domnule Salmen, der letzte evreu von Schäßburg, jaja, den kennen wir. Und auch die Doamna Edith, die Tochter vom Herrn Doktor, dem guten Arzt, ja, das waren noch Zeiten, als der Domnule Doctor mit seinem Instrumentenköfferchen durch die Stadt zu seinen Patienten radelte!" Agapie gab mir noch den Hausschlüssel. Ich nahm ihn wie ein Geschenk, nein, wie eine Reliquie entgegen, und dankte überschwänglich. Agapie sah mich mit einem ernsten Blick von der Seite an. 5 Es ist fast wie ein Krankheitsgefühl, ein Summen im Ohr, mich sozusagen aufgespart. Empfinden von Rekonvaleszenz, hier zu sein, hier, wo in dreißig Jahren täglich meine Gedanken krankhaft wie bei einer fernen Geliebten in diesem abwesenden Kinder-Haus gelebt hatten, Bilder im Kopf, Erinnerungen, nun wirklich hier sein, keine Vorstellungen nur, sich diese mit diesem Zimmer, der Diele, der Haustür, der Klinke, dem abgetretenen Mauervorsprung im Garten am Küchenfenster berührten, und immer wieder Szenen und Geschichten auslösten, Proust auf aktuelle, ganz verrückte Weise, Waise? Im „Baumgarten" etwa 1942: Links der Schlesakgroßvater, Dieter, Inge,Großmutter „ Mitzmother," Mutter, Gerd Summen, Erstaunen bei der Wider¬begegnung, jetzt, als ich das Tor öffnete, das gelbe Tor, wie niedrig es ist, alles kleiner als in meiner Erinnerung, vis-à-vis der lange Beton- und geflochtene Drahtzaun zum geheimnisvollen Filipescu-Garten, gleich daneben das hohe violette Haus des Dr. Filipescu, eines Arztes, man sah ihn nie, immer diese Stille, Verlassenheit des Gartens, das Haus, die Läden früher, wie jetzt auch, geschlossen... Ich ging die Holzmarktasse entlang zur ehemaligen Ecatarina Teodoroiu-Strasse, an der Ecke die Camera Agricola, auch sie früher Securitateunwesen, Schreie aus den Kellern,... ging die Straße in Richtung Burg, meinen ehemaligen Schulweg, dort das Heydlhaus mit der Scheune, wo wir Strohburgen, tiefe Gänge, Zimmer bauten. Gleich gegenüber das Fielkschlösschen, ja, mit dem Türmchen, wo Max, der Max mit dem Luftgewehr... oh, die Schwarze Wand... dem Flobertgewehr, gewohnt hatte, und diese tragische Liebesgeschichte mit dem deutschen Hauptmann, dem Meyer-Göring, und der Rosi passiert war, die sich vor den Russen versteckten, als die hier einmarschiert waren im September 1944, ja, Die Eingeschlossenen von Altona in Schäßburg, meiner Heimatstadt ... du altes Zuhause, Gott erhalt dech Scheesprich... Weder Hannah, noch Maria passen hierher in den Raum meiner Erinnerung... Und die Strasse dem Spital zu, ja, die Ecatarina Teodoroiu, da hatte doch der Fuge gewohnt, der Busenfreund mit seiner freundlichen rumänischen Mutter... da gab es Palukes mit Marmelade. Und wie oft waren mir da die Erinnerungen hochgekommen, auch jetzt noch, auch heute noch: und das späte Erstaunen, wie da in einem Zimmer und einer Küche, die Hütte ohne Bad und die Eltern und der Junge samt einer größeren Schwester hatten hausen können. Waschschüssel, Plumpsklo, und Unter dem Schopfen, der Garten angrenzend ans Sanatorium Haas, und das winzige Gärtchen mit den weißen Tabaksblumen, und am Brunnen, wo man Wasser holen musste, es gab keine Wasserleitung... Während wir, die „Reichen", das alles hatten, ein ganzes Haus mit Strom, Gas, Wasser, mehreren Bädern und mehreren WCs. Jetzt fand ich nur eine kalte abweisende Wand, die Augen sehn zwar diesen Zaun, wo einst der Rappe des deutschen Hauptmanns stand, aber ich sehe alles wie durch mattes Glas; der Rappe wiehert, der Bursche striegelt mit einer har¬ten ovalen Bürste den Pferderücken, der deutsche Offizier hebt mich aufs Pferd: ich reite; vier Jahre später zogen Russen durch die Gasse, ein Major kam ins Haus, Erschrecken, aber er verlangte nur weiße reine Leinwand, ein Flintenweib hatte geboren, die Nachgeburt, das Blut, da, auf einem der kleinen Panjewägen, Stroh, Klappern, endlose Kolonnen von Panjewägen, die durch die Albertstraße zogen, arm; bei den Deutschen waren es Panzer, waren es Kradfahrer gewesen, die rasten da die schnur¬gerade Straße entlang, berührten kaum den Boden, flogen, sagte Mutter, durch die Kindheitsstraße, wo der Kastanienbaum fehlt, jetzt ist die Staubstraße asphaltiert; keine Bilder kommen, nichts regt sich; sie kom¬men beim Wachliegen nachts, das Kissen am Kopf, weich, ein Tier, das alte Schlaftier, und der Rost der Eisenstäbe und Gitter der Laube, an der zarte hellviolette Klematis hochwuchs, rissiger Holztisch, sein Rund, diese rauhe Oberfläche an der Hand, sie kommt hoch, die Schaukel am Apfelbaum, niedere Äste im Beet, Astern, Löwenmaul gepflanzt nach der Schnur, Erd¬geruch dick, und weiße Engerlinge, die sich winden, am Kopf bräunlich wie Zacken Fresswerkzeuge, er wird mit der blitzenden Klinge der Schau¬fel halbiert, windet sich in der Furche des aufgegrabenen fettigen Beetes; wir lebten, wir waren da, Prickeln, die Angst im Bauch, in der Nase Schulbodengeruch, schwarz... Und in der Speisekammer der alte dimpige Geruch nach Mäusen, das Badezimmer... Und die Oma sagte: schön war, graulst tea net, menj Jang, Nor. antwortete ich, genau in diesem Zimmer! ...Blaue Tanne, rote Glaskugeln. Elfi, die Tote, erzählt. Mit ihr stehe ich vor einer Bahnschranke, dahinter Hügel, niedrige Häuser, ein Kreuz, Schanz¬graben, Katzenköpfe, Wiesen gelb von Primeln, diese Adjektive, Frühjahr, wie ein verkapptes Verb, Rauhreif, auch an den Telegrafenmasten, auf den Drähten, alles tropft ins Jenseits, und in den Türen auf der Gasse große Liebespaare. Dann diese Schranke, die sich hob, donnernd fuhr ein Last¬zug mit Panzern vorbei. Und wenn diese geschmeckten Bilder sich zusammentun, ists ein dichtes Netz von Gerüchen, und dann sind wir im Paradies, jaja, in der Kinder Zeit; aus der Badewanne steigt Dampf hoch, wie ganz am Anfang die Wolken sind des Herrgotts Bart, aber der glühende Badeofen aus Kupfer zischt, und hier werden Brüderchen und Schwesterchen von der Stiefmutter erstickt. Durch die Jalousienritzen kriecht in Scheiben die Lampe von der Gasse hereinm. Ich erwachte dann "wirklich", es war spät, ich rieb mir die Augen, war erstaunt hier zu sein im alten Herrenzimmer; wachte ich oder träumte ich? Nein, ich war da, ich ging ins Bad, duschte, und frühstückte; die netten Lehrer sind in der Schule; sie haben mir im "Speise¬zimmer" schön ge¬deckt. Damast. Ich bin "Ehrengast". Im Kühlschrank finde ich wie früher Butter und Milch. Ein Pferdewagen rollt eben vorbei. Und ich denke daran, dass sich kein Bogen schlagen läßt ins Vergangene, zu 1944 oder zu 1950, als wir hier wohnten. Der Abgrund unübersprungen: Nur Worte fal¬len mir ein, auch hier im "Speisezimmer". Gelber Kachelofen, der summt nicht wie früher, die Glas- und Schiebetüre zum Herrenzimmer ist offen, alles noch da, die Vorhänge, das Rauchereck, sogar das alte Spiegeltisch¬chen meiner Mutter, braun, an das ich fasse, als wollte ich so den `Durchbruch` erzwingen, die Zeit zusammenfallen lassen in einer Fin¬gerberührung, Kindermagie. Obwohl die Agapies, sich rührend be¬müht haben, alles so zu erhalten, wie es einmal war, weshalb eigentlich? - ist über allem eine fremde Schicht von Unerkennbarkeit, die Jahre, die At-mosphäre; es sind nicht nur die Nägel, von Securitateleuten, die einmal hier gewohnt haben, in das Furnier der Schiebetüre geschlagen, oder die Parketten, die von ihnen mit Linolöl eingelassen, nun schwarz wie ein Schulboden aussehen, nein, es liegt auch in mir selbst... "Zu Hause" in der Holzmarktgasse...? Frei, nicht in der Zelle? Ja, etwas hat sich in mir ver¬ändert: die Angstwand ist weg. Die gibt es nicht mehr. Diese Kluft, die¬ser Abgrund zu unserer Kindheit, die Folterer hier, die Securitate gibt es nicht mehr, im Kopf aber, ja, da ist sie noch, wie Mircea, Mircea, der arme Selbstmörder... Sowjethymne http://www.youtube.com/watch?v=HXFub4QS_A&feature=related Eine Woche nach Mirceas Verhaftung holten "SIE" auch mich. Das Verhör am Anfang, das Verhör. Du zitterst in den Worten. Du schreist. Ich weiß nichts, schreist du. Du weißt, brüllen sie dich an. Wir wissen es, dass du es weißt, red, du verdammtes Schwein! Wo ist dieses dreckige Buch, wo ist das Manuskript von Mircea? Er hat alles gestanden, er hat alles ge-sagt, wir wissen alles, hier... und der Knollengesichtige zieht eine Schub¬lade auf, hier, siehst du dieses Protokoll, da steht alles schwarz auf weiß: steht; bestätige es und du bist frei. Frei! Wo hast du es versteckt, dies Drecksmanuskript. Dein Freund ist längst dort, wohin er hingehört: du weißt, die Hölle, der Kanal, du, sein Komplize, du weißt. Die Hölle der Kanal. Du, sein Komplize, Staatsverrat, rede oder du darfst ihm Gesellschaft lei¬sten. Und so war es dann, auch ich kam für eine Zeit in diese Wahnsinns-Mühle der Securitate. Internationale: http://www.youtube.com/watch?v=A2EChX1QsPU Über diesen Graben sollte ich jetzt springen. Zu spät! "Normal" werden. Nein, eher ein Verlust des letzten Alibis, nicht leben zu können. Ein Emigrant in Pension. Soll ich wieder wie früher sehen können, riechen, als wäre sie mein, diese damals so jungen Sinne: Da, ein Stück blau Wand, alte Ölfarbe, oder ein ver¬gessenes grünes Fliegengitter am Fenster, die braune massive Eichentür, daran das Schild TRANSSILVANIA, Einzeldinge, Eindrücke strömen, Zeit noch, bekannt also, doch es bindet sich nichts, fällt aus dem Augen¬blick, Alltagsgefühl: heute. Nur die Namen sind da: Filipescu, der Nach¬bar, Kuales, der mit dem Wolfshund, Bellen nachts, Blumennamen: Kle-matis, die Laube, alles so schmeckbar, auf der Zunge des Gedächtnisses zergehts, macht glücklich? Die Namen allein sind geblieben, wecken wie die Gerüche starke Gefühle. Ich kann sie mitnehmen, ich brauche gar nicht hier zu sein! Diese Kluft läßt sich nie mehr überbrücken. Meine Erinne¬rung stammt aus einem andern Jahrhun¬dert, hier, meine Kindheit: Diktatu¬ren hatten den Zeitbruch und die Vernichtung der Wahrnehmung und der Fähigkeit glücklich zu sein durch Wachtürme und Stacheldraht wie in ei¬nem Indianerreservat erhalten, die Zeit mit Fahnen und Gewehren umstellt und so angehalten. Jetzt fließt sie wieder und alles verwirrt sich. Ein Ganzes der Erinnerung aber ist nicht möglich. Das Wesentliche der Vergangenheit verschließt sich, das Außergewöhnliche scheint nun verschwunden; was jetzt da ist, das Herrenzimmer, die Gasse, sind in eine fahle Normalität getaucht und wie verlassen, nur Trümmer, Relikte, - es ist wie eine Stadt nach einer Überschwemmung, da ragen die Reste aus dem Schlamm hervor. Wenn ich die Augen schließe, das Gedächtnis aufbricht, nah, wie ein Traum und unschuldig wie jedes vergessene Erleben... fällt mir dieser fade Geruch nach Maiglöckchen ein, die baumelten an einem Stiel, wie weiße zarte Träubchen, am Zaun entlang auf ihrem Beet neben der Laube, bis hin zum Kompost und den Abfalleimern in der Gartenecke zur Landwirt¬schaftskammer, Camera Agricola, vor der es mir grauste, wo aber damals die Familie Márgineanu wohnte, zwei Töchter und ein älterer Sohn; aber wenn ich die Augen öffne, und nicht ab sehe davon, ist nichts mehr da. Echo des Zeitbruches, jahrelang nur in der Phantasie. Durchbrach den Boden des Bewußtseins und es lag jahrelang irgendwo im Dunkeln. Furcht, es könnte durch diese Begegnung vernichtet werden. Weiterleben wäre dann unmöglich. Eine endlose innere Wüste. In der Speisekammer der alte dimpige Geruch nach Mäusen, das Badezimmer... Und dann die Nacht. Ein Pferdewagen rollt vorbei. Und ich denke daran, wie sich der Bogen schlagen ließe zu 1944 oder wenigstens zu 1950. Wann? Der Ab¬grund unübersprungen: Nur Worte fallen mir ein. Die Einsamkeit meiner Erinnerung wächst, je älter ich werde; nur das Buch ist freundlicher, der Zwischenraum, wo es niemanden gibt, durch mich noch spürbar. Wie es wirklich war, ist weniger wichtig. Aber die Hausfrau in meinem ehemaligen Elternhaus fand es sogar richtig, sich zu entschuldigen, dass es den Kupferofen nicht mehr gebe. Und dass die Tür zugemauert worden war, die Tür vom Schlaf- zum Badezimmer, dafür gebe es ja eine Türe aus der Küche ins Schlafzimmer. Sie zeigten mir die blaue Bemalung mit den goldenen Sternen in der Diele. Die ist geblieben, sagte Frau Agapie, die ist uns kostbar. Nur die Diele mußte abgetrennt werden vom Treppenhaus, das hinauf in die Mansarde führt, dort wohnt eine andere Partei, Partei? Worte sind Gefühle, manche machen Angst, ja, Parteien, anders besetzt?: das Haus ist geteilt. Wie das Gedächtnis, denke ich. Die netten Agapias lebten, so schien es mir in der Wüste meiner eigenen Empfindungen. Die Zeit also so lang abliegen lassen, unbewegt, bis sie sauer wird auch in den Gegenständen, einem unendlichen faden Warten? Oder gibt es die Aura nicht, verfaulte Zeit, auch in den Mauern, den Läden, den Stühlen schwingt nichts. Es nimmt mich nicht auf. Was heißt noch "zu Hause". Die Dinge sind kaputt, auf dem Weg zum Abfall, ihre Zeit ist vorbei, und keine neue? Ich erinnere mich noch, wie meine Eltern vor ihrer Ausreise nach Deutschland, gezwungen wurden, wieder in dieses alte Haus einzuziehen, es gab da ein Gesetz der Rückgabe, der halben Wiedergutmachung, immer wieder, als hätten die Machthaber den besten Instinkt, als hätten sie immer nur in der Angst vor dem Jahr 1989 gelebt, und das "Normale", um die Revolution zu vermeiden, unter Kontrolle wieder eingeführt! So hatten meine Eltern mit meinen beiden Geschwistern und deren Kindern hier in diesem Zimmer versucht, "wie früher", Weihnachten zu feiern; und das mit Michael Albert und der BERGGLOCKE Wenn tief im Tal erloschen sind am Weihnachtsbaum die Kerzen, und noch im Traum so manchem Kind die Freude pocht im Herzen, dann tönt voll Ernst, dann tönt voll Macht vom Berg die Glocke droben, um in der stillen heil'gen Nacht den Herrn, den Herrn zu loben. Foto Dieter Moyrer Es braust ihr Klang so feierlich, in Tönen lang gezogen, die wälzen über Wälder sich wie eines Meeres Wogen; sie braust ihr Lied so voll, so tief auf hoher Friedensstätte, wo schon so lang, so lange schlief manch' Herz im Hügelbette; sie braust ihr Lied den Toten dort in weiter, weiter Runde: „Auch oben an dem stillen Ort ist's Weihnacht", tönt die Kunde. Ach, Weihnacht, Weihnacht! Wer ein Kind, ein liebes dort begraben, trug Tannenäste, treu gesinnt, ihm als Erinn'rungsgaben. Er legte sie bei Tage sacht Aufs Bett ihm als Geschenke, zu zeigen, dass er sein gedacht und seiner fort gedenke. Und wessen Vater droben ruht, gedeckt von Schnee und Eise, und wer die Gattin, lieb und gut, vermisst in seinem Kreise: ihn ruft der Glocke Weiheklang ins Reich der Stillen oben; er fühlt auch seiner Liebe Drang in ihren Klang verwoben. Michael Albert (1836-1893) Stille Nacht: http://www.youtube.com/watch?v=WxrBhZvvSIQ Die Möbel, die Vorhänge, die Bilder, die Lieder waren die gleichen, sogar der Christ¬baumschmuck war der gleiche, und doch wirkte alles wie gestellt, wie eine arme Kulisse, erzählte meine Mutter, es gab eine untergründige Vernich¬tung, die uns und auch die Dinge so verändert hatte, dass sie wie gestorben erscheinen. Und wir, sind wir denn auch schon längst tot? Die Biographie dieses Hauses, und die seiner Menschen war brutal unterbrochen worden. Die Außenwelt ist im Verschwinden, hier findet das Modell des kleinen Untergangs statt. Und jene schöne alte Erinnerung, samt den Ge¬danken dazu mit ihrer Langsamkeit, ist für unsere abgemagerten Sinne zu schön: jetzt ist alles nur noch im Buch geborgen und zusammengeführt; die Wirklichkeit gibt es nicht mehr. Nur eines ist verändert: die Angstwand, sie gibt es nicht mehr, freilich dahinter dehnt sich ein im Vergessen wachsender Abgrund, und die¬sen Abgrund zur Kindheit sollte ich jetzt überspringen. Zu spät "normal" zu werden. Es war eher ein Verlust des letzten Alibis, nicht leben zu kön¬nen. Wohin nun mit der Exilfähigkeit, ohne ein ordentliches Exil mit Angsthintergründen, die daraus etwas Heroisches gemacht hatten, so dass man gut damit leben konnte, nicht-lebend. STARK DER VERLUST nach einer Heimkehr kaufst du das blaue Haus dort steht der Tote weint den Tau jetzt zu Beton zwei Autos überfahren ihn mein Junge du stotterst Die Wirklichkeit berührst du nie nach innen kommst du an der Bach ist grau die Brücken Nie zerstört du tauchst nicht zweimal in den selben Fluss Hier trennt das zweite Mal, brennt nicht, ist fahl im Nirgendwo, das meine Heimat ist, die Erde, die Vergessen macht mit meinen Jahren mißt. 23.6.90 ERZÄHLTES UND ERINNERTES TAGEBUCH . Die Stadt DER STUNDTURM Der Stundturm der rumänischen Stadt Sighișoara im Kreis Mureș ist eine der bekanntesten touristischen Sehenswürdigkeiten Siebenbürgens und wurde als hervorragendes Kulturdenkmal mit dem "Historischen Zentrum" - der sog. Burg, in das Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Altstadt - Stundturm (Mitte), Haus mit dem Hirschgeweih (rechts) Gasse zum Turm Die Torburg des Stundturm Stundturm Stadtseite zur Kokel Blick zum Uhrwerk (unterstadtseitig) Details am Uhrwerk, gerade findet ein Figurenwechsel statt Figuren des Uhrwerks Nicolae Ceaușescu vor dem Turm mit einer ihm gewidmeten Propaganda-Inschrift, um 1967 Lage [ Der Stundturm befindet sich auf der Ostseite des Burgberges, dem Schneiderturm (mit zweitem Burgtor) gegenüber. Benachbarte Wehrtürme sind der Gerberturm - südlich an der Ringmauer - beziehungsweise der Barbierturm im Norden folgend. Der Aufstieg zur Oberstadt erfolgt über die malerisch verwinkelte Gasse Strada Turnului, der Turm selbst steht bereits an der Piața Muzeului 1 und bildet seit dem Mittelalter die Verbindung zwischen den Arealen der Unterstadt und der Oberstadt. Aus wehrtechnischen Gründen biegt der Zugangsweg unmittelbar hinter dem Torturm um etwa 60 Grad nach links ab, daher blickt man beim Eintreten in diesen Teil des Torweges auf die Südfassade der 1492 bis 1515 erbauten Klosterkirche - heute als evangelische Stadtpfarrkirche genutzt. Das Josef-Haltrich-Lyzeum hat das westlich an den Stundturm angrenzende Wohngebäude erworben und zu einem Internat ausgebaut. Baugeschichte und Beschreibung Die Zufahrt zur Burg durch den Uhrturm war besonders stark befestigt und durch Tore geschützt. Das erste Tor befand sich unter dem Durchgangsgewölbe, unter dem heutigen Gebäude „Ciprian Porumbescu". Es war ein mit Eisenblechen beschlagenes Tor und verfügte über eine Schlupfpforte. Von da aus gelangte man in einen Vorhof, wo man von der majestätischen Größe des Turmes und von der Massigkeit des Wartturmes beeindruckt wurde, dessen mächtige Konsolsteine, Schießscharten und Pechnasen das zweite, innere Tor zieren. Der Zwinger - oder Innenhof - der anfangs mit Eichenbohlen bedeckt, später aber mit Flusssteinen gepflastert wurde, konnte mit den einst gebräuchlichen Waffen des 14. Jahrhunderts leicht verteidigt werden. Dieser Teil war in der Schusslinie für Armbrust, später Feuerwaffen von den Zinnen oder vom Gerberturm aus frei von Hindernissen. Auch das zweite Tor wurde durch massive, mit Eisenbolzen befestigten Eichenflügeltüren geschlossen. Ihm folgte das dritte, ein wenig nach links gewendete Tor. Es war in der Turmmauer eingebaut und verfügte über ein Fallgitter, das auf Rollen hochgezogen wurde und in vielen mittelalterlichen Burgen zum Standard der Torbefestigung gehörte. Auf der linken Seite des Eingangshofes befindet sich der sogenannte „Korridor der alten Damen", eine bedeckte Galerie, die erst 1780 erbaut wurde und den Weg im Winter erleichterte. Am Ende dieses Korridors befand sich die Kammer der Torwächter, die den Eingang bewachten. Auf der rechten Seite des Tores ist unter dem Turm eine kleine, in die Wand gehauene Zelle zu sehen. Man nimmt an, daß darin die bereits Verurteilten nochmals den Urteilsspruch anhören mussten und von dort den Weg zu ihrer Hinrichtung antraten. Der untere Teil des Uhrturmes wurde bereits im 14. Jahrhundert erbaut. Das Erdgeschoß besitzt den gleichen Aufbau wie sein auf der entgegengesetzten Seite der Burg befindlicher „Bruder" - der Schneiderturm. Die Wandstärke beträgt jeweils 2,35 m, die Mauerabschnitte der ersten beiden Stockwerke sind 1,30 m stark und wurden aus Steinen vom Flussbett gebaut.[1] Es ist bisher unbekannt, wie das Dach vor dem großen Brand vom 30. April 1676 ausgesehen haben könnte. Aus einer Rechnung ist überliefert, daß man 1618 „für 56 Gulden und 40 Dinare" am Turmdach renovierte und das Rathaus 1619 Musikinstrumente „im Werte von 12 Dukaten" angekauft hatte, damit die Blaskapelle dort an Feiertagen im fünften Stock des Turmes spielen könne. Seine gegenwärtige Form hat der Uhrturm 1677 erhalten, als auch die benachbarte Klosterkirche renoviert wurde. Als Baumeister und Handwerker wurden erfahrene Ausländer angeworben. „Es war ein glücklicher Zufall, daß gute Bauleute aus fremden und entfernten Ländern gerade rechtzeitig in die Burg gekommen waren" vermerkt ein Chronist (Georgius Kraus) später und nennt die Namen der eingewandernden Meister: Veit Gruber aus Tirol, Filip Bonge aus Salzburg und der Zimmermann Valentinus - auch Ausländer; diese bauten mit vielen einheimischen Hilfskräften den Turm und die Kirche vom März bis September 1677 für einen Lohn von 650 Gulden Bargeld. Zwischen der Kugel auf der Dachspitze und der „meteorologischen Säule", auf der ein Wetterhahn thront, wurde zeitweise auch ein Halbmond eingesetzt, dies galt als ein Symbol der osmanischen Oberherrschaft über die Stadt. Als 1704 der Aufstand der Kurutzen auch das Stadtgebiet erreichte, wurden Kugel und Hahn durch Musketenkugeln beschädigt. Erst 1774 - bei einer erneuten Reparatur am Turmdach - wurde der Halbmond durch den Doppeladler, „dessen Durchmesser eine Elle betrug", ersetzt - nun als Symbol der Habsburger Herrschaft über die Stadt. Erst 1894 war eine Generalreparatur des Turmes unvermeidlich; die einfachen Dachziegel des Turmes wurden, nach neuster Mode, durch weiße, gelbe, rote und grüne glasierte Ziegeln ersetzt; auf die linke Fassade, an der sich die Uhr befindet, wurden das Wappen der Stadt und die der sieben sächsischen Stühle aufgemalt[2]; an der rechten Fassade wurde eine lateinische Inschrift zur Feuersbrunst von 1676 und den erfolgten Renovierungen eingefügt. Die Inschrift lautet im Original: Chare posteritatis memoriae sit traditum, turrim hanc anno 1676 execrabile et luctuoso illo incendo valde destructam anno 1678 prima industria maiorum restauratum, dein anno 1774 horologio iam obliterato rcparato fuisse vindicatam, dein anno 1894 Herum reparatam. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden entbehrliche Gebäude in der Umgebung des Turmes abgerissen; der Platz um das Museum wurde erweitert und auf der Seite in Richtung der Burg wurde das gegenwärtige Internatsgebäude für das Joseph-Haltrich-Lyzeum errichtet. Literatur] Emil Giurgiu: Sighișoara / Schäßburg. Editura Sport-Turism, Bukarest 1985 (übersetzt von Maria Chistina Neagu), S. 148. Aurel Lupu, Kovacs György (et al): Județul Mureș. In: Județele Patriei. Monografie, Editura Sport-Turism, Bukarest 1980, Turismul, S. 271-272. V. Dragutz: Cetatea Sighișoara. Editura Meridiane, Bukarest 1969. Helmut Schröcke: Siebenbürgen. Menschen - Kirchenburgen - Städte. Mahnert-Lueg, München 1987, ISBN 3-922170-63-3, S. 135-141. Einzelnachweise ↑ Erkennbar an der gerundeteten Form der Steine. ↑ Durch anhaltende Verwitterung heute nur noch undeutlich zu erkennen. Weblinks UNESCO-Welterbestätten (in englisch) (Wikipedia)   HOG-Schäßburg / Siebenbürgen Der "Uhrendoktor" von Schäßburg Fritz Konrad, ein Tüftler aus Leidenschaft Schäßburg das heißt mittelalterliche Stadtburg, heißt fast einen Kilometer Ringmauer, mit noch neun von 14 Wehrtürmen, Bergkirche, Bergschule, gedeckte Holztreppe (auch Schülertreppe) und heißt auch Stundturm. Fritz Konrad. (Archivbild) Stundturm, das Wahrzeichen von Schäßburg, worunter der Eingeborene den einstigen südlichen „Torturm" versteht, ein herrliches Bauwerk mit dem schlanken, himmelwärtsstrebenden Dach und nicht zuletzt den vier Türmchen darauf als Zeichen der Stadtgerichtsbarkeit. Wer jedoch das einstige Stadtrathaus kennt, und das in seinen sieben Geschossen untergebrachte Geschichtemuseum gesehen hat, stellt sich unter Stundturm - der Turm der die Stunde anzeigt - schon etwas ganz anders Der Stundturm. (Foto: W. Lingner) vor. Da hört er im Geiste das bei jeder Stund sich wiederholende Glockenspiel und sieht die kunstreichen etwa 80 cm großen Holzfiguren, die die 7 Wochentage symbolisieren, oder sieht die beiden kleinen Engelsfiguren auf der Nordseite des Turmes, die, als noch 12 Stunden täglich gearbeitet wurde, immer um 6 Uhr und um 18 Uhr in Erscheinung traten und den Arbeitsbeginn bzw. Arbeitsschluss ankündigten. Oder da sind desgleichen auf der Nordseite, die beiden fast lebensgroßen Frauengestalten, in lange himmelblaue Gewänder gekleidet: Justitia mit den verbundenen Augen und dem Richtschwert in der Hand und die Gerechtigkeit mit einer Waage in der Rechten, auf deren Schalen die guten und schlechten Taten des zu Richtenden gelegt werden. Alle 30 Sekunden wenden sich die „Schicksalsgöttinnen" die Häupter zu und „sprechen" ein Urteil aus. Uhr mit Figurenwerk/Marktseite. (Foto: W. Lingner) Uhr mit Figurenwerk/Burgseite. (Foto: W. Lingner) In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts standen alle diese Figuren still. Ein Fritz Konrad musste kommen, um sie nach 80 Jahren wieder in Bewegung zu setzen, und dieses, wie es hieß, aus reiner Liebhaberei. Der Tüftler Konrad. (Archivbild) Fritz Konrad, der am 8. Februar 1903 in Schäßburg geboren wurde, ist nicht nur von ungefähr in den Stundturm gelangt. Schon Anfang der 30er Jahre wurde der als Elektriker ausgebildete, aber auch als Schlosser tätige Mann in den Stundturm gerufen, um nach dem Uhrwerk zu sehen. Als er 1964 in Rente ging „übernahm" er dann richtiggehend die Uhr, um dafür zu sorgen, dass sie dem Schäßburger immer die genaue Zeit angibt. Montag/Luna Dienstag/Mars Mittwoch/Mercur Donnerstag/Jupiter Freitag/Venus Samstag/Saturn Sonntag/Sol Nur eben begnügte sich der „Uhrendoktor", wie Fritz Konrad alsbald von seinen Landsleuten genannt werden sollte, nicht nur mit der Instandhaltung der Uhr, sondern begann erstrecht einem Hobby zu frönen, das heißt er begann, wie er es nannte zu „tüfteln". Schon als Instandhaltungselektriker in der Fayencefabrik hatte er immer schon herumgetüftelt und sich durch manche Neuerung einen Namen gemacht. Das gleiche in dem Maschinenbaubetrieb „Nicovala", wo er als Rentner halbtags „weiter" arbeitete, wo sein Wissen, seine Dienste desgleichen sehr gefragt waren, und von wo er erst mit 70 Jahren von dem Berufsleben Abschied nahm. Doch im Stundturm da lagen die Dinge schon anders. Da sind diese besagten Holzfiguren, die einmal lebendig waren, als noch ein anderes Uhrwerk im Stundturm stand. Denn früh schon zeigte die Stadtuhr die Stunde an, seit 1648 (!) auch die Viertelstunden. Der Erbauer dieser Uhr, Meister Johann Kirschel, stellte auch die Figuren zusammen. Durch den großen Brand 1676 wurde der Turm samt Glocken und Uhrwerk„desgleichen damals in Siebenbürgen nicht war", ein Raub der Flammen. Doch bereits ein Jahr später wurde der Turm wieder - von den Baumeistern Veit Gruber aus Tirol, Philipp Bonge aus Salzburg und dem Zimmermann Valentin - aufgebaut. Dass die Mechanismen der Figuren seit angeblich 80 Jahren nicht mehr „arbeiteten" ist wohl dem Umstand zuzuschreiben, dass das Uhrwerk inzwischen einige Male durch ein besseres ersetzt wurde. Das jetzige Uhrwerk stammt aus dem Jahr 1906, zählt demnach auch zu den „Oldtimern". Fritz Konrad stellte es sich zur Aufgabe, die Holzfiguren an den neuen Uhrenmechanismus anzuschließen, um sie in Bewegung zu setzen. Er musste viel, sehr viel herumtüfteln, um die bestmögliche Lösung zu finden. Die elementarsten Gesetze der Physik, wie Hebelgesetze, Übertragungen usw. gaben ihm die Lösungen. Er baute Mechanismen, Kupplungen, Transmissionen und Sicherungen, drehte Achsen, Rollen und Zahnräder, um die Figuren in Bewegung setzen zu können. Sein elektrotechnisches Wissen war gefragt und dann funktionierte wieder alles. Seit 1966 hatten die Schäßburger wieder eine intakte Stundturmuhr. Immer um Mitternacht, beim dritten Glockenschlag, setzt sich die, den abklingenden Tag symbolisierende Figur in Bewegung, um der nächsten Figur, dem nächsten Tag, den Stand zu überlassen. Beim 12-ten Schlag ist die „Wachablösung" beendet. Frau Luna, mit der Mondsichel auf dem Haupt, übergibt dem als römischer Krieger gekleideten Mars den Dienstag; dieser wiederum macht Merkur, dem Gott des Handels und der Medizin, wenn es Mittwoch wird den Platz frei. Und so lösen sich auch Jupiter mit dem Blitzstrahl in der Hand für Donnerstag, Venus für Freitag, Saturn für Samstag und die Sonnengöttin für Sonntag ab. Seit also der Uhrendoktor in den Stundturm eingezogen war, bewegten sich die Figuren wieder. Und selbst das Uhrwerk blieb nicht mehr stehen, wenn einmal ein Stromausfall war und das mit elektrischem Strom betriebene Selbstaufziehwerk ausfiel, denn Fritz Konrad hatte sich etwas einfallen lassen und eine Einrichtung geschaffen die dem Uhrwerk noch drei Stunden den Gang sicherte. Für „Publicity" hatte der unermüdlich arbeitende Mann nichts übrig. Ein Sahia-Film jedoch hatte ihn, den Tüftler aus Leidenschaft „verraten", sein Hobby publik gemacht. Die Folge war, dass die Präfektur der moldauischen Stadt Iasi an ihn herantrat mit der Bitte, ihnen ein Uhrenwerk in Betrieb zu setzen, das bei jeder vollen Stunde ein Singspiel mit der „Hora Unirii" auslöst. Fritz Konrad sen. und Fritz Konrad jun. fuhren nach Iasi und nach einem Monat harter Arbeit konnte das Singspiel eingeweiht werden. Es gab dann noch Aufträge aus Vinatori bei Schäßburg, Deutsch-Kreuz und Kreis Hermannstadt, wo ebenfalls Turmuhren zu reparieren waren. Der Stundturm blieb nach wie vor der Hauptbetätigungsbereich von Fritz Konrad. In seiner Gartenlaube, gewissermaßen der Heimwerkstatt, stand ein weiteres Werk, ein Kalender, der auf der Südseite des Stundturmes, unter den Figuren der Wochentage, seinen Platz bekommen sollte. Aus mir unbekannten Gründen wurde dieser Kalender, der den Monat mit römischen Zahlen und den Tag mit arabischen Zahlen angibt, nicht angebracht. Leider! Denn dieser Kalender sollte, laut Fritz Konrad, „...zumindest in Europa einmalig dastehen". Mit Hilfe eines komplizierten Programmierungsmechanismus konnte der Kalender ein Jahr hindurch ohne Unterbrechung funktionieren. Fritz Konrad übersiedelte im Januar 1976 nach Deutschland, wo er in Haar bei seiner Tochter ein neues Zuhause fand. Der Tatendrang des Uhrendoktors war zwar ungebrochen, aber wo ansetzen in Deutschland...? Er verstarb am 30.10.1976 in Haar. Nota: Die Stundturmuhr, einschließlich aller Figuren, steht zur Zeit wieder still. Fehlt da ein Fritz Konrad? Helwig Schumann (Untergruppenbach) Letztes Update: - Adresse dieser Seite: http://www.hog-schaessburg.de / http://www.schaessburg-net.de © 2000 by kdg DER DIALEKT SCHWǺCH Nor ån Echo Der Auszach Geschwärzt Chroniken Blänken aus Museen Vum Westen här Taischend en Lächt, gekangt Sannenandergång Riet/ Froazegt, Ferienfroad uch Zweehangdert Sorten Briet En Blätz, en Wulk Alz wer Natur Verfährt und det Lächt Ta menj half Uch Hiesch det Mother Lånd Wohär mår kaamen Vur fast tausend Johren Do kun mår wedder un Mät Grawstienen äm Gepäck. Schön dieses Mutter Land Woher wir kamen Vor fast tausend Jahren Dort kommen wir wieder an. Mit Grabsteinen im Gepäck. Um Alt, um Alt, um gielen Rien Das vollständige Gedicht von Viktor Kästner findet man hier. Weitere Siebenbürgisch-Sächsische Volkslieder Titel: "Et wor emol en reklich Med" im Midi-Format von Mathias Schaitz (Noten im Bildformat) Titel: "Af deser Ierd" im Midi-Format von Mathias Schaitz Titel: "Bäm Hontertstreoch" im Midi-Format von Mathias Schaitz Titel: "Bem olden Kirschbum" im Midi-Format von Mathias Schaitz Titel: "De Astern blähn insem" im Midi-Format von Mathias Schaitz Titel: "En klin weld Vijelchen" im Midi-Format von Josef Hoffmann, Dieter Lauer (Noten im Bildformat) Titel: "Äm Schaaser Tol" im Midi-Format von Josef Hoffmann, Dieter Lauer (Noten im Bildformat) Titel: "Brännchen um gräne Rin" im Midi-Format von Josef Hoffmann, Dieter Lauer (Noten im Bildformat) Siebenbürgen Lied: Siebenbürgen, Land des Segens Hymne: "Siebenbürgen, Land des Segens" (MP3-Audiodatei) gespielt vom Jugendsymphonieorchester Bruchsal unter der Leitung von Prof. Heinz Acker Audiodatei im Midi-Format von Mathias Schaitz. Noten im Bildformat. Video und Text: Siebenbürgen Lied Video: Siebenbürgen, Land des Segens Heimattag 2007: Siebenbürgen-Lied. Begleitung: „Siebenbürger Trachtenkapelle Gummersbach", Leitung: Heinrich Mantsch. Siebenbürgen, Land des Segens, Land der Fülle und der Kraft mit dem Gürtel der Karpathen um das grüne Kleid der Saaten, Land voll Gold und Rebensaft! Land voll Gold und Rebensaft! Siebenbürgen, Meeresboden einer längst verfloßnen Flut! Nun ein Meer von Ährenwogen, dessen Ufer waldumzogen an der Brust des Himmels ruht, an der Brust des Himmels ruht. Siebenbürgen, süße Heimat, unser teures Vaterland, sei gegrüßt in deiner Schöne, und um alle deine Söhne, schlinge sich der Eintracht Band, schlinge sich der Eintracht Band! Links zu Musik-Videos bei Youtube Ech bän eus Siwenberjen + Holt iist diet et am Harzen wie Nürnberg: Holt iist diet et am Harzen wie Stoht af vun er Soxen sägt Soxesch Kokesch Soxesch Rap Siebenbürgersächsisch(Eigenbezeichnung: Saksesch,rum.: săseşte, ung.: erdélyi szász, Landlerisch: Soksisch) ist die Sprache der Siebenbürger Sachsenim heutigen Rumänien. Das Siebenbürgisch-Sächsische ist eine überwiegend moselfränkisch geprägte Reliktmundart, teilweise auf dem Entwicklungsstand des Mittelhochdeutschen. Es ist eine der ältesten noch erhaltenen deutschen Kolonistensprachen, die ab dem 12. Jahrhundert als Ausgleichsdialekt verschiedenerMundarten entstand und viele mittelalterliche Formen und Idiome konserviert hat, wobei diewestmitteldeutschen Elemente deutlich überwiegen. Somit sind die nächstverwandten Dialekte dasRipuarische und dasLuxemburgisch. Durch den Kontakt mit Ungarn (Szeklern),Rumänen wurden über die Jahrhunderte auch teilweise Einflüsse aus diesen Sprachen aufgenommen. Stärkere Prägung jedoch hatte ab dem 16. Jahrhundert die Reformation und die Sprache der Lutherbibel, wodurch dasNeuhochdeutsche zur Schriftsprache derSiebenbürger Sachsen wurde. In der gesprochenen Sprache, den privaten Domänen, dominierte allerdings stets der siebenbürgisch-sächsische Dialekt, sowohl in den Dörfern Siebenbürgens als auch in den urbanen Zentren wie Kronstadt, Hermannstadt, Schäßburg undBistritz. Durch die Auswanderung aus Siebenbürgen während des Zweiten Weltkrieges und nach Ende des Kommunismus leben von den einst 250.000 (1910) heute nur noch um die 17.000 Siebenbürger Sachsen in Rumänien, die jedoch die Sprache in ihren verschiedenen Ortsmundarten noch als Muttersprache sprechen. In Deutschland, Österreich, Kanada und den USA wird das Sächsische von den Ausgewanderten teilweise noch zu Hause oder bei Treffen von siebenbürgersächsischen Kulturvereinen gesprochen, aber nur selten eine aktive Kompetenz an die zweite und dritte Generation weitergegeben, wodurch es durchaus zu den bedrohten Sprachen zu zählen ist. Siebenbürgersächsisch ist nicht zu verwechseln mit den Sprachen anderer deutscher Minderheiten in Rumänien, wie den Sathmarer- und Banater Schwaben, den Landlern und denBukowinadeutschen, die jeweils eine andere Geschichte und einen eigenen Dialekt oder Sprache haben. Entstehung und Name Das Siebenbürgersächsisch ist im Hochmittelalter als Ausgleichsdialekt verschiedener Siedlergruppen entstanden. Früher wurde in der Forschung vermutet, dass die Siebenbürger Sachsen in einer geschlossenen Einwanderung aus einer bestimmten deutschsprachigen Region gekommen sind, was jedoch widerlegt wurde. Dennoch spielte eine Siedlergruppe ausNiederlothringen die entscheidende Rolle bei der Ausformung der Sprache.[1] Diese stießen in Siebenbürgen auf bereits früher eingewanderte, aber weniger zahlreiche bairische undniederdeutsche Siedler. Man nimmt an, dass der Prozess der Sprachangleichung mehrere Generationen gedauert hat. Dabei passten sich die kleineren Siedlergruppen weitgehend denmoselfränkischen Sprachformen an, wodurch im Siebenbürgersächsisch eindeutig die westmitteldeutschen Formen dominieren. Genaue Aussagen zu diesem Angleichsprozess sind jedoch nur bedingt möglich, da nur wenige nicht-lateinische Texte überliefert sind. Der älteste Text in einer dem heutigen Siebenbürgersächsisch nahe stehende Form ist erst aus dem Barock überliefert. Darunter eine von Johannes Tröster stammende Beschreibung Siebenbürgens unter dem Titel Alt- und Neue-Teutsche Dacia welche Textbeispiele des Siebenbürgersächsisch enthält. [2] Ab dieser Zeit ist das Siebenbürgersächsisch gut dokumentiert, wenn gleich es später, besonders ab dem 19. Jahrhundert, in der Schrift weitgehend vom Neuhochdeutschen verdrängt wurde. Mit dem historischen Volk der Sachsen hat das Siebenbürgersächsisch also keine direkten Berührungspunkte, ebenso nicht mit den heutigen Bundesländern Sachsen und Sachsen-Anhalt, da die Kerngruppe aus dem fränkischsprachigen Niederlothringen stammte, also aus einer historischen Region die heute zwischen Deutschland, Luxemburg, Belgien und den Niederlanden aufgeteilt ist. Die Namensgebung leitet sich viel mehr vom lateinischen Saxones in alten ungarischen Urkunden ab, womit im Mittelalter alle deutschsprachigen Siedler gemeint waren (siehe auch Siebenbürger Sachsen). Die Eigenbezeichnung Saksesch ist ebenfalls erst in jüngerer Zeit entstanden. In den alten Bauerndialekten wurde die eigene Sprache einfach als detsch (deutsch) bezeichnet, während in Abgrenzung dazu das Deutsch der landfremden meist österreichischen Soldaten und Beamten in der Zeit als Siebenbürgen habsburgisch war moëseresch (soldatisch) genannt wurde. Charakteristika Auf Grund der historischen Siedlungsstruktur gliedert sich das Siebenbürgersächsisch in etwa 250 verschiedene Ortsdialekte. Die Siebenbürger Sachsen lebten nämlich nicht durchgehend in einem geschlossenen Siedlungsgebiet, sondern sächsische Siedlungen lagen neben ungarischen und rumänischen Orten und das nächste Sachsendorf lag oft einige Kilometer entfernt. Teilweise bestanden die Dörfer sogar aus zwei Ortsteilen, einem sächsischen und einem ungarischen oder einem sächsischen und einem rumänischen. So bildeten sich typische Ortsdialekte, die jedoch trotz Unterschiede in der Aussprache und im Vokabular gegenseitig weitestgehend verständlich waren (Mutual intelligibility). Größere regionale Unterschiede bestanden nur zwischen dem nördlichen Siedlungsgebiet imNösnerland (um Bistritz) und dem Reener Ländchen (um Sächsisch Regen) einerseits, sowie dem südlichen Gebiet um Hermannstadt und Mediasch, dem Burzenland (um Kronstadt), sowie demUnterwald andererseits, wobei die südlichen Varietäten die sprecherreicheren waren und sind. Aus diesem Grund gibt es auch neben dem allgemein gehaltenen Siebenbürgisch-sächsischen Wörterbuch auch noch das Nordsiebenbürgisch-sächsische Wörterbuch. Kennzeichnend für alle Dialekte sind allerdings folgende Merkmale: Entgegen den hochdeutschen Lautungen ist die Zweite Lautverschiebung im Siebenbürgersächsischen nur teilweise realisiert. Während es wie in den hochdeutschen Varitäten „Wasser" (niederl.: water), „naß" (niederl.: nat) und „Zekt" (Zeit, niederl.: tijd) heißt, weisen andere Wörter die unverschobenen Formen auf, etwa: "det", bzw. „dat" (hochdeutsch: das) und „wat" (was), „genet" (jenes), „e gadet" (ein gutes) und „täschen" (hdt.: zwischen; niederl.: tussen). In allen Mundarten ist das n und ch vor einem s verschwunden: „Gås" (Gans), „aser" (unser), „Fuß" (Fuchs), „Uëßelt" (Achsel). Entgegen der mittelhochdeutschen Primärumlautregel wird im Siebenbürgersächsischen durchgehen ein /e/ gesprochen: „mät (mit), „Gräs (Gras), „Däsch" (Tisch), „Fäsch" (Fisch), „mäschen (mischen). Wie das Moselfränkische bildet das Siebenbürgersächsisch Diphthonge, dort wo dasStandarddeutsche kurze Vokale hat: „Iësch (Asche), „wiëschen" (waschen), „riëchts (rechts) Stadtdialekte Während die ländlichen Ortsdialekte für Personen die nur eine standarddeutsche Sprachkompetenz haben weitgehend unverständlich sind, haben sich im 19. und 20. Jahrhundert in den größeren Städten moderatere Formen des Siebenbürgersächsisch gebildet, die sowohl in der Aussprache als auch im Vokabular standarddeutsche Elemente aufgenommen haben. Besonders das Hermannstädter und das Kronstädter Sächsisch galten hier als vorbildhaft und wurden deshalb auch für Gedichte, Literatur und Liedertexte verwendet. Diese Formen genossen ein hohes Prestige und wurden im Gegensatz zu Deutschland auch von bürgerlichen Kreisen und der gebildeten Schicht gesprochen, vergleichbar mit der Sprachsituation im Elsass, Luxemburg und der Schweiz. Dennoch hatten auch diese Stadtdialekte einen beträchtlichen linguistischen Abstand zum Standarddeutschen und es wurde scharf zwischen dem Siebenbürgersächsisch und dem Standarddeutsch unterschieden. Ein Gespräch wurde entweder in der einen Varietät oder in der anderen geführt, nicht aber auf einem Varietätenkontinuum hin- und hergewechselt, wie dies in Österreich und Bayern oft der Fall ist. Die Muttersprache war dabei für beinahe alle Sachsen der Dialekt während die Kinder das Hochdeutsche in der Schule erst wie eine Fremdsprache erlernen mussten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war es deshalb auch in der evangelischen Kirche, der die Sachsen mit großer Mehrheit angehören, üblich, Siebenbürgersächsisch zu predigen und zu singen. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Hochdeutsch als "Verkündigungssprache" eingeführt. Mehrsprachigkeit ] Neben dieser bereits zwischen Siebenbürgersächsisch und Hochdeutsch bestehenden Diglossiesituation, hatten und haben viele Siebenbürger Sachsen auch noch Kompetenz sowohl im Rumänischen als oft auch im Ungarischen. Diese Mehrsprachigkeit beschränkte sich auch nicht auf gebildete Kreise, denn fast jeder Sachse hatte direkten Umgang mit rumänisch- oder ungarischsprachigen Nachbarn, Arbeitskollegen, Handwerkern, Bauern und Händlern. Während bis 1918, als Siebenbürgen zur ungarischen Reichshälfte Österreich-Ungarns gehörte, klar Ungarisch die Sprache mit dem höheren Prestige war, so wurde dies danach immer mehr das Rumänische. Heute sprechen beinahe alle in Rumänien lebenden Siebenbürger Sachsen fließend Rumänisch, während die Ungarischkompetenz mittlerweile stark zurückgegangen ist und sich fast nur noch bei älteren oder hochbetagten Personen feststellen läßt. Allerdings ist teilweise ein deutliches Gefälle in der Rumänischkompetenz zwischen Menschen die noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges Rumänisch gelernt haben und denen die es später erlernten bzw. zwischen Personen auf Dörfern mit hohem Anteil von Siebenbürger Sachsen und denen aus Ortschaften mit kleinem Anteil deutschsprachiger Personen erkennbar. Kodifizierung ] Entgegen den meisten deutschen Regionalsprachen hat das Siebenbürgersächsisch eine standardisierte Kodifizierung, also ein eigene Rechtschreibung, die schon seit 1907 vom damals in Straßburg erschienen Siebenbürgisch-sächsisches Wörterbuch vorgegeben wird.[3] Diese Verschriftlichungsform ähnelt sehr der luxemburgischen Schreibweise, besonders was die Konventionen zur Verschriftlichung der unterschiedlichen Vokale und Diphthonge betrifft. Es ist eine unverbindliche Empfehlung an die Schreiber, die ihre persönliche Schreibweise noch an ihren jeweiligen Ortsdialekt anpassen können. Zum Zweck der einfacheren Lesbarkeit richten sich jedoch die meisten Publikationen auf Siebenbürgersächsisch nach dieser Rechtschreibung. Da in Luxemburg auch Lehrbücher zum Erlernen der Sprache herausgegeben werden, wird auf Grund der großen Ähnlichkeit der beiden Sprachen Personen die sich für das Siebenbürgersächsisch interessieren oft sogar empfohlen, die ersten Kenntnisse aus diesen luxemburgischen Büchern zu lernen, da es solche Lehrmaterialen für das Siebenbürgersächsisch nicht gibt. Die in den Wörterbuchartikeln aufgeführten Beispiele aus der Urkundensprache und die Belegsätze in der Mundart sind sprach- und kulturhistorisch von hohem Interesse. Teilweise werden sie auch als Dokumentation eines im Untergang begriffenen Dialekts betrachtet. Literatur auf Siebenbürgersächsisch ] Johann Seivert (1735-1785), aus Hammersdorf Viktor Kästner (1826-1857), aus Kerz Otto Piringer (1874-1950), aus Broos Oskar Pastior (1927-2006), aus Hermannstadt Weblinks und Sprachbeispiele ] Sprachbeispiel von Bernhard Capesius, über das Siebenbürgisch Sächsische Wörterbuch Hörprobe in Siebenbürgersächsisch (Mundart von Honigberg - Hărman) und Vergleich mit anderen Germanischen Sprachen SibiWeb: Die Sprache des siebenbürgisch-sächsischen Volkes (von Adolf Schullerus) Siebenbürgersachsen Baden-Württemberg: Die Mundart der Siebenbürger Sachsen (von Waltraut Schuller) Verband der Siebenbürgersachsen in Deutschland: Sprachaufnahmen in siebenbürgisch-sächsischer Mundart (Audiosamples) Einzelnachweise] ↑ Armbruster, Adolf, 1971: Zur Herkunftsgeschichte der Siebenbürger Sachsen. Forschungen zur Volks- und Landeskunde. Hrsg. von der Akademie der sozialen und politischen Wissenschaften der Sozialistischen Republik Rumänien. Bd. 14. Nr. 1. Bukarest, 98-115. (zitiert nach Waltraut Schuller) ↑ Siebenbürgische Zeitung: Papstgeschichte von 1667 für Gundelsheim ersteigert ↑ Sibiweb: Die Mundart der Siebenbürger Sachsen - Hilfen zu Rechtschreibung und Aussprache (von Udo-Jürgen Weber) Diese Seite wurde zuletzt am 25. August 2009 um 14:23 Uhr geändert. Wikipedia Der Text ist unter der Lizenz „Creative Commons Attribution/Share Alike" verfügbar; zusätzliche Bedingungen können anwendbar sein. Siehe die Nutzungsbedingungen für Einzelheiten. Siebenbürgisch-sächsisches Wörterbuch 1. Träger, Leitung Rumänische Akademie Bukarest Vorsitzender des wiss. Beirats: Prof. Dr. Dres. h. c. Siegfried Grosse (Universität Bochum) 2. Projektentwicklung Dem eigentlichen Wörterbuch liegen siebenbürgisch-sächsiche Wörterbuchproben und -vorarbeiten zugrunde (ab zweiter Hälfte des 19. Jhs.). Das von Johann Wolff (1844-1893) gesammelte Zettelmaterial (26 Mappen, die rund 10.000 Zettel enthalten) wird Adolf Schullerus (1864-1928) übergeben, der die folgende Wörterbucharbeit bis zu seinem Tod maßgebend bestimmt. Die einzelnen Buchstaben werden auf verschiedene Bearbeiter verteilt, so dass zwischen 1924 und 1931 die Buchstaben von A-F und R-Salarist bearbeitet sind. Nach dem Tod der Mitarbeiter folgt eine 40jährige Unterbrechung der Wörterbucharbeit. 1956 beginnt ein neues Stadium in der Wörterbuchgeschichte. Das Siebenbürgisch-sächsische Wörterbuch ist seit 1956 Gegenstand eines wissenschaftlichen Abkommens zwischen der Rumänischen Akademie Bukarest und der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, seit 1980 der Sächsischen Akademie zu Leipzig (Bundesrepublik Deutschland). Es wird im Rahmen des Forschungsinstituts für Geisteswissenschaften in Sibiu/Hermannstadt erarbeitet. Das Institut ist der Rumänischen Akademie unterstellt. Das Zettelarchiv des Wörterbuchs ist Eigentum der Rumänischen Akademie. 1957 übernimmt Prof. B. Capesius die Wörterbuchleitung, die Buchstaben G, H, I, J und K werden erarbeitet und zwischen 1971 und 1975 publiziert. 1973 geht Prof. Capesius in den Ruhestand und Anneliese Thudt übernimmt die Leitung des Wörterbuchs. Die Buchstaben L, M, N, O, P werden erarbeitet und liegen als Typoskripte vor. 1986 wird Anneliese Thudt pensioniert und Sigrid Haldenwang wird Leiterin des Wörterbuchs. Die Buchstaben Qu, R werden erarbeitet; 1993 wird Band L publiziert, 1998 Band M. Seit Anfang des Jahres 1996 wird das Wörterbuch finanziell durch ein von der Volkswagen-Stiftung (Bundesrepublik Deutschland) gefördertes Programm unterstützt, das den Aufbau der Germanistik an der Lucian-Blaga-Universität in Sibiu/Hermannstadt verfolgt. Das Wörterbuch ist als Teilprojekt miterfaßt. Die Förderung findet im Rahmen einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Universität Sibiu/Hermannstadt und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur statt. Die Wörterbucharbeit ist seit Anfang 1997, beginnend mit dem M-Typoskript, auf Computertechnik umgestellt worden. 3. Materialbasis Das im Laufe von etwa hundert Jahren von geschulten und ungeschulten freiwilligen Sammlern wie auch von einzelnen Bearbeitern zusammengetragene Wortschatzarchiv umfaßt heute etwa 2 Millionen Zettel. 4. Bearbeitungs-/Publikationsstand Band l (A-C, 851 Seiten, bearb. v. A. Schullerus) 1924; Band 2 (D-F, 548 Seiten, bearb. v. G. Keintzel, A. Schullerus, Fr. Hofstädter) 1926; Band 5 (R-Salariat [Alte Folge] 480 Seiten, bearb. v. J. Roth, G. Göckler, hg. v. Fr. Krauss) 1931; Band 3 (G, 355 Seiten, bearb. v. A. Biesselt-Müller, B. Capesius, A. Pankratz, G. Richter, A. Thudt) 1971; Band 4 (H-J, 413 Seiten, bearb. v. R. Braun-Santa, S. Haldenwang, G. Richter, A. Thudt) 1972; Band (K, 420 Seiten, bearb. v. R. Braun-Santa, S. Haldenwang, G. Richter, A. Thudt) 1975; Band 6 (L, 201 Seiten, bearb. v. S. Haldenwang, G. Richter, A. Thudt) 1993; Band 7 (M, 317 Seiten, bearb. v. S. Haldenwang, U. Maurer, A. Thudt [unter Mitarbeit v. M. Dengel u. I. Huber]) 1998; Band 8 (NOP) wird voraussichtlich 2001 publiziert. 5. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Seit 1990 gehören zum Wörterbuchteam: Sigrid Haldenwang (Arbeitsstellenleiterin seit 1986); Isolde Huber, Malvine Dengel. Ende 1998 scheidet Isolde Huber aus. 6. Ansprechpartner Dr. Sigrid Haldenwang Siebenbürgisch-sächsisches Wörterbuch Institut für Geisteswissenschaften strada: Lucian Balga 13 2400 Sibiu/Hermannstadt Rumänien Tel.: 004069/ 212604 e-mail: [email protected] Netzgestützte Informationen: http://www.gwdg.de/~mschlae2 7. Literatur B. CAPESIUS, Das Siebenbürgisch-sächsische Wörterbuch, Neue Literatur (Zeitschrift des Schriftstellerverbandes 1956-1985, Temeswar; ab 1959 Bukarest), 12 (1961), Heft 5, S. 121-126; B. CAPESIUS, Wesen und Werden des Siebenbürgisch-Sächsischen, in: Forschungen zur Volks- und Landeskunde 8 (1965), Heft 1, S. 5-27; S. HALDENWANG, Das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch innerhalb der deutschen Mundartforschung. Eigenheiten und Aufbau, in: Deutsche Sprache und Literatur in Südosteuropa. Archivierung und Bearbeitung. Beiträge der Tübinger Fachtagung vom 25.-27. Juni 1992. Hg. v. H. Fassel und A. Schwob, München 1966, S. 126-132; S. HALDENWANG, Sammlungen der Hermannstädter Wörterbuchstelle, in: Europäische Kulturlandschaft Siebenbürgen. Reflexion einer wissenschaftlichen Dokumentation (Kulturdenkmäler Siebenbürgens, Bd. 3). Hg. v. A. Schenk, Thaur bei Innsbruck 1995, S. 134-139; K. K. KLEIN, A. Schullerus und das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch, in: Transsylvanica, München 1963, S. 40-52; K. REIN, Der bairische Anteil am Siebenbürgisch-Sächsischen nach den Karten des Siebenbürgisch-Sächsischen Sprachatlasses, Südostdeutsches Archiv 6 (1963), S. 24-64; G. RICHTER - A. THUDT, Ergebnisse der mundartlichen Neuaufnahmen im Unterwald (südwestlicher Teil Südsiebenbürgens), Forschungen zur Volks- und Landeskunde 7 (1964), Heft 1, S. 91-108; G. RICHTER, B. Capesius - 80 Jahre alt, Forschungen zur Volks- und Landeskunde 13 (1970), Heft 1, S. 131-132; A. SCHULLERUS, Vorwort zu Band 1 des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs. Berlin - Leipzig 1924, S. IX-LXXII; vgl. auch Vorwort zum Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch, Bd. 3 (G). Bukarest - Berlin 1971, S. I-XIV; A. THUDT, Im Lichte der Sprache. 50 Jahre seit dem Tod des siebenbürgischen Volkskundlers A. Schullerus, in: Neuer Weg. Kulturbeilage (Bukarest 1966-1985) v. 1. Oktober 1977, S. 4. 8. Digitale Komponenten Software: word 7.0 Hardware: 586er/windows 95 9. Projektskizze Das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch will den Wortschatz der rund 250 siebenbürgisch-sächsischen Ortsmundarten in ihrer lautlichen, grammatikalischen und bedeutungsmäßigen Eigenart möglichst weitgehend erfassen und nach wissenschaftlichen Grundsätzen bearbeitet wiedergeben. Die Gestaltung des Wörterbuchs ist dementsprechend hauptsächlich auf Bedeutungsanalyse, lautlich-grammatikalische Fragen, Wortbildungsmuster und Synonymik ausgerichtet. Die Anordnung der Lemmata ist alphabetisch. Die Wörterbuchartikel bestehen grundsätzlich aus drei Teilen: dem Lautkopf mit sämtlichen belegten Lautformen, semantischer Gliederung mit Satzbeispielen, Aufzählung der Komposita. Synonymenhinweise schließen an die jeweiligen Bedeutungen an. Handelt es sich um Entlehnungen aus anderen Sprachen, meist dem Rumänischen und dem Ungarischen, wird am Ende des Wortartikels die Etymologie angegeben. Eine Besonderheit der Wörterbuchgestaltung bildet der Einbezug der siebenbürgischen Urkundensprache (von der Mitte des 13. Jhs. bis 1848). Diese Belege werden unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für den mundartlichen Einfluß auf die deutsche Schriftsprache in Siebenbürgen sowie für die Geschichte der deutschen Sprache gebracht. Das Wörterbuch belegt den Allgemeinwortschatz in allen bäuerlichen Lebensbereichen, es berücksichtigt die mundartliche Volks- und Kunstdichtung, erfaßt Sprichwörter, Rätsel und Kinderspiele sowie aus dem Rumänischen und Ungarischen übernommene Entlehnungen. Hinzu kommen von den Eigennamen alle toponomastischen Bezeichnungen im weitesten Sinne, aber keine Personennamen, außer solchen Vornamen, die zahlreiche lautliche Varianten aufweisen oder auch als Gattungsnamen auftreten. Das Wörterbuch, das eine im Untergang begriffene Mundart dokumentiert, ist auch für die binnendeutsche Mundartforschung von Interesse, da das Siebenbürgisch-Sächsische viele altertümliche Sprachzüge bewahrt hat, die binnendeutsche Mundarten nicht mehr belegen können. Damit ist das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch ein Nachschlagewerk für Sprachwissenschaftler, Volkskundler, Soziologen, Historiker und für alle, die an der Mundart dieser deutschen Sprachinsel interessiert sind. (S. Haldenwang, 1999) Heinrich Mantsch: 100 Jahre Siebenbürgisch-Sächsisches Wörterbuch 1908 veröffentlichte Adolf Schullerus (1864-1928), der große Gelehrte, Schulmann, Pfarrer, Bischofsvikar und Volksvertreter, die erste Lieferung des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs (SSWB) im Staßburger Karl Trübner Verlag. Es war der Anlauf zur Erstellung des wohl bedeutendsten, umfangreichsten Werkes der siebenbürgisch-sächsischen Sprachgeschichte. Niemand konnte anno 1908 ahnen, dass es nach 100 Jahren immer noch nicht abgeschlossen sein würde. Das SSWB ist das Werk mehrerer Generationen von Wissenschaftlern, Wortgutsammlern, Gutachtern, Chronisten, Dichtern und Schriftstellern sowie zahlreichen Gewährspersonen aus allen Teilen des siebenbürgisch-sächsischen Mundartgebietes, die Auskunft zur Aussprache, Wortbedeutung, zu Sitte und Brauchtum, Orts- und Flurnamen usw. geliefert haben. In gewissem Sinn kann man es als ein unvollendetes Gemeinschaftswerk der Siebenbürger Sachsen bezeichnen. Als Erklärung kann man verschiedene Gründe anführen. Sie alle widerspiegeln direkt oder mittelbar das Auf und Ab in der Geschichte eines so groß angelegten Werkes und lassen auf die vielen Rädchen und Räder schließen, die es in Bewegung setzen oder bremsen können, sei es im konzeptionellen, im methodologischen, administrativ-finanziellen oder verlegerischen „Getriebe". Sicher spielen auch die historisch-politischen Ereignisse eine Rolle, die seit dem Ersten Weltkrieg auch im siebenbürgischen „Land des Segens" tiefgreifende Veränderungen herbeigeführt haben, von deren Auswirkungen auch die Wörterbucharbeiten nicht verschont blieben. Erste Lieferung des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs, 1908.Der ersten Lieferung des Wörterbuchs hat A. Schullerus ein ausführliches Vorwort vorangestellt, wo er dessen Entstehungsgeschichte und die ihm zugrunde gelegte Darstellungsweise des Wortschatzes behandelt. Da findet sich auch der Hinweis auf die Anregung des deutschen Philosophen und Sprachwissenschaftlers Gottfried W. Leibniz (1646-1716), die Mundarten ebenfalls in den Kreis der Betrachtung bei den Studien zur deutschen Sprache zu ziehen und zu diesem Zweck Dialektwörterbücher zu erstellen, darunter auch ein Wörterbuch der siebenbürgisch-sächsischen Mundart. Dieses Leibniz-Desiderat fand in Siebenbürgen Gehör. Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts wurden mehrere, meist handschriftliche Sammlungen von mundartlichen Wörtern und Wendungen durchgeführt, die „einem fremden hochdeutschen Ausländer fremd vorkommen", wie das Martin Felmer formulierte (Vorwort, Seite XIV). Diese „altdeutschen und fremden" Wörter, sogenannte Idiotismen, die der neuhochdeutschen Schriftsprache abgehen oder bemerkenswerte Abweichungen von ihr aufweisen - z. B. Bakes (Backhaus), dälpich (schwül), bikich (störrisch, gekränkt, von Bika (Stier) abgeleitet, aus dem Ungarischen übernommen -, bilden in der Regel den Bestand solcher Sammlungen. Johann Wolff leistet wichtige Vorarbeit Um das Wörterbuch-Projekt in geordnetere Bahnen zu lenken, schaltete sich auch der „Verein für Siebenbürgische Landeskunde" ein und beauftragte Josef Haltrich (1822-1886), einen Plan zur Ausarbeitung eines Dialektwörterbuchs zu verfassen, den er 1865 veröffentlichte mit dem Aufruf zur Sammlung mundartlichen Wortguts. Der Aufruf fand nur wenig Widerhall. Einige Jahre später trat Haltrich von den lexikographischen Arbeiten zurück und übergab das eingegangene Wortmaterial an den philologisch gut ausgebildeten Johann Wolff (1844-1893). Er war der bedeutendste Mundartforscher seiner Generation und hat wichtige Vorarbeiten für das Wörterbuch geleistet. Er richtete den Blick immer aufs Ganze, sprach sich für die Verknüpfung des Sprachkörpers „mit den geschichtlichen und gesellschaftlichen Faktoren, die den Sprachinhalt bedingen", aus (Vorwort, S. XXVI). Auf seine Anregung wurde das Korrespondenzblatt des Vereins für Siebenbürgische Landeskunde ins Leben gerufen, wo neben wissenschaftlichen Aufsätzen und Vereinsnachrichten auch zahlreiche mundartbezogene Beiträge publiziert wurden. Wolff ging daran, alles im Druck erschienene bzw. handschriftlich gesammelte Wortgut zu verzetteln und so den Grundstein für die Wörterbucharbeiten zu legen. Wörterbuchmachen in schwerer Zeit: der Sprachwissenschaftler Dr. Fritz Holzträger in seinem Arbeitszimmer in Hermannstadt, aufgenommen von Erika Daniel (um 1950). Foto: Bildarchiv Konrad Klein Nach Wolffs frühem Tod übernahm der Landeskundeverein seinen Nachlass und übergab ihn an Adolf Schullerus, der dann bis zu seinem Tod als die „geistig führende Kraft" die Wörterbucharbeiten bestimmt hat. Es wurde eine Wörterbuchkommission gegründet, die zunächst weitere Wortschatzsammlungen aus der „lebenden Mundart" beschloss. Wichtiges Material steuerten auch die in der Zwischenzeit erschienenen Werke bei, z. B. von Roland Scheiner: „Die Mediascher Mundart" (1886), Georg Keintzel: „Nösner Idiotismen" (1897), Gustav Kisch: „Die Bistritzer Mundart verglichen mit der moselfränkischen" (1893), derselbe: „Nösner Wörter und Wendungen" (1900) u. a. Besonders die Untersuchungen von G. Kisch standen im Zeichen der Urheimatfrage. Mit Roland Scheiner (1864-1946) und Oskar Wittstock (1865-1931) arbeitete Schullerus Fragebögen aus, die sie ins Mundartgebiet verschickten und die in den Antworten neues Wortgut mit wichtigen Belegen beibrachten. Nach den Ordnungsarbeiten des eingegangenen Materials und nachdem man sich in der Wörterbuchkommission über prinzipielle Fragen und die Schreibweise geeinigt hatte, veröffentlichten Gustav Kisch (1869-1938), Georg Keintzel (1859-1925) und Adolf Schullerus Proben von Wortartikeln, von denen das Schullerus-Modell angenommen wurde. Daraufhin konnten die Grundsätze für die Wörterbucharbeiten festgelegt und die Veröffentlichung vom Ausschuss des Landeskundevereins beschlossen werden (Vorwort, S. XXXI). Es war vorgesehen, das Wörterbuch nicht als Idiotikon herauszubringen, wie Wolff es noch vorgeschlagen hatte, sondern als ein Werk, das den gesamten Wortschatz aufnimmt, soweit er im Sprachgebrauch der Mundartsprecher belegbar ist. Dazu gehören außer dem Wortschatz aus dem Neuhochdeutschen auch die Entlehnungen aus dem Ungarischen und Rumänischen, die das mundartliche Wortgut ergänzen. Wichtig war auch das Heranziehen der Urkundensprache, die zur Lösung der Urheimatfrage beitragen konnte. Daher wurde der Etymologie große Aufmerksamkeit geschenkt. Ein weiterer Beschlusspunkt war der hochdeutsche Ansatz der Stichwörter in alphabetischer Reihenfolge. Die Niederschrift der mundartlichen Belege sollte der Schriftsprache angenähert werden, worüber Schullerus selbst nicht glücklich war. Eine Lauttafel sollte in dieser Hinsicht Orientierung bringen. Sie enthält 144 nach Vokalen ausgewählte Wörter aus „51 typischen Ortsdialekten" des Mundartgebietes (Vorwort, S. XLII). Dass die Tafel keine echte Hilfe sein kann, das war auch Schullerus klar. Die einzelnen Buchstaben wurden auf verschiedene Bearbeiter aufgeteilt: Schullerus übernahm A-C und E, Keintzel D, Friedrich Hofstädter (1878-1925) F und S, Johann Roth (1842- 1923) R. Nach anfänglichem Schwung setzte sich die Veröffentlichung der Lieferungen nur mühsam fort, so dass der erste Band A-C erst 1924 und der zweite Band D-F 1926 erscheinen konnten. Roths Nachlass (R) erschien unter der Betreuung von Friedrich Krauß (1892-1978) und der von Hofstädter (S-Salarist) unter der Betreuung von Gustav Göckler (1890-1962) als fünfter Band (Alte Folge) 1931. Abbild des Volkslebens im Spiegel der Sprache Bekanntlich bedeutete das Wörterbuch für Schullerus nicht bloß eine buchhalterische Auflistung des siebenbürgisch-sächsischen Wortschatzes, für ihn war es ein Abbild des Volkslebens im Spiegel der Sprache. Wenn es „auch kein Kompendium der Volkskunde sein soll und eine geschichtlich aufgebaute, systematische Volkskundedarstellung nicht ersetzen kann, so darf doch der Lebensuntergrund in der Darstellung des Wortschatzes nicht fehlen. Erst durch die Beziehung zum wirklichen Leben, aus dem es geboren ist, erhält das Wort seinen genau bestimmten Inhalt" (Vorwort, S. XLIII). Diese Verknüpfung von Sprache und Volkskunde sowie kulturhistorischen Faktoren findet sich in ungezählten Wortartikeln. So erfährt man z. B. unter dem Zeitwort aufnehmen vom Brauch, wie am Hochzeitstag vor dem Kirchgang zur Trauung „in die Freundschaft (Verwandtschaft)" aufgenommen wird. Nach dem Begrüßungsessen ermahnt der Wortmann des Bräutigams die beiden „Freundschaften", sich zêm afniên aufzustellen, sodann tritt er hervor und „macht Worte" (hält eine Rede). Danach fordert der Wortmann der Braut alle auf, sich gegenseitig „aufzunehmen". Es beginnt der Bräutigam, der seine Braut bittet: Nem mich af zêm Gąttên, ech wäl dech uch afniên zêr Gąttan. All dê Dach, dä ês Gott dêr Härr schinkt, sellê mêr truiê zêsummên hąldên. Danach geht er zum künftigen Schwiegervater, zur Schwiegermutter, zu den anderen künftigen Anverwandten und wiederholt das Sprüchlein. In gleicher Weise geht auch die Braut vor. Dann nimmt sich die ganze „Freundschaft" gegenseitig auf. In anderen Ortschaften verläuft die Zeremonie wohl anders, aber mit dem gleichen Inhalt. Die ersten Lieferungen des Wörterbuchs wurden vor allem von der deutschen Fachwelt z. T. hochlobend begrüßt. So schreibt Hermann Teuchert: „Eine Quelle des Trostes für die Landsleute, ein Born reiner Freude für jeden Deutschen ist dieses Werk. Innige Liebe zur Heimat, tiefe Sehnsucht nach dem alten Stammlande, feines Verständnis für die Geschichte der Sprache ... machen das Buch zu einer wahrhaft erfreuenden, ja erhebenden Lektüre ..." (aus Karl Kurt Klein: „Transsylvanica", 1965, S. 41). Dr. Sigrid Haldenwang bearbeitet heute das Wörterbuch weiter. Foto: Beatrice UngarNach dem Tod von A. Schullerus gerieten die Arbeiten am Wörterbuch ins Stocken. Das gesteckte Ziel war nicht erreicht worden, hätte auch nicht erreicht werden können, weil es „allzuviel Aufgaben auf einmal lösen wollte", wie A. Scheiner sich ausdrückte (K. K. Klein, „Transsylvanica", S. 50). Für eine Wiederaufnahme der Redaktionsarbeiten mussten neue Voraussetzungen geschaffen werden. In einem Gutachten von 1933 sprach sich Bernhard Capesius (1889-1981) dafür aus, dass das Wörterbuch vor allem eine lexikographische Aufgabe zu erfüllen habe, was auch eine Reduzierung seiner Ausmaße bedeute. Unter den gegebenen Verhältnissen war es nicht mehr vertretbar, allein auf die ehrenamtliche Tätigkeit der Bearbeiter zu bauen. So beschloss der Landeskundeverein 1934, eine hauptamtliche Wörterbuchstelle einzurichten, die von Fritz Holzträger (1888-1970) besetzt wurde. Neue Maßnahmen sahen die Verzettelung der mundartlichen Kunstdichtung und der sonstigen, zwischenzeitlich erschienenen Mundarttexte vor. Holzträger schickte an die Lehrerschaft Fragebögen mit 380 Fragen, um den Archivbestand auszubauen. Die eingegangenen Antworten konnten aber nur teilweise verwertet werden (s. Vorwort zum 3. Band G, Bukarest und Berlin 1971, S. XI). Inzwischen hatte Friedrich Krauß mit der Ausarbeitung des Buchstabens G begonnen, gab den Auftrag aber bald wieder ab und widmete sich eigenen Forschungen. Holzträger übernahm dann selbst die Fertigstellung des Manuskriptes, das er in den Jahren 1945-1955 „in privater Arbeit, z. T. unter schwierigsten materiellen Bedingungen, erst seit 1955 als hauptamtlich angestellter wissenschaftlicher Mitarbeiter der Rumänischen Akademie abschloß" (Vorwort Band G, S. XII). 1955 begann „ein neues Stadium in der Geschichte des SSWB" (Vorwort Band G, S. XII). Es wurde durch ein Abkommen zwischen der Rumänischen Akademie und der Deutschen Akademie der Wissenschaften von Berlin (Ost) eingeleitet, das vorsah, dass die Bearbeitung und Drucklegung der künftigen Wörterbücher der siebenbürgisch-sächsischen Mundarten Aufgabe der rumänischen Seite, während die wissenschaftliche Revision der Manuskripte Aufgabe der deutschen Seite sein soll. Ein „Kollektiv" von Mitarbeitern unter dem Vorsitz von Fritz Holzträger nahm die Arbeit auf im Rahmen der „Sektion für Gesellschaftswissenschaften Hermannstadt der Zweigstelle Klausenburg der Akademie der Sozialistischen Republik Rumänien". Nach zwei Jahren trat Holzträger zurück - er kam mit den neuen ideologischen Gegebenheiten nicht zurecht - und B. Capesius übernahm den Vorsitz in der neu gegründeten Wörterbuchkommission. Mit der Durchführung der Revision wurde Helmut Protze (Leipzig) beauftragt. Zur Hauptaufgabe der Wörterbuchstelle zählte zunächst die Neubearbeitung des Buchstabens G. Nebenher galt es, den Zettelkatalog neu zu ordnen und neues Wortgut, das auch den „sozialistischen Aufbau" widerspiegelt, einzubringen. Das geschah auf zahlreichen Kundfahrten von Gisela Richter (1931-1998) und Anneliese Thudt durch Direktaufnahmen im gesamten Mundartgebiet. Weiteres Material wurde aus Urkunden sowie literarischen und wissenschaftlichen Werken gewonnen. Siebenbürgisch-Sächsisches Wörterbuch, Neunter Band, Q-R, 2006In Abstimmung mit allen Gremien und Kommissionen, die sich für das Wörterbuch verantwortlich fühlten, wurden neue Grundsätze erarbeitet, die für die künftige Bearbeitung der Wort- artikel maßgebend waren. Das Hauptanliegen war die sprachwissenschaftliche Deutung des Wortschatzes; auf die vielen Exkurse in die Kulturgeschichte und Volkskunde wurde verzichtet. In so manchen Punkten lehnen sich die neuen Grundsätze an jene der früheren Bände an, z. B. was den Umfang des aufzunehmenden Wortschatzes angeht - Alltags- und Berufssprache, Rätsel, Sprichwörter, Kindersprache, Eigennamen (Orts- und Flurnamen), Belege aus der Urkundensprache, mundartliche Dichtung u. a. - oder die Gliederung der Wortartikel wie auch den Ansatz der Stichwörter in schriftsprachlicher Form mit Beibehaltung der alphabetischen Reihenfolge. Die Satzbeispiele werden durchgängig datiert mit der Jahreszahl ihrer Aufzeichnung, was in früheren Bänden nur vereinzelt vorkommt. Eine wichtige Neuerung ist die Aufzeichnung aller mundartlichen Wörter und Satzbeispiele in einer zugänglichen phonetischen Umschrift, die sich, vor allem im Vokalsystem, an die hochdeutsche Lautung anlehnt. Eine weitere Neuerung ist der sogenannte Lautkopf. Er steht, mit I bezeichnet, gleich hinter dem Stichwort und enthält alle ermittelten mundartlichen Lautformen mit Angabe des Belegortes. Er gibt „einen Querschnitt von dem heute /1971/ in etwa 250 Gemeinden gesprochenen Dialekt" (Vorwort Band G, S. XIV). Es ist ein echtes Sprachdokument des Siebenbürgisch-Sächsischen, das aus vielen der aufgeführten Ortschaften bereits verschwunden ist. Die Etymologie der Stichwörter wurde auch neu geregelt, sie wurde nur dort angegeben, wo die Herkunft aus der neuhochdeutschen Schriftsprache nicht ohne weiteres erkennbar ist. Von einer in die Breite gehenden Auslegung wurde abgesehen. Und schließlich bieten die Beilagen eine gute Hilfe im Umgang mit dem Wörterbuch: Abkürzungsverzeichnis, Liste der Literaturangaben und der Lautschrift, Ortsnamenverzeichnisse in zweisprachiger Abfassung (deutsch und rumänisch). Eine Grundkarte, die alle Orte mit siebenbürgisch-sächsischer Mundart aufführt, bildet den Abschluss. Unter diesen Vorgaben sind nach dem G-Band (1971) drei weitere erschienen: Band 4 (H-J) 1972, Band 5 (K) 1975, Band 6 (L) 1993. Die große Lücke zwischen der Veröffentlichung des fünften zum sechsten Band ist darauf zurückzuführen, dass der Verlag Walter de Gruyter & Co. Berlin die Kooperation mit dem Akademie-Verlag Bukarest aufgekündigt hatte und der rumänischen Seite nichts daran lag, in eine neue Partnerschaft mit einem Verlag einzutreten, der den Vertrieb des Wörterbuchs im Westen durchführt. Erst nach der Wende kam die Partnerschaft mit dem Böhlau Verlag Köln u. a., sozusagen dem Haus-Verlag des Landeskundevereins, zustande, der den Vertrieb weltweit sicherstellen kann. Zu den Autoren der bis dahin erschienenen Bände zählen außer den bereits erwähnten B. Capesius, G. Richter, A. Thudt noch Annemarie Biesselt-Müller (Band 3), Arnold Pancratz (Band 3 und 4), Roswitha Braun-Santa (Band 4 und 5) und Sigrid Haldenwang (Band 5 und 6). Als wissenschaftliche Leiter zeichnen in Band 4 und 5 B. Capesius und Mihai Isbăşescu, Leiter der Germanistik-Abteilung am Linguistik-Institut in Bukarest. Diese Funktion war eingerichtet worden, weil die Wörterbuchstelle zeitweilig dem Bukarester Linguistik-Institut angegliedert worden war - wohl eine politische Maßnahme, die wissenschaftlich bedeutungslos war. Mit dem Erscheinen von Band 7 (M) 1998 wird wiederum „eine neue Etappe in der Geschichte dieses Nachschlagewerkes" eröffnet (Einleitung S. V). Nach der Wende in Rumänien von 1989/ 1990 wurde aus der „Sektion für Gesellschaftswissenschaften" das „Institut für Geisteswissenschaften der Rumänischen Akademie", dem die Wörterbuchstelle angeschlossen wurde. Es war jetzt auch möglich geworden, eine Zusammenarbeit mit binnendeutschen Institutionen einzugehen bzw. sie zu erweitern, u. a. mit dem Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde, dessen Vorgänger, der Verein für Siebenbürgische Landeskunde, bis August 1944 die Trägerschaft des SSWB ausübte. Ein wesentlicher Beitrag zur Unterstützung der Veröffentlichung des M-Bandes kam von einem Sponsor, der Volkswagen-Stiftung, über die Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz. Dank dieser Förderung konnte ein wissenschaftlicher Beirat ins Leben gerufen werden, dem namhafte Professoren deutscher Universitäten angehören. Eine bedeutende Neuerung, ebenfalls von der Volkswagen-Stiftung gefördert, war die Umstellung der Wörterbucharbeiten auf Computertechnik, die schon dadurch auffiel, dass das Schriftbild nicht mehr so gedrängt wirkte wie in den früheren Bänden (auf einer Seite 51 statt 65 Zeilen). Der M-Band wurde bereits in den 80er Jahren von den Autorinnen Sigrid Haldenwang, Ute Maurer und Anneliese Thudt ausgearbeitet, konnte aber erst 1998 veröffentlicht werden. Hier ist es angebracht zu erwähnen, dass Anneliese Thudt Mitte der 70er Jahre die Leitung der Wörterbuchstelle übernommen hatte. Als sie 1986, nach 30 verdienstvollen Jahren, in den Ruhestand ging, trat Sigrid Haldenwang ihre Stelle an, die sie, zum Wohle des Unternehmens SSWB, bis heute bekleidet. In den 80er Jahren wurde auch der achte Band (N-P) in Arbeit genommen, der 2002, gleichfalls durch die Förderung der Volkswagen-Stiftung über die Mainzer Akademie, erscheinen konnte. Zu den Bearbeitern gehörte, außer denen in Band 7 genannten, noch Stefan Sienerth. Nicht unerwähnt bleiben sollte die Mitarbeit von Alwine Dengel in Band 7 und 8 sowie die von Isolde Huber in Band 7. Ebenfalls Erwähnung verdient, dass Gisela Richter († 1998) und Helmut Protze für Band 7, Grete Klaster-Ungureanu für Band 8 die Gegenlesung der Manuskripte durchgeführt haben. Die ab dem G-Band eingeführte Darstellungsweise wird in den Bänden der „neuen Etappe" fortgesetzt, in mancher Hinsicht aber mit ergänzenden Konzepten versehen. Die beiden Manuskripte wurden mit neu gewonnenem Sprachgut bereichert, z. B. aus den verschiedenen Ortsmonographien, vor allem aber aus dem fünfbändigen „Nordsiebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch", bearbeitet von Gisela Richter, ab Band 3 unter Mitarbeit von Helga Feßler, aufgrund der nachgelassenen Sammlungen von Friedrich Krauß, Böhlau Verlag Köln, 1986-2006. Begrüßenswert ist auch die Wiederaufnahme der „Begleitinformationen", die in den Bänden 4-6 fehlen. Die einzelnen Listen und Verzeichnisse wurden neu geordnet und mit zusätzlichen Vermerken versehen. Die Neuerscheinungen werden ins Literaturverzeichnis aufgenommen und das Ortsnamenverzeichnis wird mit den ungarischen Bezeichnungen ergänzt. Neu gestaltet wurde auch der Lautkopf in der Weise, dass auf die Aneinanderreihung sämtlicher Lautvarianten des Stichwortes mit Ortsangabe verzichtet wurde zugunsten einer, wo möglich, gebietsbezogenen Erfassung der Lautformen (z. B. Kokelgebiet, Unterwald). Betrachten wir zum Abschluss dieses Überblicks den bislang letzten Band der „neuen Etappe" etwas näher: „Siebenbürgisch-Sächsisches Wörterbuch. Neunter Band: Buchstaben Q-R". Bearbeiter: Malwine Dengel (R), Sigrid Haldenwang (R), Isolde Huber (R), Ute Maurer (R), Stefan Sienerth (Q, R). Herausgegeben von der Rumänischen Akademie. Bucureşti: Editura Academiei Române, Köln u. a.: Böhlau Verlag 2006. LXXIV und 407 Seiten mit einer Grundkarte. In gewissem Sinn nimmt dieser Band eine Sonderstellung ein, denn es handelt sich „um eine Überarbeitung und Ergänzung eines schon erstellten Werkes, das in zwei Lieferungen erschienen ist", die von Johann Roth bearbeitet und von Friedrich Krauß ergänzt und herausgegeben worden sind. Die Lieferungen erschienen, wie erwähnt, 1931 zusammen mit dem von Friedrich Hofstädter bearbeiteten Anfang des S als fünfter Band (alte Folge; vgl. Vorwort von Sigrid Haldenwang, S. V). J. Roths Bearbeitung stand verständlicherweise im Zeichen des Schullerus-Musters, so dass die Autoren des neunten Bandes bemüht waren, die ursprüngliche Darstellungsweise der Wortartikel der neu orientierten anzugleichen. Man war bedacht, Roths „persönliche Note", wo es angebracht war, nicht außer Acht zu lassen (Vorwort, S. VI). Es war richtig, dass bei manchen Stichwörtern auch beschreibend auf Brauchtum, Kulturgeschichte, Volksglauben usw. eingegangen wurde. Stichwörter wie Recht, Richter, Rocken u. a. m. weisen das aus. So lesen wir z. B. im Wortartikel Rock unter 1. „... Oberbekleidungsstück für Männer", über die Art des Rocks: „... rōk ein weiter Mantel aus feiner, weißer Wolle, der umgehängt wird; gehört zur Stolzenburger Kirchentracht der Männer und älteren Burschen; wurde früher auch in Reußen beim Taufgang von den männlichen Taufzeugen und im Hochzeitszug vom Bräutigam getragen ..." (S. 254). Hervorzuheben ist auch in diesem Band die große Anzahl von Belegen mit Sprichwörtern, Rätseln, Reimen, Wendungen usw., für die sich in der Mundart mit ihrer Direktheit in der Benennung der Dinge, Ereignisse, Gefühle etc. mehr Ausdrucksmöglichkeiten bieten als in der Hochsprache, die vor allem für das Allgemeingültige zuständig ist. Zwei von vielen Beispielen: äs dêr miêrts hīsch uch drech, se mācht hiê dê gêbourên rech (Ist der März schön und trocken, so macht er die Bauern reich - Bauernregel, S. 136); dêr räkbrōdên äs mêr êruêf kun (Der Rückenbraten ist mir heruntergekommen - für Hexenschuss, S. 347). Gut vertreten ist auch die Urkundensprache. Die zahlreichen Belege dokumentieren nicht nur die Entwicklung der siebenbürgisch-deutschen Schriftsprache, in der sich wiederholt mundartliche Einflüsse bemerkbar machen (da stund herr rector an unserm geschetz - Zaun, S. 173), sie sind auch für die Geschichte der gesamtdeutschen Sprache von Bedeutung (vgl. unter richten z. B. die Bedeutungen „entrichten, bezahlen"; „in eine Körperschaft eintreten"; „hinrichten" (S. 200 f.). Es ist ein stattlicher, inhaltsreicher Band, der vor uns liegt, und die Einbeziehung der Erstausgabe in das gegenwärtige Muster ist gelungen. Von den Bearbeitern des neunten Bandes sind seit Anfang der 90er Jahre nur noch Dr. Sigrid Haldenwang und Malwine Dengel in der Hermannstädter Wörterbuchstelle tätig, die anderen sind ausgereist. Wie wird es weitergehen, wie viele Jahre wird man auf die 100 noch draufsatteln müssen, bis das SSWB abgeschlossen sein wird? Wir wünschen beiden Kraft und Ausdauer in der Ausarbeitung der folgenden Buchstaben. Heinrich Mantsch Hören Sie in dieser Mundartaufnahme von 1966 die Schilderung von Bernhard Capesius über die Arbeit am Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch. As saksesch Mottersproch Redewendungen 2 Ortsspezifische Redewendungenvon Schäßburg Der siebenbürgisch-sächsische Dialekt zeichnet sich durch Herzhaftigkeit, Unmittelbarkeit und Frische aus. Seine vielen umgangssprachlichen Wendungen, der Reichtum an Sprichwörtern, sprichwörtlichen Redensarten und bildhaften Vergleichen machen ihn zu einer echten "Volkssprache". Wenn wir sächsische Redewendungen näher untersuchen, werden Eigen-tümlichkeiten deutlich, die eine Klassifikation ermöglichen. So finden wir vorerst eine große Anzahl von Wendungen, die aus dem Hochdeutschen wörtlich oder leicht abgewandelt übernommen wurden, also nicht allein für unseren Dialekt charakteristisch sind. Zweitens gibt es Redensarten, die im gesamten siebenbürgisch-sächsischen Dialekt anzutreffen sind, also nicht bloß in einer bestimmten Ortsmundart. Interessant sind, drittens, Wendungen mit einem ausschließlich ortsüblichen und lokalspezifischen Umlauf. Weiterhin gibt es wie in der deutschen Sprache auch im siebenbürgisch-sächsischen Dialekt Wendungen, die nur in gewissen sozialen Gruppen oder Schichten gebraucht werden (berufsspezifische Wendungen, Jugendsprache, nur in bestimmten Familien gebräuchliche Wendungen u.a.). Schließlich kennt man auch Redewendungen, die nachweislich aus anderen Sprachen übernommen wurden. Es sind dies in Siebenbürgen insbesondere rumänische und ungarische Redensarten. Auch der Einfluss des Lateinischen, das früher in der Schule eine große Rolle spielte, ist manchmal noch präsent. Es gibt auch Redensarten, die aus Anekdoten, Schwänken u.ä. abgeleitet sind, bzw. auch solche, deren Autoren bekannt sind. Zumindest handelt es sich um Personen, denen gewisse Redensarten als Aussprüche zugeschrieben werden. Im vorliegenden Beitrag sollen nur Beispiele ortsüblicher und ortstypischer Wendungen aus Schäßburg besprochen werden. Um ihren Sinn und ihre Entstehung zu verstehen, ist es oft notwendig, sie dem heutigen Benützer oder Leser zu erklären: "mät dem Pierl tupen" (mit dem großen Holzhammer berühren, betupfen) ist ein Ausdruck für Herunterspielen. Ein Schäßburger soll bei seinem Prozess wegen Totschlags harmlos erklärt haben: "Ich håt en dich nor mät dem Pierl getupt". "Törle (oder terli) gohn" bedeutet Schule schwänzen, müßig gehen. Schulschwänzende Kinder sollen durch das Ringmauertor zwischen Fleischer- und Kürschnerturm ins Freie geschlüpft sein. Allerdings ist die Bezeichnung Törle als kleines Tor umstritten. Das Diminutiv auf -le ist für das Sächsische untypisch. Vielleicht kommt das Wort überhaupt aus dem Rumänischen: "târla" (Schafgatter). Ein Schafgatter war angeblich an dieser Stelle. Auch das Wort "Ternen" (Cornelkirsche) wurde als Erklärung in Erwägung gezogen. "ken Hermestådt fähren" heißt nichts weniger als ins Narrenhaus führen, denn im Schäßburger Spital gab es keine psychiatrische Abteilung und Geistesgestörte bzw. psychisch Kranke wurden nach Hermannstadt geschickt. "Strohschneider gohn" heißt Seil tanzen, balancieren. Nach den Auftritten in Siebenbürgen des österreichischen Seilakrobaten, Professor Alexander Strohschneider in den dreißiger Jahren entstand dieser Ausdruck. "ålt wä de Keakel": alt wie die Kokel. "bäs dån flesst noch vil Wåsser de Keakel owen" (bis dann fließt noch viel Wasser die Kokel hinab) - eine lange Zeit. "wä wonn der Schaaser iwer de Båch pespert" (wie wenn der Schaaser über den Bach flüstert) - also laut. "dorem werde mer et jo net åf de Schil schäcken" (darum werden wir es ja nicht auf die Schule schicken): eine Speise, ein Gebäck ist nicht so missraten, um auf die Schule geschickt zu werden, d.h. auf den Schulberg den weniger kritischen, dankbaren Schülern. "wonn ich enen lossen esi mess ich vierzich lossen" (wenn ich einen lasse, so muss ich vierzig lassen): Das soll die abschlägige Antwort des Schäßburger Gymnasialdirektors gewesen sein, als der Vater eines auswärtigen Schülers um die Erlaubnis bat, sein Junge solle zwei Tage vor Beginn der Ferien das Internat verlassen dürfen und nach Hause abgeholt werden. Die Redewendung bedeutet heute: es ist nicht möglich, um nicht ungerecht zu handeln. "Schkobate gohn (falsch auch: Spogate gohn)" Maifest auf der Breite feiern. Ursprünglich waren es Schülerausflüge, um Reisig für Besen zur Reinigung der Schule, die zu den Pflichten der Schüler gehörte, zu sammeln (scopa = lat. Besen). Daraus wurde dann ein allgemeines Schulfest, an dem sich die ganze Stadt beteiligte. Letztes Maifest fand 1939 statt. "hä äs noch vil Platz fuer de hescht Gejend" (hier ist noch viel Platz für die schönste Gegend) - sagt man über eine weniger schöne Landschaft. Der Ausspruch soll vom Schäßburger Original, dem Lehrer Vinzenz Brandt stammen. "sich det Mettåchesen åfwärmen" (sich das Mittagessen aufwärmen) - nach dem Essen in der Sonne liegen, ist angeblich ebenfalls ein Ausspruch von Vinzenz Brandt. "fuer dä äs det hoppla Schatzi uch schien verbä" (für die ist das hoppla Schatzi auch schon vorbei). Es ist ein Zitat aus einer Anekdote: Zwei Jungvermählte. Sie stolpert und er sagt zärtlich: "Hoppla Schatzi, host tea dir wihgedon" Nach einigen Jahren heißt es dann: "Hief de Fess, host tea nichen Ujen äm Hift" Die Wendung drückt die Vergänglichkeit der Liebe aus. "det in stiht fest, des Kea äs krånk" (das eine steht fest, diese Kuh ist krank) soll der beliebte Satz eines Tierarztes von Schäßburg gewesen sein und steht heute für: unzulängliche Diagnose oder auch nicht befriedigendes Gutachten. Außer nachweislich ortsspezifischen Wendungen gibt es auch Redensarten, die inhaltlich nicht ortstypisch sind, aber doch in Schäßburg entstanden und nur dort bekannt sind, andernorts aber nicht gebraucht werden. Sie sind als solche darum auch schwer zu identifizieren. So wie auch die Volkslieder nicht von einem abstrakten Volk, sondern von konkreten Personen geschaffen werden, so verhält es sich auch mit der Autorenschaft der Redewendungen. In Schäßburg war mir z.B. eine Frau bekannt, die zwar keine besondere Schulbildung hatte, doch mit einem gesunden Menschenverstand ausgestattet war und über ein riesiges Repertoire von Wendungen verfügte. Sie brachte im Gespräch spontan originelle Formulierungen in der Art von Redewendungen hervor. Ich habe oft solche Wendungen aus ihrem Munde in statu nascendi erlebt. Viele dieser Ausdrücke und Sprachschöpfungen sind sicher auch in den allgemeinen Sprachverkehr gelangt, andere wiederum gingen nach der Einmaligkeit der Gesprächssituation wieder verloren. Zuletzt sei noch eine ortsübliche Wendung nicht vergessen, die als solche überall bekannt ist: der Schäßburger Gruß. Interessant ist, dass der Text dieser Wendung auch eine Melodie hat, die vor allem gepfiffen wird. Wenn Schäßburger diesen Pfiff hören, sind sie wie elektrisiert und erkennen sich sofort überall in der Welt. Warum diese Wendung den Schäßburgern zugeschrieben wird, ist nicht geklärt, doch besteht sicher ein Zusammenhang mit ihrer herzhaften, saftstrotzenden Sprache. Walter Roth (Dortmund) Aufruf zur Spurensicherung: Solange die Sprache der Schäßburger noch lebendig gesprochen wird, wollen wir weitersammeln um zu ergänzen. Nicht nur dem Leser, sondern auch dem Sammler wird es Vergnügen und Freude bereiten, sich an liebe Menschen oder vergangene Situationen zu erinnern. Darum bitten wir, macht weiter so und bereichert unsere Rubrik " As Mottersproch" mit Ausdrücken und Redewendungen. Die Redaktion Aus:HOG-Schäßburg / Siebenbürgen As saksesch Mottersproch Kleiner Schäßburger Sprachführer Ein nützliches Handbuch von Gustav Schotsch (1940) für zugeroaste Mediascher, Hermannstädter, Kronstädter und andere Hergelaufene. Prof. Gustav Schotsch 1. Kapitel: Handelt von den unterschiedlichen Sprechweisen des Schäßburgers. Der Schäßburger beherrscht im allgemeinen vier Sprechweisen: Hochdeutsch, Katholischdeutsch, Gemeinsächsisch und Schäßburgerisch. Im letzten Falle ist seine Gruß- und sonstige Ausdrucksweise so eindeutig und unmissverständlich, dass sich jede Erläuterung erübrigt. In den andern Fällen jedoch ergeben sich bei dem Versuch einer Verständigung mit den Eingeborenen gewisse Schwierigkeiten, die zu beheben der Zweck dieses kleinen Ratgebers ist. 2. Kapitel: Lautlehre. Unter den Selbstlauten ergeben sich für Hergelaufene die größten Schwierigkeiten bei der Nachbildung des Lautes ea, z. B. in Keakel. Hier kann nur rastloses Üben zum Ziele führen. Man spreche immer wieder Wortgruppen wie "Dea verfleachter Heangd!" - Das dicke L ist hier womöglich noch dicker als sonstwo auf Sachsenboden. Wer den Ehrgeiz hat, es ganz tadellos nachzusprechen, muss dem Eingeborenen aufs Maul sehen und vor allem fleißig üben; doch hüte man sich hierbei vor Übertreibungen, da sonst infolge übermäßiger Inanspruchnahme des hinteren Gaumens leicht Brechreiz entsteht. Für kräftige Lautverbindungen wie: "tsch" hat der Schäßburger eine Vorliebe. So wird in seinem Munde alles Kurze kurtsch; ein Schotsch zum Tschotsch und die Schokolade zur Tschokolad: (Man hört in dieser Form geradezu das genießerische "Lutschen" des glücklichen Besitzers der Tschokolad heraus.) 3. Kapitel: Von den Wortarten Die Dingwörter sind teils männlich, z. B. der Eis, teils weiblich wie die Rahm, die Knoche, die Schinke, teils sächlich wie das Kukuruz und det Saal. Weiblich ist auch die Floh, Mehrzahl die Fleh; z. B. in dem aus der Zeit der Stimmviehbewirtschaftungen überlieferten klassischen Ausspruch: "Mer haben eso viel Salmiakwurst und Krodekes (Groserkäse) gefressen, dass mer uns die Fleh auf'm Bauch knicken kennten!" Der Mund ist in Schäßburg nie männlich, sondern teils sächlich: det Mel, det Schleifes, - teils weiblich: de Gosch, de Låpp, de Gåckes, de Brassel. Von unbestimmten Zahlwörtern sei erwähnt "mehr wieviel" und "e ketj"; z. B. "loß mich uch e ketj zurpen!" Der Begriff "nichts" wird meist umschrieben durch Ausdrücke wie: en Flur, e Peke, en Heangdsknifel, oder en Heangdspels. Das Verhältniswort "bei" auch mit dem Wenfall verbunden; z. B. "So e Rotzleffel und geht schon bei die Medcher!" Von dem Fürwort "Sie" lautet die besitzanzeigende Form "Inihr"; z. B.: "Inihre wilde Übergroß!" Hierher gehört auch die schöne Wendung: "Ihre welche, die was Kinder haben". Unter den Zeitwörtern nimmt "ziehen" eine hervorragende Stelle ein. Der Schäßburger geht nicht, er zieht baden; - er zieht in den Wald um Buretz. Er freut sich dann, wenn er im letzteren Falle einen, der sich schon früher aufgemacht hat, doch noch "erdehnt". - Offenbar von "ziehen" abgeleitet ist "Ziehgarr": "Hireh Seck, gämer en Ziehgarr!" Bekanntlich ist der Schäßburger von sehr gewinnendem Wesen: Er gewinnt nicht nur im Tarock und in der Lotterie, er gewinnt auch eine Schiwer aus dem Finger und das Bitschki oder das Budjilaar aus der Tasche. Was der Schäßburger macht, das macht er gründlich. Während andere Leute bloß hinfallen, überdreht er sich. Auch braucht er ziemlich viel Platz, um sich darin zu bedrehn. Das Zeitwort "schelten" fehlt in seinem Wortschatz; dafür wird man hier "zusammengeschimpft", was jedenfalls eine gründlichere Sache ist als das zahme Schelten. Es steht dafür ein reicher bodenständiger Wortschatz zur Verfügung, von dem "licht Fråtzen" oder "licht Stäck Flisch", dem "fele Maßleng", dem "Makalele", "Tockefläcker", "Goasentepp" und "Limhoken" bis zum "Schwenjsmogen", "Gåldjennogel" und "Bandariver"; oder von der "lichten Zadder", dem "Schoaselt", der "Fensterkräm" bis zur "Stränz" und dem "lichte Schämpes". Nötigenfalls wird auch der rumänische oder magarische Sprachschatz herangezogen, und der "Dracu" oder "Kutyafene" marschieren auf mit "bassamasta" oder "teremtete". Ich hatte einmal - es ist freilich schon lange her - Gelegenheit, einer besonders "tatterigen" Hausfrau zuzuhören, wie sie ihre szekler Dienstmagd einen halben Nachmittag lang "zusammenschimpfte", wobei sie sich bis zu der Feststellung verstieg: "Te jó vagysz az akasztófára!" (du bist reif für den Galgen!); das Unglücksmensch hatte nämlich einen Korondertopf (Preis zwei Kreuzer) zertrümmert. Man ersieht aus diesem Beispiel übrigens, dass die Schäßburger Hausfrauen noch eine fünfte Sprache beherrschen: Das Küchenmagharisch, eine Mischung von Szeklerisch und Sächsisch. Wir geben einige Proben: "Tedd a strimplit és a réklit a kasztenbe! Menj a fireinbe és hoz egy liter bort, de jere homor, ne áljál megint diskurálni a falumbelikkel, mer kitépem a czópodat! Oder: "manj, csinálaz ágyba ésfekete belé!" Ansätze zu einem Küchenrumänisch: Z.B.: "Pune bijeleisen la platen sa bejelim firhanjele! Doch kehren wir nach dieser Abschweifung zurück zu den Wortarten. Unter den Interjektionen oder Empfindungswörtern des waschechten Schäßburgers finden wir da "tjieha!" als Ausdruck der Bewunderung und "pieha!" als Ausdruck des Abscheus. Zustimmung wird durch "Ka" ausgedrückt; Ablehnung durch: "Ja deine Groß!" Überraschung äußert sich in "Jesses Thesi!", Enttäuschung wird mit "Na buck", Verlustmit "Adje Pepi" quittiert. Wer seine Thesi und diese Pepi eigentlich sind, konnte trotz vielfachen Nachfragens bis jetzt noch nicht festgestellt werden. Vermutlich gehören diese Frauenzimmer zur Sippe der ebenso rätselhaften Balegrieß. 4. Kapitel: Von den Sätzen Die Sätze sind teils Aussagesätze; z. B. "Ich bitt, Herr Lehrer, der Lutsch hat in Eeren gespuckt!"; teils Fragesätze wie: "Wor än Otch gihst te?" (Der Otch - Attich -, das bekannte Unkraut, wird hier wohl beschönigend gebraucht für ein klangverwandtes, aber nicht zum Pflanzenreich gehörendes Wort, das dem Schäßburger sehr geläufig ist). Man hört aber auch den Aufforderungs- und Begehrungssatz: "Gang än Dich!" (Unsere oben geäußerte Vermutung wird hiedurch sehr bekräftigt!) - Häufig ist zu hören: "Bis ruhig oder ich geb dir eine Pletsch, dass du dich überdrehst!" oder "- - dass du deine Üebergroß in Paradi schaust!" Häufig hört man auch die rhetorische Frage: "Kennst te de Bus?" Woran sich sofort ein hier nicht wiederzugebender Aufforderungssatz in ausgesprochenem Schäß-burgerisch anschließt. Auf die Frage: "Äm wefel äs et?" lautet eine beliebte Antwort: "Draviertel iwert Stuwenack!" Fragen nach dem Grund beginnen mit "um was?"; z. B. "Um was bist du eso grandig?" Antwort: "Um das!" Oder im Sächsischen: "Äm wat riedst te näst?" Antwort: "Nor!" - Begründende Nebensätze werden auch wohl mit dem Bindewort "damit" eingeleitet, z.B. in der Ablehnung einer von der Schulleitung verlangten Unterschrift: "Damit ich ein Schäßburger Birjer bin und mir von keinm Professor nix befellen laß." Letztes Update: 2004-01-20 - Adresse dieser Seite: http://www.hog-schaessburg.de/ / http://www.schaessburg-net.de/ © 2000 by kdg Der Schässburger Gruss, eine Aufforderung, die auch schon Götz von Berlichingen verwendete, lässt bei seiner Erwähnung alle Schässburger schmunzeln. Es war um die Jahrhundertwende in einer lauen Mainacht auf dem Kurfürstendamm in Berlin, als ein gutgekleideter junger Mann auf den diensthabenden Polizisten zutrat, höflich den Hut lüftete und ihm lächelnd den "Götz von Berlichingen" in der ganzen Welt so wohl bekannten Gruss entbot. Der Polizist, in seiner Beamtenehre tief verletzt, nahm ihn kurzerhand fest und brachte ihn auf die Wache. Vergebens behauptete dort der junge Mann, dass sein Gruss in keiner Weise beleidigend gewesen sein könnte, sei er doch in seiner Heimatstadt gang und gäbe. Er wurde eingelocht. Sicherheitshalber aber frug die Berliner Polizeidirektion in Schässburg an, ob die Behauptung des Delinquenten der Wahrheit entspräche. - Prompt traf folgende Antwort ein: Der Polizeidirektor der königlichen Freistadt Schässburg an das Polizeipräsidium Berlin. In Beantwortung Ihres werten Schreibens vom 17.Mai h.a. teilen wir Ihnen folgendes mit: Die von Herrn Fritz Markus gemachten Angaben entsprechen den Tatsachen. Der beanstandete Gruss wird in der hiesigen Bevölkerung mit Vorliebe gebraucht, weshalb er auch "Schässburger Gruss" heisst. Er wird vorzüglich bei folgenden Gelegenheiten angewendet: Wenn zwei Bekannte sich treffen Wenn Bekannte sich voneinander verabschieden Um einem anderen eine Besondere Sympathie auszudrücken, und Um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Der Polizeidirektor Reinhardt. So wurde der Schässburger Gruss weit über die Grenzen des Vaterlandes berühmt und damit auch Schässburg selbst. Anekdoten Über Brandte-Winz Ausgewählt von Walter Roth Der Gymnasialprofessor Gustav Schotsch, bekannt auch unter seinem Spitznamen Mythos, hat zahlreiche Anekdoten und humoristische Geschichten, die man sich in Schäßburg erzählte, gesammelt und aufgeschrieben. Er pflegte aus diesem Manuskript bei Richttagen oder aus anderen Anlässen, bei denen Humor gefragt war, vorzulesen. Daraus bringen wir hier Anekdoten über das Schäßburger Original, den Lehrer Vinzenz Brandt. Einige davon sind sicher vielen unserer Leser noch aus mündlicher Überlieferung bekannt. Wir haben Schotschs Erzählweise unverändert beibehalten. Die direkte Rede in den Texten ist meistens im Dialekt wiedergegeben. In Schäßburg war der Lehrer Winz bekannt durch seinen Mutterwitz und seine Schlagfertigkeit. Es war nicht ratsam, mit ihm anzubinden. Sein Kollege Schulleri, ein ziemlich geistloser, aber eitler Mensch, versuchte es trotzdem von Zeit zu Zeit, obwohl er sich jedesmal eine tüchtige Abfuhr holte. Als er ihm einmal im Kaffeehaus gegenübersaß, entdeckte er am Ellenbogen von Winz ein Loch. "Dea Winz, do kuckt denj Weishit eraus!" - "End denj Tummhit ännen!" kam es zurück. Ein andermal auf einem Waldfest, das mit einem tadellosen Frühschoppen begann, war Winz in besonders guter Laune, was sich auch darin äußerte, dass er mit mehreren jüngeren Leuten Bruderschaft trank. Da beschloss Schulleri, einen guten Witz zu machen. Er spannte den Esel vom Bierwagen aus, führte ihn zu Winz und fragte hohnlächelnd: "Wällt te dich net uch mät desem hä dutzen?" Darauf Winz nicht faul: "Te kast net verlangen, dat ich mich mät denjer ganzer Fränjdscheft dutzen." Winz mit seinem pockennarbigen Gesicht war kein schöner Mann. Schulleri glaubte es aber zu sein; mit seinen glatten, breiten, aufgedunsenen Wangen, über die einmal eine dicke Schäßburgerin gesagt hatte: "Die hott e Gefrieß, wä wonn ech em dråf gesesse wer." "Dea Winz", begann er wieder einmal, und sein Gesicht zog sich im Vorgefühl seines Triumpfes noch mehr in die Breite: "dea Winz, ech grålen änj, tea wirscht net än Hemmel kun; wonn der Petrus de Gesicht setj, platscht e der de Hemmelsdir vuer der Nos zea." Darauf Winz: "Wist te wä ech et måchen? Ich losse mer de Huesen owen end gohn årschlånjän, derno sprächt der Petrus bestämmt: Ah, kirschmerndäner, Herr Schulleri, ich bidden eränzespåtzären!" Noch ein zweites Mal spielte jener auf Winzens Gesichtshaut an mit der Frage: "Winz, zånjst tea der un denje råfflichen Båkkern net åldist en Zånjdhilzken un?" "Dåt kent ech jo", erwiderte Winz "bä dir awer wer dat gefehrlich. Det Strih än denjem Hift kent sich entzånjen." Einst hatte sich Schulleri einen Strohhut von ungewöhnlicher Form gekauft, mit dem ihn die Kollegen aufzogen. Geärgert kam er zu Winz: "Nå, so nea tea mer emol, stiht mer der Hot wärlich net geat?" "Ei jå", beruhigte ihn Winz, "wä wonn e der aus dem Hift erausgewoße wer!" Als einmal von der Seelenwanderung die Rede war, äußerte Schulleri, der Gedanke wäre ihm schrecklich, dass seine Seele nach dem Tod in ein Tier eingehn könne und er vielleicht gar als Esel weiterleben müßte. "Nå", tröstete ihn Winz, "iwer dåt net måch der Sårjen, de Natur wederhult sich net." Bei Gelegenheit eines Sängerfestes in Bistritz saß Winz mit einigen dortigen Bürgern zusammen. Als einer von diesen hörte, dass Winz Schäßburger sei, sagte er: "Aich hun ä Schasbrich en Verwandten, de Lihrer Schulleri." "Nå , et diht em näst", quittierte Winz diese Mitteilung. Nicht nur an Schulleri, auch an manchem anderen wetzte Winz gelegentlich sein loses Maul. Über einen Kollegen, der durch einen ungewöhnlich breiten Mund auffiel, sagte er: "Die kå sich än alle bide Ihren zeglech pespern." Und als der selbe in einer Versammlung einem Redner gespannt und mit offenem Munde zuhörte, rief ihm Winz zu: "Mach zea det Mel, et zecht!" Um eine Zeit wurde auch in Schäßburg ein Weingeistgegner-Verein gegründet. Dessen Mitglieder waren aber zum großen Teil nicht Säufer, sondern solche, die das Gelübde der Enthaltsamkeit gar nicht so nötig gehabt hätten, darunter auch meh-rere Frauen. Als Winz erfuhr, dass auch die Fritzi, ein altes Fräulein seiner Bekanntschaft, in den Verein eingetreten sei, schüttelte er den Kopf und sagte: "Ech wåßt net, dåt dåt ge-sofen hot." Einmal war Winz an einen Kollegen geraten, der ihm an Witz und Schlagfertigkeit gewachsen schien, und es gab ein für die Zuhörer ergötzliches Redegefecht. Zuletzt behielt aber doch Winz die Oberhand. Denn als der andere triumphierend ab-schließen wollte: "Siehst du Winz, mit mir ist es nicht ratsam anzubinden, mir fällt immer noch was ein", da trumpfte Winz: "Ja, du sahst mir auch immer so einfältig aus." Im Wirtshaus saß Winz gern mit guten Freunden zusammen. Einmal traf ihn dort sein Vater, ein auffallend kleines Männchen, der als Steuerbeamter von den Gaststätten die "Verzehrungssteuer" einhob. "Sätzt te schi weder äm Letjef?" redete er seinen Sohn an. Dieser aber entgegnete lächelnd: "Nå, Voter, dea ich esi kli vor wä Ir, geng ich uch noch net än't Letjef." Die Jugenderziehung machte Winz nicht gerade viel Freude, und das liebste an seinem Beruf waren ihm die langen Sommerferien. Beim Schuljahrsbeginn im September pflegte er seinen Direktor zu fragen: "Dea Sam, woni beku mer weder Vakanz?" - "Wåt måchst te än der Arevakanz de gånzen Dåch?" wurde er einmal gefragt. "Ich schmeiße Schaden!" war die Antwort. - Da traf er einmal in den Sommerferien mit einem sehr schlanken und mageren Kollegen zusammen. "Na wä giht et", fragte er ihn, "wåt måchst te noch?" "Nå, ich machen et wä tea än der Arevakanz, ich schmeiße Schaden." "Net dea griß", meinte darauf Winz, "dåt kåst tea jo gor net, un dir schengt jo de Sånn verbä." Den "Komitatsbeamten" der damaligen Zeit sagte man nach, dass sie sich in ihrem Beruf nicht überanstrengten und die Amtsstunden zum Teil verrauchten und verplauderten. Das hinderte aber manche von ihnen nicht, die Lehrer um die Muße ihrer Ernteferien zu beneiden. "Ir Schilmister hut et geat", äußerte einer zu Winz, "zwe Menet kennt ir äm Sommer åf der feller Heokt lån." "Wißt te wåt", erwiderte Winz, "e Schil-mister än der Arevakanz äs äng noch det rinst Påckroß ken en Komitatsbeåmten." Ein andermal geriet er mit einem gewesenen Reiteroffizier, der in Schäßburg im Ruhestand lebte, zusammen. Dieser war der Ansicht, die Lehrer mit ihren bloß dreißig Wochenstunden hätten einen zu leichten Beruf. "Wä ech noch äm Dänst wor", rühmte er sich, "såß ich än der Fräh äm sieß schien åf dem Roß end kam dohär net erof, bäs äm zwelf, end no weder än enem vun äm zwe bäs äm siwen, uch åldist noch lenger." "Nå geat", sagte darauf Winz, "hu Sä åwer äkest mät fåfzich Reßern åf ist ze dea gehot?" Mit der Pünktlichkeit in der Schule nahm Winz es nicht sehr genau. Als er eines Morgens wieder verspätet eintraf und sich unauffällig in seine Klasse verfügen wollte, stieß er auf dem Gang mit dem Direktor zusammen. "Gihst te weder emol ze spet än de Steangd?" redete ihn der Vorgesetzte in freundschaftlichem Vorwurf an. "Dåt macht näst," erklärte Winz mit spitzbübischem Lächeln, "ich kun derfuer e wenig fräher eraus!" In seinen jungen Jahren war Winz eine Zeit lang Dorfschul-lehrer. Da er noch unverheiratet war, im Dorf keine Mittagskost bekommen konnte und es ihm in der Regel zu dumm war, für sich selbst zu kochen, bestand seine Mahlzeit gewöhnlich aus kalter Küche, meist Speck und Brot. Als ihn in dieser Zeit einmal ein Kollege besuchte, fand er ihn - es war um die Mittagszeit - im Schulgarten im Grase liegen, wo er sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließ. "Nå tea host de Sånn gern", begrüßte ihn der Kollege, "te wirscht jo net fräsen bä desem hiesche Wädder?" "Nä, Kollega", antwortete Winz, "ech wärme mer nor me Mättåchämmes", und er schilderte ihm ohne Bitterkeit die Art seiner Beköstigung. "Åwer änj wirscht te jo net kålt eßen," wandte jener ein, "åldist wirscht te der jo uch en Hänkle broden; oder hältst tea der niche Ge-flijel?" "Ei jå," lachte Winz, "säch de Mäcken, dä hä erämfläjen dä se me gånz Geflijel." In seiner Dorfschulmeisterzeit hatte Winz einen Kollegen, der außer auf dem Gebiete der Jugenderziehung zeitweilig auch auf dem der Branntweinerzeugung mit Hingabe tätig war. Im Herbst, wenn in seinem Garten die Pflaumen geraten waren, brachte er nicht selten halbe Nächte am Braukessel zu, und wenn er dabei das erzeugte Getränk auch gründlich auf seine Güte geprüft und fleißig "gezerpelt" hatte, war nachher seine Lehrtätigkeit durch einen schweren Kopf etwas beeinträchtigt. An einem solchen Vormittag, während Winz Rechenstunde hielt, ging die Tür auf, und herein trat ein kleiner Junge aus der Nachbarklasse mit den Worten: "Ich bidden, as Herr Lihrer äs esi ställ." Winz ahnte etwas, ging mit dem Kleinen hinüber und fand dort richtig den Kollegen auf einem Katheder eingeschlafen in einer Wolke von Schnapsdunst. Als Winz ihn auf die Schulter klopfte, fuhr er erschrocken auf, griff sich an den Kopf und stammelte verlegen: "Åch, Kollega, ech - - ech bän esi - - nervös." "Mhm", flüsterte Winz, "em recht et." Winz hatte schon früh eine tüchtige Glatze. Als ihn jemand damit aufzog, erklärte er: "Chå, bä mir senj hålt de Hoor no äwennich gewoßen." Kurz nachdem in Schäßburg die Petroleumlampen der elek-trischen Straßenbeleuchtung hatten weichen müssen, erklärte Winz eines Abends auf die Frage seiner Hausfrau, wohin er gehe: "Die Lampenputzer feiern heute ihren Exitus, da muß ich doch hin!" Ein junger Kollege, der sich auf seinen akademischen Charakter viel einbildete, machte sich im Lehrkörper durch einhochnäsiges Wesen unbeliebt. Einmal stellte ihn Winz zur Rede: "Sä benieh sich jo hä, wä wo Sä älder were wä mir!" "Älder net, awer reifer", kam es selbst bewußt zurück. "Reifer were Sä?" trumpfte Winz, "ech dinken ih-dijer!" In Schäßburg wohnte Winz anfangs in einem sehr bescheidenen Kämmerlein im Kellergeschoss, dessen Fenster nur wenig höher als die Straße waren. Darüber äußerte er sich einmal: "Bä mir meß uch e Kokesch nederknän, wonn e mer zem Fenster eräkucken wäll." Winz war ewig in Geldnot. Als er einmal gegen Ende des Monats in der Buchhandlung stand, kam ein Bekannter herein und bat den Buchhändler, ihm einen Hundertkronenschein zu wechseln. "Wåt", verwunderte sich Winz, "tea wießelst äm des Zetj en Heangderder? Aserenner wiesselt äm des Zetj hechstens de Fårw." Es hieß, Winz beschäftige sich in freien Stunden mit allerlei physikalischen Versuchen. "Mir schengt, tea wällt en nå Masch¯in erfånjden", neckte ihn ein Freund. "Na frälich", antwortete Winz, "ent zwor esi in, wonn em af en Knup dräckt, kit der Irscht". Einmal hatte er sich einen Stock angeschafft, von dem er behauptete, er sei ihm etwas zu lang. Warum er ihn denn nicht kürzen lasse, wurde er von einem Kollegen gefragt. Es tue ihm leid um den schönen Griff, antwortete er. Ja aber, beeilte sich der Kollege in überlegenem Tone zu erklären, er brauche ihn ja bloß unten abschneiden zu lassen. "Unten", meinet Winz mit verschmitztem Lächeln, "unten paßt er mir ja, nur oben ist er mir zu lang." Auf einer Reise nach Budapest und der langen Fahrt durch die Pußta, zeigte er sich nicht sehr begeistert für deren poetischen Reiz. "Nå", sagte er, "hä äs jo Plåtz fuer vil hiesch Gejenden!" Im Musikvereinsorchester wirkte Winz als Geiger mit. Als er einmal ein schwieriges Stück mit ganzen Reihen von zweiunddreißigstel Noten einübte und mit diesen verdammten Läufen nicht zurande kam, riss ihm endlich die Geduld. "Nå wort, ech wäll dich bezwinentreissichsteln!" rief er aus, zückte den Bleistift, strich die Zweiunddreißigstel zu Sechzehnteln zusammen, und nun ging die Geschichte glatt. Einer seiner Bekannten, ein großer Nimrod, hatte ein Wildschwein erlegt und, auf die Leistung nicht wenig stolz, sich in voller Jagdausrüstung mit der Beute vor seinen Füßen photographieren lassen. Er zeigte auch Winz das Bild und fragte ihn, was er dazu sage. Dieser erklärte nach kurzem Bedenken: "Es liegt zu deinen Füßen, als wärs ein Stück von dir!" Als einmal Winz - mit dem vollen Namen Vinzenz Brandt - in fröhlicher Runde aufgefordert wurde, dem Beispiel mehrerer Zechgenossen zu folgen und auch eine Runde Bier zu stiften, weigerte er sich mit der Begründung, man könnte ihn dann wegen "Brandstiftung" gerichtlich belangen. As saksesch Mottersproch Ergänzung Siebenbürgisch-sächsische Sprichwörter Der siebenbürgisch-sächsische Dialekt und insbesondere die Schäßburger Mundart ist reich an bildhaften, formelhaften Redensarten, Vergleichen und sprichwörtlichen Redewendungen. Diese Anschaulichkeit gibt der Sprache Kraft, Frische, Lebendigkeit und Farbigkeit, ja Poesie. Sie ist ein Kennzeichen des Siebenbürgisch-Sächsischen. Altüberlieferte Weisheit, Humor und Satire, oft auch Derbheit sprechen aus diesen sinnlich-konkreten Ausdrücken der sächsischen Volkssprache. "Dieser Vorrat überlieferter Redensarten bildet den eigentlichen Geist, Gehalt und Reichtum, das eigentliche innerste Leben der Sprache" - sagt Rudolf Hildebrand. Und Karl Simrock meint über die außerordentliche Vielfalt der Sprichwörter: "... alle ... aufzuschreiben (ist), so wenig möglich als die Sterne zu zählen oder die See auszuschöpfen..." Sprichwörter sind feste Satzkonstruktionen mit lehrhafter Tendenz, die sich auf das praktische Leben bezieht. Sie werden als Mikrotext "zitiert" (1), z. B. "Bäs det Gras wiest, äs der Hoast krepiert," "Spass gewännt e Loch". Aus Sprichwörtern können sich phraseologische Wendungen entwickeln. So ist z. B. die Wendung "Se hun noch näkest gedielt" aus dem Sprichwort "Bäm Dielen dielt em zeklich uch de Frängdscheft" hervorgegangen. Selten im Siebenbürgisch-Sächsischen ist das sog. Sagwort als Sonderform des Sprichwortes. Im Sagwort wird eine Handlung oder ein Erlebnis mitgeteilt, zu dem ein gesprochenes Wort wiedergegeben wird. Es kommt dabei zu einem überraschenden, witzigen Ergebnis (1), z. B. "Et äs ålles en Iwergång, sot der Fus, wä em der Kierschner det Fel iwer de Ihren zuch." Sprichwörtliche Redensarten sind volkstümliche, bildliche Wendungen, deren bildliche Motivation heute aber oft nicht mehr durchschaut wird und denen in der Regel das Lehrhafte fehlt (1), z. B. "Gestånk fuer Dånk", "De Bang hot e Loch". Die Sprichwörter waren schon alt, als sie das erste Mal gesammelt und gedruckt wurden. 1529 gab Johannes Agricola die erste deutschsprachige Sammlung heraus. 1541 folgte die bis heute wichtige 7000 Sprichwörter enthaltende von Sebastian Franck. Im 19. Jahrhundert kam es in Europa zu einer wahren Flut von Sprichwörtersammlungen. Von besonderem Wert für das deutsche Sprachgebiet sind die Sprichwörtersammlungen von Wilhelm Körte ("Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Deutschen," 1837), Josua Eislein ("Die Sprichwörter und Sinnreden des deutschen Volkes in alter und neuer Zeit", 1840) und Karl Simrock ("Die deutschen Sprichwörter", 1846). Wissenschaftlich interessant ist die komparatistische Sammlung von Ida v. Düringsfeld "Das Sprichwort als Kosmopolit", 1866 (2). Hier werden deutsche Sprichwörter mit Entsprechungen aus zahlreichen europäischen und außereuropäischen Sprachen und Dialekten verglichen. Das Siebenbürgisch-Sächsische ist leider nicht vertreten. Karl Friedrich Wilhelm Wander gab zwischen 1867 und 1880 in fünf großen Bänden ein über 250.000 Einträge umfassende "Deutsches Sprichwörterlexikon" heraus. Heute gibt es eine spezialisierte Wissenschaftsdisziplin die Sprichwörterkunde (Parömologie). In Siebenbürgen sammelte Josef Haltrich "Sprichwörter, sprichwörtliche Redensarten, formelhafte Ausdrucksweisen, Interjektionen und Rätsel" (4). Im Sächsischen werden natürlich auch zahlreiche Sprichwörter gebraucht, die aus der deutschen Hochsprache übernommen wurden. Bei den eigenen Sprichwörtern lassen sich manchmal Einflüsse rumänischer und ungarischer Sprichwörter feststellen, z. B. "E schärrt de Kuelen äm seng Däpen" - sprichwörtliche Redensart, aus dem Rumänischen; "Mät Firzen gälft em nichen Oar" (Ungarisch). Leider werden heute Sprichwörter in der Alltagssprache nicht so häufig gebraucht wie einst. Viele Sprichwörter sind nur noch in Sammlungen zu finden und sind nicht mehr aktiv im Sprachgebrauch - ein "Bildverlust" des Siebenbürgisch-Sächsischen. Es folgt ein Strauß typisch sächsischer Sprichwörter. Die Mehrzahl sind Haltrichs Sammlung entnommen, einige aus der eigenen Erinnerung aufgezeichnet: "Um Åingd platscht de Gissel", "Elend spånn de Giess un"; "Den Teiwel mess em net lihren Kängder ze erwerjen"; "Der Heangd måcht engden åf den däcksten Tupes"; "En licht Åkes verleist em net"; "Wi än de Wede sätzt kå leicht Flure schneden"; "Wat em mät dem Mel erhålde keun, terf em net mät den Haingden erårbeden; "Ihr äs mit w Båflisch (åwer Ihr uch Båflisch schot net"; "Aus der Kroh wird nichen Dauf"; "In Kroh päckt der ånderen net de Ujen aus"; "Ålt Scheiren brän um ärchsten"; "De geat Geter säkt em äm Staul"; "Aus dem Heangd måcht em nichen Båflisch"; "Dåt äs en Blåingder uch se Kniecht"; "Kleach schwejen äs schwerer wä kleach rieden"; "No'm Ren breocht em nichen Månkel"; "Wåt spätz ufet, hirt ståmpich åf"; "Tschorlt et net esi trept et doch"; "De ålt Schajen schmeist em net ewech, bäs em de noaen net versakt hot". In einer späteren Folge sollen die viel häufiger im Sprachgebrauch vorkommenden sprichwörtlichen Redensarten und formelhaften Ausdrucksweisen im Siebenbürgisch-Sächsischen zu Wort kommen. Walter Roth (Dortmund) Literatur 1. Deutsche Sprache. Kleine Enzyklopädie. VEB Bibliographisches Institut, Leipzig, 1983. 2. v. Düringsfeld, Ida, Das Sprichwort als Kosmopolit. H. Fries Verl., Leipzig, 1866. Reprint 2004, G. Olms Verl., Hildesheim, Zürich, New York. 3. Fritz, Karl August, Das große illustrierte Buch der Sprichwörter und Spruchweisheiten. Parkland Verl., Köln, 2003. 4. Haltrich, Josef, Zur Volkskunde der Siebenbürger Sachsen. Kleinere Schriften. In neuer Bearbeitung herausgegeben von J. Wolff. Carl Graeser Verl., Wien, 1885. III HERZLANDSCHAFTEN   GLÖCKNERS MOOR IM VORFRÜHLING Die Erde wächst. In der Schilfflöte zittert der Wind. Hier glüht noch immer die Frühlingslampe, mein Herz, es zerbricht im Zink der Kokel das Eis, unter der Weide springt in die Stille der Weißfisch. Auf der Sandbank knirscht schon sommerdurstig die Vogelspur. Im Kuckuck ruft vergangene Zeit. Det Frähjohr http://www.youtube.com/watch?v=zS0TiMDAN4E&feature=related   GLÖCKNERS MOOR ÄM VURFRÄHJOHR De Ierd wiest. Äm Schilfflierchen zeddert der Wänjd. Häh gläht noch änjden De Frähjohrslamp, meinj Herz, et zerbrächt äm Zänk der Keakel det Eis, und angder den Wegden sproanjt der Weissfäsch. Af der Sandbank knerschelt schien Sommerdurschtich de Vijelspur. Äm Kuckuck reft vergangen de Zegt. DE KEAKEL. DIE KOKEL Schespurch ob der Kukel ... Zur umstrittenen Etymologie zweier siebenbürgischer Namen Wenn man sich etwas eingehender, vor allem aber unvoreingenommen mit Teilbereichen siebenbürgisch-sächsischer Forschungsgeschichte befaßt, wie etwa jenen der Herkunftsforschung oder der Namenforschung, trifft man zuweilen auch auf sog. Petrefakte. Der Geologe versteht darunter nichts anderes, als über einen längeren Zeitraum entstandene Versteinerungen organischen Materials. Diese wirken auf den Betrachter im allgemeinen überzeugend, ja manchmal beeindruckend, jedenfalls wird in den seltensten Fällen die Echtheit der Einschlüsse (Inklusionen) in Zweifel gezogen. Ähnlich ? jede Metapher ist bestenfalls ein hilfreiches Sinnbild ? verhält es sich mit einigen Namendeutungen: Hier hat sich im Laufe eines Jahrhunderts eine Verfestigung von als unumstößlich betrachteten Dogmen vollzogen. "Ich hoffe bei einigen unsrer Namen..., dass die populär gewordenen Erklärungen unhaltbar sind, ... es muss tiefer, viel tiefer gegraben werden, als es bisher geschehen ist." Diese mahnenden Worte schrieb anno 1883 (!) Johann Wolff (1844?1893), einer der hervorragendsten Sprachwissenschaftler und Onomatologen, die Siebenbürgen je hervorgebracht hat, in der Einleitung zu einer kritischen Abhandlung.1) Leider ist diese, seinerzeit gegen den Strich des Zeitgeistes gebürstete Untersuchung m. W. später kaum ernsthaft aufgegriffen worden. 2) Die Folge: In sämtlichen siebenbürgischen Nachschlagewerken gilt es als ausgemacht, dass der Gewässername Kokel auf die ungarische Bezeichnung Küküllö zurückzuführen sei. Der aus Malmkrog gebürtige Philologe Wolff nimmt sich als erster die Arbeit des ungarischen Namenkundlers Paul Hunfalvy vor, auf den die erwähnte These zurückgeht. Hunfalvy glaubte bewiesen zu haben, dass 1. der slawische Name dieses Fließgewässers Tirnava (rum. Tarnava) übersetzt so viel wie Dornbach bedeutet, und 2. im ungar. Wort kökeny (Schwarzdorn, Schlehe) der Flußname kükül-jo verborgen sei. Kökeny habe in der "alten Sprache" kukun entsprochen und bedeutete Dorn. Das kükün müßte (!) aber auch kükül gelautet haben, "denn die lateinischen alten Quellen nennen den Fluss aqua Kukul". An dieses kükül soll nach Hunfalvy jo, jö = Fluss getreten sein, sodaß aus Küküljo durch Assimilation schließlich Kükülö, d. h. Dornfluß, entstanden sei. Demgegenüber weist Wolff in seiner mehrseitigen linguistischen Detailuntersuchung nach, dass Gewässernamen wie Drau, Trave (Holstein), Drone (Nebenfluß d. Mosel), Traun und eben Ternava (noch im 15. Jh. in der Form Drenowa nachgewiesen!) letztendlich allesamt auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen sind, die schlichtweg nichts anderes als Fließen, Fluß ausdrückt. Nebenbei bemerkt Wolff noch ? was übrigens auch die neuere Hydronymie?Forschung bestätigt ? dass, mit wenigen Ausnahmen, für die Namengebung von Wasserläufen Charakteristika bezüglich der Beschaffenheit des Wassers und seines Laufes, also der Farbe, Reinheit, Temperatur, oder aber der Gewundenheit und Fließgeschwindigkeit (die Träge, Eilende, Tosende, Wogende, Rauschende usw.) herangezogen werden. Wolffs Schlußfolgerungen (wörtliche Zitate): 1. Ternava bedeutet nicht so viel wie Dornbach und darum kann der Name Kukul, selbst wenn es wirklich ein alt-magyarisches kukul = Dorn geben sollte, keine Übersetzung von Ternava sein. 2. Ein altmagyarisches kukul = Dorn ist erschlossen worden aus der Annahme, dass Ternava = Dornbach sei, da diese Annahme aber falsch ist, so ist auch der Schluss falsch, d.h. es ist unerwiesen, dass es ein magyarisches Wort kukul in der Bedeutung Dorn gegeben habe. 3. Sind aber alle Stützen gebrochen, auf die Hunfalvy seine Etymologie gebaut hat, so ist auch jene Behauptung haltlos geworden, wonach der Name Kockel ein magyarischer sein soll ... Wovon ist der Name dieser beiden uns so vertrauten Flüsse dann sonst abzuleiten? Zunächst führt Wolff die ältesten ihm bekannten Namensformen der Kokel an: villa Cuculiensis castri (1197); inter duos fluvios Kukullw (1271), Kuquellev (1278), Kukulu (1328) etc. Allgemein läßt sich feststellen, dass bis etwa um das Jahr 1370 fast ausschließlich der Wortstamm Kukul (mit der Variante Kykul) zu verzeichnen ist; danach dominiert eindeutig Kukel bzw. Kykel. 3) Die Umlautung von u zu o ist erst Anfang des 16. Jh. belegbar: Koclo-, Coclowarenses (1500), Koclypurg (1503). Gleichwohl findet sich die ältere Form Kukel ? der das mundartliche Keakel entspricht ? noch um das Jahr 1797. 4) Nachdem Joh. Wolff auf die zahlreichen Orts- und Bergnamen im altfränkischen Gebiet mit dem Bestimmungswort Kockel bzw. Kuckel hinweist (Kockelberg, Kuckelberg, Kuckelsberg, Kokelscheuer, Kökelwik, Kükelhausen usw.) und diese vom Stamm kuka (= Berg, Fels, Gebirge) herleitet, macht er sich auf die Suche von lautähnlichen Gewässernamen. Hierbei setzt er bisweilen die Übertragung von Bach- auf Orts- und Weilernamen voraus, so bei Kochenbach und Kuckenbach im Siegerland. Den Unterschied zwischen Kucken(bach) und unserem Kuckel sieht der Sprachforscher lediglich darin, dass "jener am Stamme ein kasusbildendes Suffix, eine Flexionssilbe (-en) trägt, dieser aber durch ein wortbildendes Suffix (-el) vermehrt ist". In Kuckel-, Kuchel- entdeckt er also ein mit der Ableitungssilbe -el(i1) vom Adjektiv quek oder vielmehr von dessen Nebenformen kuk und kuch neugebildetes Adjektiv. Diese Eigenschaftswörter besagen soviel wie: sich unruhig bewegen, unruhig-gaukelnde Bewegung. Im Mittelniederdeutschen stand für Gaukelei Kuckelerie, während der Gockelhahn (Gockeln hängt mit Gaukeln zusammen) Kukelhan genannt wurde. 5) Auch in Personennamen hat im übrigen das Bestimmungswort Kukul (Kukel, Kokel) Eingang gefunden: So wird anno 1257 ein Johann de Kukuldorp in Zusammenhang mit einem Wachszins des Klosters Flaesheim (Lkr. Recklinghausen) erwähnt; 6) im Hessen-Nassauischen wird zum andern ein gewisser Heinrich Kokel v. Rheinberg (1438) genannt, 7) während knapp 300 Jahre später in Siebenbürgen der PN Kukelschmid in die Matrikeln eingetragen wird. 8) Schließlich soll noch der Hof Kukelmann bei Altwarendorf (Westfalen) angegeben werden. 9) Wolff erblickt, wie gesagt, im Namen Kokel ein adjektivisches Simplex. Da die Urkundenschreiber jedoch des öfteren die Wendung "fluvius Kuku" oder "fluvius Kükül aquae" gebrauchen, lasse sich daraus schließen, dass es sich ursprünglich um ein Kompositum gehandelt habe. Ob dabei als Grundwort -bach oder aber das alte -aha (lat. aqua) anzunehmen sei, läßt er offen. Für "ursprüngliche Zusammensetzung mit -a (ch) oder -bach" zeuge wohl auch das Geschlecht des Flußnamens. In der Tat fällt die Kokel mit ihrem weiblichen Artikel innerhalb Siebenbürgens insofern aus dem Rahmen, als sie mit den (ebenfalls weiblichen) Bachnamen zusammengeht, während alle anderen Flüsse, deren Namen jedoch unstrittig nichtdeutscher Herkunft sind, männliches Geschlecht aufweisen (Mieresch, Alt, Zibin, ete.)! Eine dritte Möglichkeit für eine ursprüngliche Endung bestünde freilich auch noch: In einer toponomastischen Arbeit, die vor etwa 10 Jahren erschienen ist, hat der Autor darauf hingewiesen, dass bei einigen Ortsnamen die Endungen -au und -ow aus dem Grundwort -owe, -ow (die mittelhochdeutsche Bezeichnung für Wasser, Fluß, von Wasser umgebenes Land) herrühren können. 10) Als naheliegendstes Beispiel drängt sich die urkundliche Bezeichnung für Tartlau (Tortillou: das vom Wasser der Tartel umgebene Land) auf. 11) In diesem Zusammenhang ist auch von nicht unerheblichem Interesse ein 1928 veröffentlichter Beitrag des Germanisten Richard Huß. 12) Obzwar er dort fälschlich auf den Bach Kokelawe aufmerksam macht, ist dieses Ortsnamen-Vorkommen von besonderem Belang. Das ehemalige Dorf, späteres Vorwerk Kukulau, war eine ehemalige Grangie des Klosters Schulpforta und an einer Bergkuppe südöstlich von Bad Kösen (bei Naumburg) gelegen. Es ist auch von einem Wildbach ("a torrente ultra Kokolowe") die Rede. 13) Die jetzige Wüstung ist in der Gemeinde Flemmingen (bei Naumburg/Saale) zu lokalisieren. Sie taucht in den ersten Urkunden unter den Formen Cocolou, Kocolowe, Kokelowe auf. 14) Wie Huß 15) darlegt, ist das fragliche Gebiet um Flemmingen etwa um das Jahr 1140 mit "Flandrern" (= Flamen) besiedelt worden. Schließlich sei noch ein Beispiel aus Ostfriesland angeführt: Im Bereich der Stadt Weener (Landkr. Leer) gibt es einen Bauernhof mit der Postanschrift Kukelborg 3. Wie vom Besitzer 16) zu erfahren war, geht dieser Name auf eine alte Warfsiedlung zurück, die anfänglich an einem Nebenpriel der alten Ems lag. Mit "Borch" bzw. "Borg" bezeichnete man in Ostfriesland seit der Mitte des 14. Jh. einfach das feste (Stein)Haus ? daher tragen viele Bauernhöfe Namen mit dem Grundwort -borg. 17) Die Priele bilden (bekanntlich) in den Watten die Hauptrinnen für das bei Ebbe und Flut aus- und einströmende Meerwasser. Schlußfolgerungen 1. Beim Lexem Kokel haben wir es, nach vorausgesetztem Schwund des Grundwortteils, mit dem Bestimmungswort eines ursprünglichen Kompositums zu tun (nach Joh. Wolff: adjektivisches Simplex). 2. Etymologisch kann Kokel/Kukel auf das Adjektiv quek bzw. dessen Nebenformen kuk und kuch zurückgeführt werden. Semantisch hieße das: unruhig-gaukelnde Bewegung. 3. Für die beiden Kokeln träfe diese Charakterisierung durchaus zu, weisen sie doch noch gegenwärtig, trotz stellenweiser Regulierung (Begradigung) allgemein stark gewundene, mäandrierende Flußläufe auf. Zum Gewässernamen Kokel (Kukel) gibt es offenbar gewisse Entsprechungen im nordwestdeutschen und auch flämischen Raum. 5. Noch mehr Licht ? womöglich endgültige Klarheit (?) ? könnten in dieser namenkundlichen Angelegenheit sicherlich die Altphilologen bringen. 6. Unserer Auffassung nach kommt der Versuch, Kokel von Küküllö abnötigen zu wollen, jedenfalls einem Fehlschlag gleich. Dass auch überaus verdienstvolle Sprachwissenschaftler wie Karl K. Klein gegen Irrtümer nicht gänzlich gefeit waren, läßt sich anhand des Ortsnamens Schäßburg festmachen. Eingeräumt muß gleichzeitig werden, dass Klein zum einen für die Deutung ausschließlich die urkundliche Bezeichnung Seguswar heranzog und andererseits offenbar der Falschdatierung einer Urkunde mit der seltsamen, wahrscheinlich von einem ungarischen Kanzleischreiber herrührenden Namensform castrum sex aufgesessen ist. Wie der Kronstädter Staatsarchivar G. Nußbächer 18) vor wenigen Jahren berichten konnte, wurde die fragwürdige Urkunde "irrigerweise für das Jahr 1280 angesetzt", in Wirklichkeit jedoch kann sie erst "um 1320" verfaßt worden sein kann. Demnach ist als älteste bekannte urkundliche Erwähnung Schäßburgs das am 20. März 1298 von der päpstlichen Kanzlei genannte Schespurch zu betrachten. 19) Im Jahre 1309 verwendet der päpstliche Gesandte die Schreibvariante Schesburg. 20) Nach 1320 ist im allgemeinen ? wortgeschichtlich nicht uninteressant ? wieder vom castrum Sches (mit den Abweichungen Schez, Scheks und Sez) die Rede. Erst gelegentlich der Immatrikulation eines Schäßburgers an der Universität in Wien (1406) tritt eine nachhaltige phonologische Änderung in Erscheinung: Möglicherweise aus Abneigung gegen den mit dem Bestimmungswort lautähnlichen österreichischen Vulgärausdruck "Schas" (für Darmwind) wurde die Form Schessberg 21) (mit stimmlosem S) geboren. Andererseits ist an gleichem Studienort 1442 (diesmal mit Umlautung) Schaespurg als Herkunftsort vermerkt. Von den Deutungsversuchen seien auch einige angeführt: Während es für M Orend 22) immerhin "keine Veranlassung (gibt), den O. N. in eine fremde Sprache zu verlegen", wobei er als zu vergleichende Form freilich Sexburg (Seges) angibt (!), schlägt der weiter oben erwähnte K. K. Klein 23) Schäßburg zu den aus dem Ungarischen übernommenen sächsischen Ortsnamen. Demnach wäre der deutsche O. N. vom ungar. Segesvar abzuleiten (von magyar. Seg = culus, also After, bzw. von altmagyar. Ség = Hügel, also etwa i. S. von "Einsattelung, Einkerbung", sowie von var = Burg). Durch versuchte Heranziehung eines namhaften Autors glaubte E. Giurgiu 24) einer beinahe abenteuerlichen Erklärung von castrum sex etwas abgewinnen zu können: Es habe sich nämlich bis zur Mitte des 14. Jh. bei Schäßburg um die 6. Burg unter den sieben sächsischen Burgen (Stühlen) gehandelt! Der vermeintliche Kronzeuge 25) wies demgegenüber ? freilich erst Jahre danach ? eine derartige Behauptung entschieden zurück. Allein schon aus grammatikalischen Gründen hätte es ja "castrum sextum" heißen müssen. Im Zuge einer flurnamenkundlichen "Rasterfahndung" konnte im Rheinland ein Scheeßberg 26) geortet werden. Desgleichen war hier 1606 der Flurname im Scheeß 27) anzutreffen, dessen Erklärung auf "steiler Hang" (von Schiess) lautet. Bestätigt wird diese Deutung einige Seiten weiter durch das anno 1636 aufgezeichnete Mikrotoponym am Schiesberg; 28) als Erklärung wiederum "abschüssiger Berghang". Auf Schaesberg hat G. Kisch aufmerksam gemacht. Es gehört längst nicht mehr zum Kreis Heinsberg sowie zum Regierungsbezirk Aachen, sondern ist im Jahre 1982 in der neu entstandenen niederländischen Stadt Landgraaf (Provinz Limburg), gemeinsam mit zwei anderen Gemeinden, aufgegangen. Daher auch konnte es von W. Roth, 29) der übrigens in seinem Beitrag irrtümlich von Schaessburg spricht, im Bundesgebiet nicht ausfindig gemacht werden. Wie der naturräumlichen Beschreibung der Niederlande 30) zu entnehmen ist, hat der äußerste Südosten Anteil an der Lößbörde und der Mittelgebirgszone, wobei dieses Gebiet mit dem Vaalser Berg auch die höchste Erhebung der Niederlande (321 m) aufzuweisen hat. Nicht von ungefähr ist die hügelige Landschaft bei Valkenburg als "holländische Schweiz" bekannt. Es ist ein größtenteils der Niederterrasse zuzuordnender Teilraum, wobei auch von sich aufwärts der Mittelterrasse versteilendem Randgehänge der angrenzenden Hauptterrassenebene die Rede ist. In Landgraaf selbst bzw. der Ortschaft Schaesberg gibt es einige "Berge": Lichtenberg, Bousberg, Wilhelminaberg, auf letzterem ist sogar die längste Kunstschipiste Europas angelegt worden! 31) Ob mit Schaasberg (Provinz Lüttich) 32) eine weitere Namensparallele hinzukommt, konnte vom Verf. (noch) nicht überprüft werden. Bei Förstemann 33) wird ein "Schasberg, unweit des Mannhardberges" angegeben, ohne dass freilich die Flurbezeichnung und damit die Ortschaft lokalisierbar wären. Erwähnenswert erscheint in diesem Kontext noch die Gemeinde Scheessel an der Wümme (Kreis Rotenburg), ca. 40 km östlich von Bremen. Ob hierbei ein Zusammenhang mit der in der ersten Hälfte des 12 Jh. erfolgten Ansiedlung holländischer Kolonisten in der Wümmeniederung besteht, kann ohne eingehendere Sonderuntersuchung indessen nur angenommen werden. 34) Nicht selten variieren die Ortsnamen auf -burg bzw. auf -berg urkundlich zwischen diesen beiden Grundwörtern. Wie hierzu aus einer linguistischen Abhandlung 35) hervorgeht, sind Burg und Berg zuweilen austauschbar. Als Beispiele werden u. a. die Namenspaare Biburg/Biberg, Brandinberg/Brannenburg und Wartberg/Wartburg gebracht. 36) Auch in einer rezenteren Arbeit über Siedlungsnamen 37) wird diese These bekräftigt ("Die Namen auf -burg lassen sich allerdings nicht in allen Fällen von jenen auf -berg trennen"). Allerdings ist das Grundwort -berg nur unter Vorbehalt als direkter Nachweis für das Vorhandensein einer Burg heranzuziehen; es bezeichnet zunächst lediglich die Höhe im Hügel- oder Bergland bzw. die Anhöhe in der Niederung. 38) Das zuvor Gesagte läßt sich auch am Beispiel Siebenbürgens verifizieren: Von den acht Ortsnamen auf --burg hat immerhin die Hälfte auch die urkundliche Form auf -berg vorzuweisen (Stolzimberc/Stolzenburg, 39) Clusenberg/Klausenburg, 40) Syberg/Seiburg,41) Merenberg/Marienburg b. Schäßburg. 42) Umgekehrt ist unter den 10 Gemeinden auf -berg nur in zwei Fällen auch eine (Höhen-)Burg vorhanden (Michelsberg und Burgberg/Winz). Wie neuere siedlungsgeschichtliche Forschungen ergeben haben, "kann die Ansiedlung der Sachsen in Schäßburg um das Jahr 1220 datiert werden". 43) Es ist leicht möglich, ja wahrscheinlich, dass vor der bislang ersten Erwähnung (1298) die Kolonisten auf der "Burg" von ihrem Schesberg sprachen. Die durch eine geologische Auffaltung (Antiklinale) bedingte Ausformung des 429 m hohen Schulberges (aus Sandstein bestehend) sowie der etwa 50 m tiefer gelegenen Burgterrasse zeigt an drei Seiten steil abfallende Lehnen. Nachdem als Ergebnis einer dialektgeographischen Untersuchnung 44) die "Urheimat" der Schäßburger nicht allein im Moselfränkischen, sondern auch im Ripuarischen und Flämischen zu suchen sein wird, erscheint es als nicht allzuweit hergeholt, für das sicherlich (auch) mitgebrachte Namengut der Siedler Gleiches annehmen zu können. Nicht zuletzt wird man in dieser Ansicht von einer Koryphäe deutscher Namenforschung bestärkt, zumal wenn sich die Feststellung auf die Sprachinsel-Toponomastik bezieht: "Das Namengut dt. Siedler im Osten und Südosten muß Äquivalente in der appellativen Lexik der Ausgangslandschaften besessen haben). 45) Resümierend ist festzuhalten, dass: 1. Der Ortsname Schäßburg mit hoher Wahrscheinlichkeit deutscher Herkunft ist, von den Erstsiedlern also mitgebracht wurde. 2. Der O. N. sich aus dem Grundwort Burg bzw. dessen Ersatz Berg, sowie aus dem Bestimmungswort Sches zusammensetzt. 3. Der Ortsname als "Burg auf steilem Berg" gedeutet werden kann. Schlußendlich sei lediglich noch angemerkt, dass es im binnendeutschen Sprachraum eine Periode der Keltomanie gegeben hat, in welcher jene Namenforscher "Meinungsmacher" waren, die sich fieberhaft bemühten, in der Mehrzahl der Orts- und Gewässernamen einen keltischen Ursprung zu entdecken. Uns will scheinen, in Siebenbürgen eine historische Parallele feststellen zu können, diesmal unter dem Vorzeichen einer Hungaromanie. Soll nota bene nicht heißen, dass es im toponomastischen Bereich nicht auch Entlehnungen aus dem Ungarischen gegeben hat. Walter Schuller (TraunlÖsterreich) Q u e 11 e n v e r z e i c h n i s 1) Johann W o 1 f f : Zur Etymologie siebenbürgischer Fluss- und Bachnamen. 1.Ternave ? (Caucaland) Kockel. In: Archiv d. Vereins für siebenbürg. Landeskunde, Neue Folge, XVII. Bd., 3. H., Hermannstadt 1883, S. 487 ? 510. Anmerkung: Nachdem im ersten Teil des Beitrages hauptsächlich auf die Wolffsche Untersuchung Bezug genommen wird, verzichtet der Verf. ? entgegen den wissenschaftlichen Usancen ? bewußt auf Einzelfußnoten zugunsten einer Gesamt-Seitenangabe. 2) Leise Zweifel an der magyarischen Entlehnungstheorie meldete etwa Ernst W a g n e r an, in: Historisch-statistisches Ortsnamenbuch für Siebenbürgen (Studia Transylvanica, Bd. 4, Köln/Wien, 1977), wo es auf S. 25 heißt: "Der in. ON Küküllö (daraus Kokelburg, Küküllövar, Cetatea de Balta) ist nach Kisch Grundlage der deutschen Namensform. Ein Kokelberg existiert allerdings auch i. d. Nähe von Trier u. in Luxemburg, wo slawische oder magyarische Beeinflussung ausscheidet". In letzter Zeit hat Walter Roth im Rahmen eines namenkundlichen Streifzuges die Problematik kurz angerissen. Darauf wird an anderer Stelle noch eingegangen. 3) Paul B i n d e r : Das Kokelburger Komitat. In: Det Zenderscher Zichen, XV/1995, S. 91 ? 135. 4) Siebenbürgisch-Sächsisches Wörterbuch ? 5. Band K, Bukarest/Berlin, 1975, S. 245. 5) August L ü b b e n: Mittelniederdeutsches Handwörterbuch, Darmstadt 1979, S. 192. 6) Verein f. Geschichte u. Alterthumskunde Westfalens: Westfälisches Urkundenbuch, 7. Bd.: Die Urkunden des kölnischen Westfalens v. J. 1200 ? 1300, Münster 1908, S. 942. 7) Bruno K r i n g s : Das Prämonstratenserstift Arnstein a. d. Lahn im Mittelalter (1139 ? 1527), Wiesbaden 1990, S. 517. 8) Fritz K e i n t z e 1 - S c h ö n: Die siebenbürgisch-sächsischen Familiennamen, Köln/Wien 1976, S. 49, 52. 9) Ernst F ö r s t e m a n n: Altdeutsches Namenbuch, 2. Band - Orts- u. sonstige geographische Namen ? Erste Hälfte A ? K, Bonn 1913, S. 1747. 10) Heinrich S c h 1 i f k o w i t z : Typische Ortsnamen zwischen Elbe und Weichsel. Ortsnamen auf -au, --ow, -witz, -itz, -schütz und -in, Karlsruhe 1988, S. 38. 11) Ernst W a g n e r: a. a. 0., S 378 12) Richard H u ß : Die Flandrer und Holländer in der ostdeutschen Kolonisation des 12. Jahrhunderts. In: Archiv für Wanderungswesen, Bd.1, 1928, H. 1, S. 34 ? 38, H. 2, S. 79 ? 87. 13) F. R o s e n f e 1 d (Bearb.): Urkundenbuch des Hochstifts Naumburg. Teil 1 (967 ? 1207), Magdeburg 1925, S. 150. 14) Paul B ö h in e: Urkundenbuch des Klosters Pforte. 1. Theil, Halle 1904, S. 5, 17, 20. 15) Richard H u ß: a. a. O., S. 85. 16) Freundliche Mitteilung von Herrn H. A e i k e n s vom 10. 10. 1997. 17) Heinrich S u n d e r in a n n : Friesische und niedersächsische Bestandteile in den Ortsnamen Ostfrieslands. Ein Beitrag zur Siedlungsgeschichte der Nordseeküste, Emden 1901, S. 18. 18) Gernot N u ß b ä c h e r: War Schässburg die "sechste Burg"? Zu einer neuen Erklärung des Ortsnamens der Kokelstadt. In: Aus Urkunden und Chroniken, 4. Band, Bukarest 1994, S. 138. 19) Urkundenbuch (1) zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen, Nr. 28 1, S. 210 ? 211. 20) Ebenda, Nr. 314, S 240. 21) Gernot N u ß b ä c h e r: a. a. O., S. 138 22) Misch 0 r e n d: Zur Heimatfrage der Siebenbürger Sachsen. Vergleichung der siebenbürgisch-deutschen Ortsnamen mit denen des übrigen deutschen Sprachgebietes, Marburg 1927, S. 50 ? 5 1. 23) Karl Kurt K l e i n : Nemeti-Orte in Ungarn und Siebenbürgen. In: Transylvanica. Gesammelte Abhandlungen und Aufsätze zur Sprach- und Siedlungsforschung der Deutschen in Siebenbürgen. München 1963,S.164. 24) Emil G i u r g i u : Sighisoara (Schässburg). Bukarest 1985, S. 25 25) Gernot N u ß b ä c h e r; a. a. O., S. 140. 26) J. D i e t z : Die Bonner Flurnamen. Bonn 1973, S. 100. 27) Ebenda, S. 181. 28) Ebenda, S. 202. 29) Walter R o t h : Aus der geographischen Namenkunde von Schäßburg. Geschichte und Geschichten zur Herkunft geographischer Bezeichnungen aus unserer Heimatstadt und ihrer Umgebung. In: Schäßburger Nachrichten, 2. Jg., Nr. 3 v. 30. März 1995, S. 13. 30) Aus "Brockhaus-Enzyklopädie", 15. Band, Mannheim 1991, S. 567. 31) Gemeentegids '98/'99, hrg. von der Gemeente Landgraaf, Stadtplan, S. 10?11. 32) Arnold H u t t m a n n: Verwandte von siebenbürgischen Ortsnamen in Flandern und den benachbarten Ländern. In: Zeitschrift für siebenbürgische Landeskunde, 1. Jg., Heft 2, 1978, S. 153. 33) Ernst F ö r s t e m a n n: Altdeutsches Namenbuch, 2. Band, 2. Hälfte L ? Z, Bonn 1916, S. 750. 34) Richard H u ß: a. a. O., S. 37 35) Lotte M o t z : Burg ? Berg, burrow ? barrow (in engl. Sprache). In: Indogermanische Forschungen. Zeitschr. f. Indogermanistik u. allgem. Sprachwissenschaft, 8 1. Band, Berlin/New York 1976, S. 205. 36) Ebenda, S. 208 ? 209. 37) Klaus A n d r i e ß e n : Siedlungsnamen in Hessen. Verbreitung und Entfaltung bis 1200 (DDG, Bd. 88), Marburg 1990, S. 28. 38) Hans P a t z e (Hg.): Die Burgen im deutschen Sprachraum. Ihre rechts- und verfassungsgeschichtliche Bedeutung, Bd. I, Sigmaringen 1976,S.462. 39) Ernst W a g n e r : a. a. O., S. 352. 40) Ebenda, S. 212. 41) Ebenda, S. 368. 42) Ebenda, S. 188. 43) Paul N i e d e r m a i e r: Der mittelalterliche Städtebau in Siebenbürgen, im Banat und im Kreischgebiet. Teil 1 ? Die Entwicklung vom Anbeginn bis 1241, Heidelberg 1996, S. 269. 44) Robert B r u c h: Die Mundart von Schässburg in Siebenbürgen. In: Luxemburg und Siebenbürgen (Siebenbürgisches Archiv, Bd. 5), Köln/Graz 1966, S. 160. 45) Wolfgang K 1 e i b e r: Die Flurnamen. Voraussetzungen, Methoden und Ergebnisse sprach- und kulturhistorischer Auswertung. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Halbband, Berlin/New York 1985, S. 2133. (SN 12) FESTE. CHRISTTAG   Rentnerin, 74 Jahre, aus Agnetheln Aufnahme anhören: drücken | Dauer ca. 2:50 Minuten Aufnahme speichern (1.3 MB, Mp3) Mit rechter Maustaste auf obigen Link klicken und "Speichern ..." wählen. Die Mutter der Erzählerin hat als Schäßburgerin, frische Bräuche aus Schäßburg nach Agnetheln gebracht. In Agnetheln gab es früher nicht in jeder Familie einen Christbaum. Sie berichtet vom Ablauf der Feiertage, der Christbescherung, den Christgeschenken, der Freude und der damaligen Bescheidenheit. Traditionell wurden in den Christferien Briefe mit Glückwünschen für die Verwandtschaft geschrieben die von den Kindern persönlich in die Familien der Verwandten getragen wurden. Im Gegenzug gab es für die Kinder den "Agnethler Kuchen". Aufnahmejahr zwischen 1966 und 1975 - Veröffentlicht am 24. Dezember 2008 Schlagworte: Weihnachten, Weihnachtsbaum, Bescherung Die Veröffentlichung dieser Aufnahme wurde durch Spenden unterstützt. DIE HERKUNFT. UMGEBUNG PRDUDEN. DER KEUL-GROSSVATER, VATER MEINER MUTTER Wie dein eigenes Inneres, natürlich! Die Äpfel im Apfelbrecher riß einen ab Laub schaukelt Schaukel am Apfelbaum schwingt der Ast knarrt nach Batull aber duftet es gehäuft Goldparmäng und Batull in Körben Duft in den Zimmern nach Äpfeln am Boden rollen sie mancher noch ein Blättchen am Stiel wie die Eva die dazu trällert überhöhte Ufer lehmig der Fluß Regen klopft aufs Dach die Sommerküche Regenfetzenwolken aus der Schlucht zieht es Nacht ein surrendes Fahrrad ruhig wie in der Fibel Tintenfinger Schmutz und Dreckfink da kriegst du Haue Susi am Seil ein Schüler hat sich aufgehängt ein anderer erschossen am Grab seines vaters nach einem Theaterabend Kabale und Liebe Abendstille überall nackte Füße im Gras oder im Staub der Landstraße oben am Himmel fährt der große Wagen in die Worte von Duduonkel der Orgelonkel Bach am Bach der Weißfisch für Jonah viel zu klein aber als Russen zu essen auch am Schlachthof gefangen Gestank in der Nase von Fleisch und Eiter und Blut das Spital in der Albertstraße von wo es schrie Glocken im Herbst ist Schule oder Panzer die deutschen Soldaten mit klingendem Spiel aus dem Paradies in die Stadt wir sind schon getavert ... O wie ist es kalt geworden und so traurig öd und leeer. Kalte Winde wehn von Norden und die Sonne scheint nicht mehr. Knarrende Treppe. Georg mit der Silbertanne ein Paradiesbaum wippt durch die Tür ins Vorzimmer am Medikamentenschrank vorbei Chloroformgeruch draußen verzuckerte Landschaft große Flocken wirbeln unter der Straßenlampe Schnee knirscht unter den Schuhen den Stiefeln Frau Holle ist sehr aktiv sagt Roland mit dem Totenkopf an der Mütze wenn der nur nicht fliegt Helle müßt es heißen oder Walhall vielleicht aber sagt er. In der Klosterkirche predigt ein junger Divisionspfarrer ganz ungeschminkt verkündet er Christus dass Christus auch der Führer der deutschen Soldaten ist Advent REICH alles reich Sandmännchen und der große Bimbam zu Köln zu Köln ... der reittet der reitet durch den Tag durch die Nacht der reitet ... der Ofen ist heiß die Finger gefroren blau und der Lehrer neben der Schulbank schlägt auf die Kniewel ein Au Weinen und zu Haus raucht der Hosenboden und schreie bitte bitte nicht und ein ganz nasses Gesicht da rinnen die Tränen über die roten Augen wen lieben wen du sollst Vater und Muttter lieben heißt es bei Petrenz das ist in der Religion in langen Reihen stehen die Schüler bück dich bück dich Liebe Liebe Sonne komm ein bißchen runter laß den Regen oben dann wollen wir dich loben das Böse aus dir und den Eigensinn aus dir herauswitschen schlägt Vater dass du Wasser verlangst denn ich bin von Grund auf böse Irrwisch und Wastel bin ich und wenn du nicht brav bist ins Bett mit dir und die Läden die Reihen fest geschlossen in ruhig festem Tritt mer draff sei ein Mann du bist ein Pimpf lach nicht wer lacht da wer redet im Glied schweig halts Maul halt die Gosch sei still der Wald steht schwarz und schweiget das ewige Schweigen der Weltenräume wenn die Alten reden haben die Kinders Maulzu halten SCHNITT Ech bän klin menj Herz äs rien und nemst sall dränn wunnen alz Herr Jesus ellien... der reittet und reittet auf dem Esel Bock ists und höre den Schrei Jerusalim du feine. Und wie gesagt daneben Bethlehem und wie immer alle Jahre wieder das Kling Glöckchen Klingelingeling. Schnitt. Heilige Drei Könige mit armen Sternsängern Steau sus rásare im Herrnzimmer wie immer bitterkalt und am Sechsten schwimmt einer unters Eis Eiskreuz ertauchen von der Brücke seh ich ihn nackt da im Eis schimmend der Leib wie eine Leich Der Ertrunkene mit Kot aus dem Mund so fließt es in den Tod rührt dich nur als Schreck an sonst Nichts Templin wach erfrorener Christ wach auf wach auf Doch wir wissen es ja und Oma sangs in der Küche: Es geht alles vorüber es geht alles vorbei/ nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai. Jahr für Jahr und wieder ein Mai Im Frühjahr schwillt er an Frühling läßt sein braunes Band und alles ja Märzen der Bauern die Rößlein anspannt aber im Sommer versiegt es fast was da fließt Zeit oder so oder Kot oder was ? am Bach dann Libellen und über die Brücke oder am Fluß am liebsten am braunen Kokelfluß du lieber und überall Brücken träum nur du träum du von Brücken bade und fließe ins Fleisch betäubt in der Schule aber die Prüfungen wieder immer wieder vor der schwarzen Tafel in der Schule vor der Tafel da steh ich und steh auf dem Katheder die Waage meiner Mutter für das weiße Mehl und schreibe mit weißer Kreide so soll nicht mehr gesungen nein ein großes Peitschen Nein soll gewogen werden was ich bin und weiß so auf schwarz auf weiß deine schwarze Seele Roman du hast geklutzt und abgeschrieben hast du du Schwein fällst und fällst jetzt fällst du durch so mogelst du dich ständig durchs Leben die Wage schnellt hoch schal alles schal und keine Schale wo du sein solltest Roman sie ist leer Roman. Und die Liebste versucht dich: Mensch werde wesentlich dir aber taten die Hoden weh am Zaun entlang nach dem Geküsse Alles wär da sichtbar bis in den Kuß und die Lindenbäume am Vorplatz komponiert unsichtbar in deinem Herzen eingegraben warst du Nie und nie in der Komponisten Stunde blöde Witze und siehst da aus einer Luke heraus die Marika Röck billig im Lied einer schönen blauen Donau. Und so verging deine Zeit die dir gegeben war. Im Rumänischen gibt es ein besonderes schönes Wort für Schwäche. Slab de ingeri. Schwach an Engeln. Kein Engel, keine Substanz, kein Gefühl, kein durchwachsenes starkes Leben. Und ich seh jetzt plötzlich wieder vor mir auftauchend Korinther 13: "Wenn ich mit Menschen- und mit En¬gelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle." Wenn wir Worte ähnlich behandeln, wie es Bildhauer oder gar Physiker mit den festen Gegenständen tun, das Partikel- oder eben das Wortgestöber zu erkennen, antwortete ich ihm etwas zaghaft, wird alles so schön unheimlich, nämlich das, was es wirklich ist: Vor-Schein, atomarer Schweizer Käse sonst nichts. Ouspensky müßte man dazu lesen, hatte damasl im H-Gang Maria Pia gesag: keine himmlischen Erscheinungen sind nötig, im Raum selbst hier, schau und versuch zu beschreiben, ich möchte es, samt den Figuren, da liegt schon ein unlösbares Geheimnis, wie wir den Raum, also das Erscheinen der Wirklichkeit mit den Blicken erst herstellen, ihn mit den Augen abtastend, oder ganz abgehen, dass er uns ganz abgeht, wir darin verschwinden können oder er in uns. Fern sehen , sagte Hannah: tut nichts anderes, stellt künstlich ein Bild her, das wir sehn, und kalkuliert seine Wirkung mit einer optischen Kulissenschieberei, Schnitten, Zeitlupen, und natürlich schnelle Bildbewegung, Illusion der Wirklichkeit, sagte Templin: als wäre es nicht nur ein Voranrücken des Statischen, rasender Stillstand also, sondern "Leben", auf dass wir erkennen, was es gewollt hat... Ja, es ersetzt abenteuerlich, genau wie das Autofenster oder Flugzeugfenster auch, sagte Hannah: das Greifbare, Unabgezogene mit dem Abziehbild, auf dass wir daran lebend sterben. Ich aber habe Sehnsucht nach dem Geruch und Geschmack, der Kontur wirklicher Dinge in ihrem Raum, wie es sie in andern Jahrhunderten, aber auch noch vor zwanzig Jahren gab, und ich möchte wirkliches Holz mit seinem Duft im wirklichen Raum, wo wir uns wirklich mit unseres Augen und Händen und Ohren, und wo wir herumgehen und uns ganz befinden, kein austauschbares und verviel-fältigtes Phantom aus Zelloloid, Kunst-Stoff oder hier Papier, das sie mir da auf einer Glaswand vorspielen oder du. als jene den Sinnen so nahen Tage als Templin noch ein Kind in S. gewesen war. Und da fielen ihm die zwei Seiten ein, die er auf dem Bergfriedhof von S. gesehen hatte. Alles so ruhig, Knospen. Erdgeruch an den Händen, ich habe das Grab angefaßt, Erde, Lehm klebt an den Fingern. Keine Blume auf dem Grab. Vogelgezwitscher, alles wie nicht da. Ich warte, bis alles vergangen ist, dann kommen die Geheimnisse. Hoffentlich wieder. Die Frauen können es besser, auch Hannah. Sie spricht zu Hause mit ih¬ren Bougainvilleas. Die Mitzmother mit ihren blaßvioletten Klematis an der Laube. Und Tante Friederike redete mit ihren Zimmerpflanzen beim Gießen gegen die Einsamkeit an: Na, ihr Lieben, wie geht es euch heute, schön, schön, blüht nur, blüht. Und ich seh auf den Turmhahn, denk an ihren Mörike-Vers: "Zuoberst auf dem kleinen Kranz/ Der Schmied mich auf ein Stänglein pflanzt. - Rührend.   Dämmer im Kopf, schon als Junge, den ersten Becher, Dreikäse-hoch, und reichte mit den Armen grade eben hoch auf die Tischplatte, da stand ein Weinglas, ich nahms und trank es aus, mein erster Rausch, Nade¬scher Wein, mein Gott, das Künd, schrie die Oma, "Weinland", ha, und mit Großvater im Koberwagen, Pferde schnauben, Pferdeduft, sie äpfeln, ich darf kutschieren, Großvater zeigt es mir und zeigt auf die Kontur der Berge... und plötzlich erschrecke ich, schmecke Weißwein auf den Lippen, Zähne am Glas, Weißer Speck und Brot im Mund. Ja, wir sind da, in ei¬nem Jahr, in zweien, in hundert Jahren in tausend, nahe am Herzberg die Kirchenburg von außen und abgezäunte Treppen führen wie früher hinauf zu den geschwärzten Mauern, unser Pfarrhof, ich hatte da mal mit Großvater gestanden, kam zu seinen Patienten, den Pferden, Schweine quietschten, dieser pene¬trante Gestank der Ställe, Kot erinnerst du am genausten, ach, die Made¬leine, dort der Stall, ach, da waren wir drin gewesen, aber der Koben ist leer alles so leer, dass auch ich kaum begreife, einfach den Kopf ducken, Staub und alter Mist rieselt in den Nacken, Kitzel, stinkt, und du liegst auf den Knien, Nichts wirklicher als ein Schweinestall im Traum... Meine Leute aber hielten ihn für die größte Sünde, den Geruch, mein Hund nicht, mit Wollust saugt er ein an Welt, wo sie am stärksten nahekommt, im Ge¬stank, weiche Materie, wälzt sich darin, der Schweinehund. Wir halten sie uns fern mit den Augen, alles andere ist unfein. Gro߬vater pflegte über sein Dorf zu sagen Augen schöne Fensterlein, Augen. Aber da hängt jetzt ein Schleier davor wie der trübe Himmel da oben, die Augen: Vergeht es dir die ersten Häuser sind geduckt, siehst du eines ohne Dach, und die Fenster vernagelt aufgeweicht wie ein altes Hirn, die Straße inmitten und umgeben von Grün, sieh da, ein Kessel Eden nieder-gehalten: die Mühle am Anfang sagte damals der letzte Pfarrer, erzählen sie, dann hielten wir mitten im Kopf, die Welt sei ein Dorf, ich wie er¬schlagen, die Leute auf dem Fußgängerweg gegenüber, was meinst du die Frage ist spät: wer will der Natur dies bedeuten letzter Gedanke an solch ein verwüstetes Wort. Und sie kamen auf mich zu zwei Frauen die den großen Pfarrhof verwalten, sie kamen mit ausgestreckten Händen und offenen Ge¬sichtern auf mich zu und führten mich hinein wo früher Frau Mutter gewesen war. Ich stelle mir vor jetzt im leeren Zimmer ich stelle mir vor angesichts der Webstühle im leeren Zimmer die beiden anderssprachigen Frauen stelle mir vor den Pfarrer als er ging hier zuschloß im leeren Zimmer jetzt ge¬webt die Muster der für immer Gegangenen die letzte Frau ihrer Mund Art hier Paulini verheiratet mit einem Anderssprachigen sagte: das Gras ist hoch am Friedhof da werden sie jetzt naß die Wände feucht der Schimmel im Leeren hallenden Zimmer und als der Pfarrer zuschloß den Schlüssel abgegeben an die Anderssprachigen die weitermachen im leeren Zimmer und fünf Särge noch da nehmt sie für euch sagte der Pfarrer und die Kirche abgesperrt den Schlüssel der Sakristei an die Anderssprachigen an die An-dersgläubigen wir sind aber ökumenisch sagte der Pfarrer als er das Dorf verließ dass nichts verfällt so muß die Leere bewohnt sein bis ans Ende be¬wohnt die Toten versorgt und das Gras wächst sanfter Untergang hier im Morast Großvaters Weinlese Mutter als Kind und die Tante wie warm ein Gedächtnis Kindsmutter Basen Nachbarn Vettern aber es heißt der Pfarrer habe sie hinterlassen um auszuwandern dann möglichst in großer Eile Wort für Wort um noch anzukommen vor dem Torschluß Panik die bösen Zun¬gen drei Särge im Mittelschiff schwarz ausgeschlafen noch und einige Blumen gefunden dann von den Anderssprachigen und bestattet mit ihrem anderssprachigen Popen ein Glück noch so ökumenisch dass es dies gibt wie die Erde noch inmitten der leeren Räume und in den Zimmern der Webstuhl da weben sie Muster der Weggegangenen und warten natürlich auf niemanden mehr Und die letzten Schmerzen sind die Folgen von anderen Schmerzen und wir wollen nicht fort aber wir müssen sagten sie beim letzten Besuch unwiederholbar wie jetzt nur die Leere kommt immer wieder und kommt und würgt und aus der Leere kam alles und die "Mutter fester angezogen" aus Angst vor der ewigen und dem tiefsten Loch der Schwärze Dorfstreit und Dorfpoesie und Dorfsprache und der wie Staub auf der Gasse und Seelenfett über den klaren Himmel gezogen Heulen der triefenden Ab¬gründe Schlägereien und die Kinder zu Krüppeln Prügel das Vieh in den Ställen wie einst alles über den Himmel gezogen und sagten dann diese langen Kerle als sie vom Töten zurückkehrten nicht nur die Front die La¬ger Herr Lehrer, seit ich das gesehen, kann ich nicht mehr schlafen... und alle Dörfer zusammen die Summe nicht nur alle die blühenden Dörfer mit Hattert Wein und dem weißen Speck den Maden und den Burgen mit ei¬nem georgelten Gott in den Bänken war ein sichtbares Zitat auf dem Strafplaneten hier auch Glück und reich wunderschön ich bin einer der ihrigen und sags mit Stolz genannt als Sinne Betrug und alles in allem im Laufe der Zeit auf andauernde Vergeltung, wie ich von einem Kollegen hörte: für den selbstverschuldeten Zustand gilt nun die Menschenleere die Bänke der Kirche und die Fenster Höhlen die Gasse wie ein großer Fehler der Wildnis da fehlt der Untergang und sogar der Friedhof wartet umsonst die Leere wütet lauter und lauter zu hören ist nichts Geduldig wartet Natur da geäußert gesehen mild auch am Bach dem Wald und das Gras mit ihr ists ein grünes Kreuz und möglichst besiegen und besseres Leben dort oben in einem Reich auszuwandern herab vom grünen Kreuz und dem milden Morast wo es steht am Weg und sehr ver¬ständlich der Wald und das Gras am Bach die Brücke wie ein Seil hinüber ans andere Ufer fallen sie nicht sagte das Mädchen die Weberin sagte fal-len hier das Wasser ist kalt und ich weiß das alles wartet auf uns tut so sanft und wartet aufs Ende und ich sprach dann in diese großen Augen von der Ähnlichkeit mit früher dass die Zukunft vorbei sei und wir uns dem Vergangenen zubewegen sprach vom langsamen längst und längst gewe¬senen Zuwachsen der alten Mayastädte in Amerika wohin früher noch ausgewandert wurde aber als Heimkehr sogar wo man die Sprache noch hier ließ und Leute im leeren Zimmer das Weben und Atmen noch Wort für Wort im Dorfhinterhalt Dorfsprache aussprachen und Briefe las längliche Silben gedehnt seitwärts und hilflos zusammen geblieben vergilbtes Papier und fragte wo sie geblieben die Menschen die Briefe verbrannt auf großen Scheiterhaufen alles vergangen was ist nur die Asche früher Lauge für weiße Hemden Totenhemden sehr rein und duftend Waschblau und Kräu¬ter dazu geliehen vom Wald erzählte aber auch die Reisen in die großen Städte und kam wie ein Märchen an hier alles so still und doch als wäre es ja Zeit da nah gesehen auch dort sagte ich in Amerika Fensterhöhlen in der Bronx von New York breitet sich aus das Unbewohnte wie ein Krebs-geschwür die Atome auch im Stein sind nicht mehr normal nicht nur der Kopf und ist groß wie ein Idiot und ein Alf der auf die Welt fällt Hans Lang, der letzte Prudner Sachse (Der "Stumme") Ich bin ein halber Prudner. Meine Mutter, eine geborene Zakel, hatte ihre kinderlose Tante Schwarz aus Dunnesdorf als Kind aufgenommen. Sie hatte auch einen Dunnesdorfer geheiratet, und hat dort gelebt. In Pruden hatten wir sehr viele Anverwandte: Die Zakel, Tatter, Welther, Keul, Lang und andere. Vor dem zweiten Weltkrieg fuhren wir sehr oft mit dem Pferdewagen oder -schlitten sonntags nach Pruden, wo wir bei Tatters gut bewirtet wurden und mein Vater mit seinem Schwager kräftig becherten. Schwein hatte man ja geschlachtet und guten Wein gab es auch. Ich habe Pruden immer sehr gerne gehabt, es lag mir immer am Herzen. So habe ich mich auch als Schulinspektor dafür eingesetzt, dass die deutsche Schule ein Jahr lang (illegal) weiter funktionierte, auch als die vom Gesetz verlangte Schülermindestzahl nicht mehr vorhanden war. Es waren nachher noch einige Jahre genügend Kinder, die Schule musste aber dann doch wegen Kindermangel aufgelöst werden. Nach der Wende, ich glaube, es war 1991, hatte ich als Bezirkskirchenkurator im Schäßburger Kirchenbezirk war, erfuhr ich, es gäbe in Pruden einen Sachsen, der in schlechten Bedingungen lebe. Wir fanden den Armen in fürchterlichem Zustand: Er war stumm, taub und blind. Wir konnten mit ihm nicht kommunizieren. Eine Rumänin "besorgte" ihn: Er hauste in einem leeren Raum mit Erdfußboden. Nur ein Bett und ein Ofen ohne Feuer standen drin. Es war erheblich kalt. Als Belohnung für diese Pflege sollte die Rumänin das Weltherische Haus an der Ecke bekommen. Von dem war nicht mehr viel übrig. Ich bin aber so drauf gekommen, dass dieser arme Mensch, der "Stumme", der Mann von der Fikatante, einer Cousine meiner Mutter, zu der wir gute Beziehungen hatten, war. Die Familie Lang war kinderlos, besorgte aber drei Kinder aus der Familie Keul, aus der beide Eltern nach Russland deportiert worden waren. Hans Lang hatte ich ja gut gekannt. Er war ein guter Schuster gewesen. Er stammte aus Großalisch. Dort hatte ihn eine Lehrerin als Kind zur Strafe in einen Keller gesperrt und über Nacht dort vergessen. Vor Angst war er stumm geworden und ist es sein ganzes Leben geblieben. Wir nannten ihn in der Familie nur den "Stummen". Man konnte sich mit ihm aber gut verständigen. Wir haben dann die Verbindung verloren. Zwischenzeitlich war er (er war auch vorher schwerhörig gewesen) auch noch taub geworden und erblindet. Die Bedingungen, in denen er lebte, hätte man keinem Tier zumuten können. Ich habe dann sofort einen Platz in dem Altenheim von Hetzeldorf, das zum Mediascher Diakonieverein gehörte und von dem Ehepaar Pitters vorbildlich verwaltet wurde, erwirkt. Als wir ihn in das Auto einluden (er hatte ja überhaupt noch nur das, was er auf dem Leibe trug), freute er sich sehr. Wir hatten den Eindruck, er glaubte, nach Deutschland gebracht zu werden. Er war in Hetzeldorf sehr gut aufgehoben. Wir konnten das Heim mit Spenden unterstützen. Es habe sich dann auch die Keulischen Kinder gemeldet und Geld für ihn geschickt. Hans Lang, der "Stumme", hat noch einige Jahre gut besorgt in Hetzeldorf gelebt und ist dort gestorben. Leider habe ich das auch nur später erfahren, so dass ich bei seiner Beerdigung nicht dabei sein konnte (zwischenzeitlich waren auch die guten Pitters gestorben). Hermann Baier Aus dem Heimatbuch "Pruden mitten in der Welt" Und die Oma sang so schön: Weisst du weiviel Sternlein Stehen http://www.youtube.com/watch?v=Db5R5p5ewPM   DIE AURA DES LÄNGSTVERGANGENEN   HOG-Schäßburg / Siebenbürgen Anno Domini 1902 Aus der "Schäßburger Zeitung", 15. Juni bis Ende Dezember 1902 Die schlimmste Nachricht des Jahres: Schäßburg heißt in Zukunft amtlich Segesvar Wir können es uns heute kaum vorstellen, wie das damals war, als in Schäßburg noch die Sachsen das Sagen hatten. Die Stadtvertretung - bestehend aus "48 Virilisten und 48 gewählte(n) Mitglieder(n), zusammen 96", zum Großteil Deutsche, und an der Spitze ein deutscher Bürgermeister - hatte im Jahr 1902 15 Sitzungen abgehalten, in denen 239 Beschlüsse gefasst wurden. Die Zeitung berichtete regelmäßig über die Tagungen der Stadtväter, und sie veröffentlichte um die Mitte des Jahres 1902 vollinhaltlich den "Bericht über die Verwaltung und den Haushalt der Stadt Schäßburg im Jahre 1901", den Bürgermeister Friedrich Walbaum der Stadtvertretung vorgelegt hatte, in mehreren Fortsetzungen. Die Schäßburger hatten so die Möglichkeit, Einblick in die Arbeit ihrer Vertreter im Rathaus zu nehmen und die Probleme der Stadt zu kennen. Der Bericht der Stadtväter über das Jahr 1901 ist in 22 Kapitel gegliedert; er enthält u.a. die Kapitel: Stadtvertretung, Geldgebahrung, Sanitätswesen, Armenpflege, Gewerbe, Gemeindegericht, Sicherheitsdienst. Eigentlich wäre jedes Kapitel auch für den heutigen Leser interessant, hier sollen aber nur einige Zahlen aus zwei Kapiteln wiedergegeben werden. Zum Thema "Armenpflege" erfahren wir, dass in der "Pfründleranstalt", in der allein stehende, bedürftige Bürger der Stadt jedes Alters untergebracht waren, Ende 1901 39 Personen betreut wurden. Außerhalb der Anstalt lebende Armen - es wird die Zahl 164 genannt - wurden ebenfalls unterstützt: Im Jahr 1901 waren 325 Portionen Frühstück, 6292 Portionen Mittagskost, 6615 Portionen Brot, 142 Viertelklafter Holz, 6163 Kronen in Geld und vieles andere verteilt worden. Im Kapitel XIV "Gewerbe" lesen wir: "Im Jahr 1901 wurden 76 Lehrlinge angemeldet und 75 abgemeldet, so dass die Zahl der Lehrlinge im abgelaufenen Jahr um 1 zugenommen hat. Am 31. Dezember verblieben in der bezüglichen Evidenz zusammen 223 Lehrlinge." Die meisten Lehrlinge, 35, hatten die Tischlermeister. Weiter heißt es: "Im abgelaufenen Jahr wurden 576 Gehilfen und Fabrikarbeiter an- und 439 abgemeldet, so dass die Zahl derselben im Jahr 1901 um 137 zugenommen hat. Am 31. Dezember 1901 verblieben in der bezüglichen Evidenz 594 Gehilfen und Fabrikarbeiter. Nach der Nationalität waren 369 Deutsche, 154 Magyaren, 66 Rumänen und 5 sonstige." Weitere Zahlen: "Am Schlusse des Jahres 1901 waren zusammen 453 selbständige Gewerbetreibende in Evidenz. Der Nationalität nach waren 401 Deutsche, 29 Magyaren, 8 Rumänen, 15 sonstige." (Nr. 25 bis Nr. 34, Juni - August) "Die Schäßburger Lesegesellschaft zählt gegenwärtig 100 Mitglieder... Die Bücherei umfaßt heute in bald 3000 Bänden das Schönste aus der schönen Literatur der Deutschen sowie Meisterwerke aus fremden Zungen in deutscher Übertragung..." Vorstand des Vereins war Stadtpfarrer Johann Teutsch, Kassierer Wilhelm Graeser, Bibliothekar Johann Duldner. (Nr. 25, 15.6.) "Die Reifeprüfung am hiesigen Bischof-Teutsch-Gymnasium hat gestern stattgefunden; sämtliche vier Abiturienten bestanden dieselbe, darunter zwei mit gutem Erfolg." (Nr. 26, 22.6.) "Für den Festsaal unseres Gymnasiums sind zur Ausschmückung die Bilder hervorragender ehemaliger Lehrerdieser Anstalt genommen worden. Eins dieser Bilder hat der akademische Maler Arthur Coulin - gegenwärtig in Kronstadt - zur Ausführung übernommen und vollendet. Es ist das Bild von Josef Haltrich... Wie die ‚Kronstädter Zeitung schreibt, ist Coulins Bild von prächtiger wunderbarer Farbenfrische und ein neues Zeugnis von Coulins künstlerischer Begabung." (Nr. 29, 13.7.) Der Prüfungssaal in der Aula des Gymnasiums mit neuen Bildern - Archivbild "Vom Gymnasialgebäude. Die Ausschmückung im Festsaal und im Stiegenhaus ist nun vollendet - zu unserer Freude und Befriedigung edel und schön; wir empfehlen die Besichtigung jedermann und machen insbesondere auf Bulhardts Deckengemälde im Foyer aufmerksam. Im Zeichensaal ist eine feine Sammlung von Gipsabgüssen klassischer Meisterwerke zu sehen." (Nr. 33, 10.8.) Musikunterricht. "Musiklehrer Fr. V. Raupenstrauch erteilt auch während der großen Ferien Unterricht in Klavier, Vio-line..., Cello, Gesang und Zither." (Nr. 26, 22.6.) Musikvereinskonzert. Am 26. Juni fand im Stadthaussaal das dritte "statutenmäßige" Konzert des Schäßburger Musikvereins statt. Die Mitwirkenden waren: der Männerchor, Prof. Heinrich Höhr (Gesangvortrag), ein Streicherquartett (Bapt. Teutsch, Dr. Stenzel, Glatz, Raupenstrauch), Josefine Roth, Mathilde Groß, Otto Wohl und Dr. Jacobi (Singgruppe), gemischter Chor (Männerchor und Frauenchor gemeinsam). Die Zeitung ist voll des Lobes über die gelungene Darbietung. Die Eintrittspreise für Nichtmitglieder des Vereins waren: Sitzplätze 2 K (erste 5 Reihen) bzw. 1,20 K, Stehplätze 0,80 K. (Nr. 26, 27, 22./29.6.) Der evangelische Frauenverein organisierte vom 29. Juni bis 1. Juli im Saal des alten Gewerbevereinshauses eine "Ausstellung des Wäsche- und Kleiderkurses". "Aus dem Wäschekurs hatten 31 Schülerinnen nahe an 500 Stück ausgestellt ... Aus dem Kleiderkurs waren naturgemäß viel weniger Stücke zu sehen, da so manches in der Schulzeit verfertigte Kleid, so manche Bluse bereits zu sehr abgetragen worden waren, um zur Ausstellung gelangen zu können... Hoffentlich hat die ganze Ausstellung... so mancher pessimistisch denkenden Mutter eindringlich genug zum Bewußtsein gebracht, dass sie ihren Töchtern die Aneignung solcher Kenntnisse und Fähigkeiten nicht vorenthalten dürfe." (Nr. 28, 6.7.) "In das hiesige Internat Alberthaus können für das Schuljahr 1902-1903 50 bis 52 Gymnasialschüler aufgenommen werden, wobei von jedem Schüler zunächst für das ganze Jahr eine Gebühr von 18 Kronen zu entrichten ist." (Nr. 30, 20.7.) Hoher Gast. Im Juli 1902 fanden in Schäßburg und Umgebung Manöverübungen von Honved-Truppen statt. An den Hauptübungen nahm auch Erzherzog Josef, Oberkommandierender der ungarischen Landwehr, teil. Der Erzherzog wohnte während seines Besuchs am 24. und 25. Juli im Hotel "Stern". "In den Straßen der Stadt hatte sich eine große Volksmenge eingefunden, die seine Hoheit ehrfurchtsvoll begrüßte." (Nr. 31, 27.7.) Die schlimmste Nachricht des Jahres fanden die Leser in ihrer Zeitung vom 27. Juli: Schäßburg durfte in Zukunft amtlich nur noch Segesvar heißen. "Die amtliche Magyarisierung unserer Städtenamen ist vollzogen: Der ‚Pester Lloyd' meldet kurz und bündig: Der mit der Leitung des Ministeriums des Innern betraute Ministerpräsident ordnete die ausschließliche Schreibung der Namen der Komitate und Munizipalstädte in der nachstehenden Form an..." Es folgt die Liste der Komitate (Bestercze-Nassod, Brasso, Kis-Kükülö, Nagy-Kükülö, Szeben...), Munizipalstädte (Arad, Temesvar...) und "Städte mit geordnetem Magistrate" (Brasso, Megyes, Segesvar, Nagyszeben, Szassebes usw.). (Nr. 31, 27.7.) In einer Sitzung der Stadtvertretung am 6. September 1902 teilte der Bürgermeister mit, dass augrund einer "ministeriellen Verordnung" der Name "unserer Sachsenstadt Schäßburg amtlich in Segesvar umgewandelt worden ist". Bankdirektor Julius Balthes ergriff dazu das Wort und sagte abschließend: "...Denn nicht eine Förderung, sondern geradezu eine Schädigung der allgemeinen Landesinteressen bedeutet es, wenn durch Magyarisierungsmaßregeln die nichtmagyarischen Bewohner unseres Vaterlandes, die nicht weniger gute und treue Bürger Ungarns sind als ihre magyarischen Brüder, verbittert werden..." (Nr. 37, 7.9.) "Mit dem Bau des städtischen Telefonnetzes wurde in diesen Tagen begonnen ... Damit tritt die Stadt Schäßburg einen Schritt näher zur großen Welt ..." (Nr. 31, 27.7.) "Maul- und Klauenseuche. In mehreren umliegenden Ortschaften ist unter dem Hornvieh die Maul- und Klauenseuche ausgebrochen. Bei Wahrnehmung dieser Krankheit werden sämtliche Besitzer von Hornvieh, Schafen, Ziegen und Schweinen hiemit aufgefordert, beim löbl. Polizeiamt sofort Anzeige zu erstatten." (Nr. 32, 3.8.) "Die Seuche ist in folgenden Ortschaften epidemisch aufgetreten: Schäßburg, Meschendorf, Deutsch-Kreuz, Klosdorf, Kaisd, Wolkendorf, Denndorf, Weißkirch, Groß-Alisch, Pruden, Halvelagen, Waldhütten, Neudorf." (Nr. 43, 19.10.) Schäßburger Promenaden sind das Thema eines Textes im Feuilleton-Teil der Zeitung. Der Verfasser beschreibt die Burgpromenade, den Elisabethpark (Stadtpark), die Erlenpromenade, die Lämmerweide und das Tannenwäldchen. Über die Burgpromenade heißt es: "Zur einen Seite die Burg mit ihren imposanten Türmen und Hochbauten, zur anderen Seite das romantische Tal mit dem Weitblick auf die Stadt, auf Gärten, Felder und Auen; wie wohl fühlt man sich dort oben und dankt dem Schöpfer für das schöne Fleckchen Erde, das uns zu schauen vergönnt ist." (Nr. 36, 31.8.) "Der Umzug des k. u. Steueramtes in das Vandorysche Haus wird Ende dieses Monats beginnen und am 1. Oktober vollzogen sein. Wir können bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt lassen, dass der Vandorysche Neubau - dessen schöner, formvollendeter Styl, dem altdeutschen Charakter unserer Stadt angepaßt, dem Baumeister wie dem Bauherrn alle Ehre macht - das diesseitige Marktende, überhaupt diesen ganzen Stadtteil auf das vorteilhafteste verschönt hat." (Nr. 37, 7.9.) Das neue Vandorysche Eck - Archivbild "Der Abiturientenball, der am 6. d. M. im Sternsaale stattgefunden, hat auch heuer seine Zugkraft ausgeübt..." (Nr. 38, 14.9.) "Das Konzert der Opern- und Liedersängerin Helene Honigberger hat am vergangenen Dienstag in unserem Stadthaussaale stattgefunden... Das sorgfältig gewählte Programm gab der Sängerin reichlich Gelegenheit zur vollen Entfaltung ihres vielseitigen Könnens... Doch ganz besonders müssen wir diesem Abend dankbar sein dafür, dass er willkommene Gelegenheit bot, uns wieder einmal an dem vornehmen künstlerischen Clavierspiel unseres Musikdirektors Fleischer zu erfreuen." (Nr. 38, 14.9.) "Theater-Abend. Sonntag, den 14. Sept. l. J. veranstalten die beiden hiesigen Frauenvereine im Stadthaussaale eine Wohltätigkeitsvorstellung; zur Aufführung gelangt: ‚Die goldene Spinne', Schwank in 4 Aufzügen von Franz v. Schönthan." Als Mitwirkende werden aufgezählt: Erich Müller, Michael Henning, Frl. H. v. Steinburg, Heinrich Gutt, Elise Theil, Trude Teutsch, Hermann Matzak, Karl Keul, Michael Keul, Karl Roth, Anton Kwieczinsky, Adi Frank, Hans Gutt. (Nr. 38, 14.9.) Die "Schäßburger Herrenbadegesellschaft" wurde Ende September 1902 vom Stadtmagistrat aufgefordert, "mit dem Abbruch und der Entfernung des Wellenbades" zu beginnen. Notwendig war das durch den Bau des Elektrizitätswerkes und der damit verbundenen Kanalarbeiten geworden. (Nr. 41, 5.10.) "Der Bau der neuen staatlichen Mädchenschule in der mittleren Baiergasse geht der Vollendung entgegen. Für Platzerwerbung wurden 36000 K bezahlt, die Bausumme ist mit 80000 K veranschlagt..." (Nr. 44, 26.10.) Der 50. Todestag von Turnvater Friedrich Ludwig Jahn (15. Oktober) war Anlass einer kleinen Feier, die der Schäßburger Männer-Turnverein am 20. Oktober in "Czells-Bierhalle" veranstaltete. Nach der Begrüßung der Gäste durch Vereinsvorsteher Prof. Unberath hielt Vereinsturnwart Prof. Seraphin einen Vortrag. (Nr. 44, 26.10.) Viele Unterhaltungsmöglichkeiten hatten die Schäßburger im November und Dezember. "Gleich dem emsigen Fleiß der Bienen sind unsere Vereine in voller Tätigkeit; allerorts wird gesungen, gespielt, geprobt und Rollen studiert, Chor, Solisten und Orchester sind vollauf beschäftigt..." schrieb die "Schäßburger Zeitung" (Nr. 46, 9.11.) über die Vorbereitungen. Dann gab es immer wieder Vorstellungen. Die Frauenvereine, der Jugendbund, der Musikverein luden zu Theaterabenden und Konzerten ein. Seifensieder. Das Handwerk des Seifensieders war mit dem Tod von Friedrich Thellmann ausgestorben - aber nur für kurze Zeit. "Herr Michael Haydl, ein junger Meister, aus Agnetheln gebürtig, hat die Hausrealität Nr. 88 in der mittleren Baiergasse erworben und baut daselbst (durch die Baumeister Brüder Leonhardt) eine neue, größere Werkstätte zur Erzeugung von Seifen und Kerzen." (Nr. 47, 16.11.) Die neue Schwimmschule mit Kläranlage - Archivbild Die Feuerwehr musste am 18. November ausrücken, um den Brand "in der Stallung eines romänischen Anwesens" am Wiesenberg zu löschen. Die Löscharbeiten nahmen fast drei Stunden in Anspruch. Die Zeitung fügt dieser Feststellung eine kritische Bemerkung hinzu: "Nicht unerwähnt dürfen wir lassen, dass der städtische Wasserwagen viel zu spät am Brandplatz erschien, auch dass die inventarischen großen Feuerhaken gefehlt haben. Es dürfte sich bitter rächen, wenn wir infolge der seltenen Brände nun sorglos und nachlässig geworden." (Nr. 48, 23.11.) "Treibjagd. Am verflossenen Sonntag wurde von der Schäßburger Jagdgesellschaft in Trappold eine Treibjagd unter der umsichtigen Leitung des Herrn Oberstuhlrichters Maurer Albert veranstaltet. Es kamen sieben Hasen und ein Fuchs zur Strecke." (Nr. 48, 23.11.) Schülervorstellung. Die Obergymnasiasten führten am 29. November im Stadthaussaal Schillers "Wallensteins Lager" mit viel Erfolg auf. Ein Jahr vorher hatten Schüler Schillers "Jungfrau von Orleans" gespielt. (Nr. 50, 7.12.) Zum Andenken an Nikolaus Lenau, der 1802 geboren worden war, veranstalteten die Frauenvereine am 4. Dezember "eine Wohltätigkeits-Vorlesung". Dr. Hans Wolff hielt einen Vortrag über das Leben und Schaffen des Dichters, Josefine Roth und Otto Wohl sangen zwei Lenau-Lieder (Klavierbegleitung: Musikdirektor Fleischer) und Margarethe Lingner trug zwei Gedichte Lenaus vor. (Nr. 50, 7.12.) Weihnachtsbescherungen. Am 21. Dezember veröffentlichte die "Schäßburger Zeitung" eine öffentliche Danksagung der "Weihnachtsbescherungs-Kommission": "Die am 14. d. M. veranstaltete Wohltätigkeits-Vorstellung zum Zwecke der Christbescherung armer Schulkinder hatte folgendes Ergebnis: Gesamteinnahmen K 289; Ausgaben K 78,75 h; demnach Reingewinn K 210,25 h. Allen denen, die zu diesem günstigen Ergebnis durch Überzahlungen beigetragen haben, sagen wir hiemit unsern wärmsten Dank." Dank dieses Reingewinns und der Spenden konnten arme Kinder und die Bewohner des Pfründnerhauses zu Weihnachten beschenkt werden. Am 23. fand im Saal der ev. Mädchenschule die Christbescherung armer Schulkinder statt. Beschenkt wurden 119 Schulkinder mit "Bekleidungsstoffen, Schulrequisiten, Obst und Backwerk". An der Weihnachtsbescherung im Pfründnerhaus am Nachmittag des 24. Dezember nahm auch Bürgermeister Friedrich Walbaum teil. Ausgewählt und zusammengestellt von: Horst Breihofer (Nürnberg) te: 2003-02-07 - Adresse dieser Seite: http://www.hog-schaessburg.de / http://www.schaessburg-net.de © 2000 by kdg II WELTGESTALTEN   KLINGSOR   Auf der Wartburg bei Eisenach kamen im Jahr 1206 sechs tugendhafte und vernünftige Männer mit Gesang zusammen und dichteten die Lieder, welche man hernach nennte: den Krieg zu der Wartburg. Die Namen der Meister waren: Heinrich Schreiber, Walther von der Vogelweide, Reimar Zweter, Wolfram von Eschenbach, Biterolf und Heinrich von Ofterdingen. Sie sangen aber und stritten von der Sonne und dem Tag, und die meisten verglichen Hermann, Landgrafen von Thüringen und Hessen, mit dem Tag und setzten ihn über alle Fürsten. Nur der einzige Ofterdingen pries Leopolden, Herzog von Österreich, noch höher und stellte ihn der Sonne gleich. Die Meister hatten aber untereinander bedungen, wer im Streit des Singens unterliege, der solle des Haupts verfallen, und Stempfel, der Henker, mußte mit dem Strick daneben stehen, dass er ihn alsbald aufhängte. Heinrich von Ofterdingen sang nun klug und geschickt; allein zuletzt wurden ihm die andern überlegen und fingen ihn mit listigen Worten, weil sie ihn aus Neid gern von dem Thüringer Hof weggebracht hätten. Da klagte er, dass man ihm falsche Würfel vorgelegt, womit er habe verspielen müssen. Die fünf andern riefen Stempfel, der sollte Heinrich an einen Baum hängen. Heinrich aber floh zur Landgräfin Sophia und barg sich unter ihrem Mantel; da mußten sie ihn in Ruhe lassen, und er dingte mit ihnen, dass sie ihm ein Jahr Frist gäben: so wolle er sich aufmachen nach Ungern und Siebenbürgen und Meister Klingsor holen; was der urteile über ihren Streit, das solle gelten. Dieser Klingsor galt damals für den berühmtesten deutschen Meistersänger; und weil die Landgräfin dem Heinrich ihren Schutz bewilligt hatte, so ließen sie sich alle die Sache gefallen. Heinrich von Ofterdingen wanderte fort, kam erst zum Herzogen nach Österreich und mit dessen Briefen nach Siebenbürgen zu dem Meister, dem er die Ursache seiner Fahrt erzählte und seine Lieder vorsang. Klingsor lobte diese sehr und versprach ihm, mit nach Thüringen zu ziehen und den Streit der Sänger zu schlichten. Unterdessen verbrachten sie die Zeit mit mancherlei Kurzweil, und die Frist, die man Heinrichen bewilligt hatte, nahte sich ihrem Ende. Weil aber Klingsor immer noch keine Anstalt zur Reise machte, so wurde Heinrich bang und sprach: "Meister, ich fürchte, Ihr lasset mich im Stich, und ich muß allein und traurig meine Straße ziehen; dann bin ich ehrenlos und darf zeitlebens nimmermehr nach Thüringen." Da antwortete Klingsor: "Sei unbesorgt! Wir haben starke Pferde und einen leichten Wagen, wollen den Weg kürzlich gefahren haben." Heinrich konnte vor Unruhe nicht schlafen; da gab ihm der Meister abends einen Trank ein, dass er in tiefen Schlummer sank. Darauf legte er ihn in eine lederne Decke und sich dazu und befahl seinen Geistern, dass sie ihn schnell nach Eisenach in Thüringerland schaffen sollten, auch in das beste Wirtshaus niedersetzen. Das geschah, und sie brachten ihn in Helgrevenhof, eh der Tag erschien. Im Morgenschlaf hörte Heinrich bekannte Glocken läuten, er sprach: "Mir ist, als ob ich das mehr gehört hätte, und deucht, dass ich zu Eisenach wäre." - "Dir träumt wohl", sprach der Meister. Heinrich aber stand auf und sah sich um, da merkte er schon, dass er wirklich in Thüringen wäre. "Gott sei Lob, dass wir hier sind, das ist Helgrevenhaus, und hier sehe ich St.Georgen-Tor und die Leute, die davorstehen und über Feld gehen wollen." Bald wurde nun die Ankunft der beiden Gäste auf der Wartburg bekannt, der Landgraf befahl, den fremden Meister ehrlich zu empfahen und ihm Geschenke zu tragen. Als man den Ofterdingen fragte, wie es ihm ergangen und wo er gewesen, antwortete er: "Gestern ging ich zu Siebenbürgen schlafen, und zur Metten war ich heute hier; wie das zuging, hab ich nicht erfahren." So vergingen einige Tage, eh dass die Meister singen und Klingsor richten sollten; eines Abends saß er in seines Wirtes Garten und schaute unverwandt die Gestirne an. Die Herren fragten, was er am Himmel sähe. Klingsor sagte: "Wisset, dass in dieser Nacht dem König von Ungarn eine Tochter geboren werden soll; die wird schön, tugendreich und heilig und des Landgrafen Sohne zur Ehe vermählt werden." Als diese Botschaft Landgraf Hermann hinterbracht worden war, freute er sich und entbot Klingsor zu sich auf die Wartburg, erwies ihm große Ehre und zog ihn zum fürstlichen Tische. Nach dem Essen ging er aufs Richterhaus (Ritterhaus), wo die Sänger saßen, und wollte Heinrich von Ofterdingen ledig machen. Da sangen Klingsor und Wolfram mit Liedern gegeneinander, aber Wolfram tat so viel Sinn und Behendigkeit kund, dass ihn der Meister nicht überwinden mochte. Klingsor rief einen seiner Geiste, der kam in eines Jünglings Gestalt. "Ich bin müde worden vom Reden", sprach Klingsor, "da bringe ich dir meinen Knecht, der mag eine Weile mit dir streiten, Wolfram." Da hub der Geist zu singen an von dem Anbeginne der Welt bis auf die Zeit der Gnaden, aber Wolfram wandte sich zu der göttlichen Geburt des Ewigen Wortes; und wie er kam, von der heiligen Wandlung des Brotes und Weines zu reden, mußte der Teufel schweigen und von dannen weichen. Klingsor hatte alles mit angehört, wie Wolfram mit gelehrten Worten das göttliche Geheimnis besungen hatte, und glaubte, dass Wolfram wohl auch ein Gelehrter sein möge. Hierauf gingen sie auseinander. Wolfram hatte seine Herberge in Titzel Gottschalks Hause, dem Brotmarkt gegenüber mitten in der Stadt. Nachts, wie er schlief, sandte ihm Klingsor von neuem seinen Teufel, dass er ihn prüfen sollte, ob er ein Gelehrter oder ein Laie wäre; Wolfram aber war bloß gelehrt in Gottes Wort, einfältig und andrer Künste unerfahren. Da sang ihm der Teufel von den Sternen des Himmels und legte ihm Fragen vor, die der Meister nicht aufzulösen vermochte; und als er nun schwieg, lachte der Teufel laut und schrieb mit seinem Finger auf die steinerne Wand, als ob sie ein weicher Teig gewesen wäre: "Wolfram, du bist ein Laie Schnipfenschnapf!" Darauf entwich der Teufel, die Schrift aber blieb in der Wand stehen. Weil jedoch viele Leute kamen, die das Wunder sehen wollten, verdroß es den Hauswirt, ließ den Stein aus der Mauer brechen und in die Horsel werfen. Klingsor aber, nachdem er dieses ausgerichtet hatte, beurlaubte sich von dem Landgrafen und fuhr mit Geschenken und Gaben belohnt samt seinen Knechten in der Decke wieder weg, wie und woher er gekommen war. Der Wartburgkrieg ("Sängerkrieg auf der Wartburg"): Abhandlung des Herausgebers (Karl Simrock 1858): Handschriften und Anordnung der Strophen Teil I: Fürstenlob * Teil II: Rätselspiel * Der Gral als Stein aus der Krone der Gerechtigkeit * Zabulons Buch Dieser Knoten bindet folgende Stränge: Der Gral als Stein aus der Krone der Gerechtigkeit * Der "köstliche Stein" (Jesaja 28,16 & Psalm 118,22) im 1.Petrusbrief Wagner: Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg, 1., 2. und 3. Aufzug * Tannhäuser-Lied * Wagner: Tristan Novalis: Hymne * Chrêtiens und Wolframs Parzival * Wagner: Parsifal * Wolfram und Klingsôr im Wartburgkrieg: Goethe: Das Märchen von Schlange und Lilie * Novalis: Klingsohrs Märchen im "Heinrich von Ofterdingen" Elischa Beth: "...noch einen Tannhäuser schuldig" bzw. "Zwiebelgold" (Roman) * vgl. 7.Rundbrief 2005 zu Flegetanis: "Zabulons Buch" im "Wartburgkrieg" / Parzival: Flegetanis , "ein Heide vaterhalb" "Der Zimmermann", apokryphe Kindheitsevangelien; AT: der "Maurer" Hiram und der Tempelbau Die Berufe Jesu: Zimmermann, Arzt, Lehrer, König, der Dichter, der Gärtner, der Priester Schriftauslegung der Lebensschriftchiffre: Novalis: Die Lehrlinge zu Sais: Der Stein Astralis * al-Ghazzali: Das Gleichnis vom Schreibrohr : die Chiffernschrift Die Lebens-Chiffernschrift nach der Feuerprobe bei Rudolf Steiner: "Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?" Islam: Koran * Moschee in Cordoba * Alhambra in Granada Franz von Assisi: Fioretti (Blütenlegenden); Sonnengesang Märchen von dem Machandelboom (Wacholderbaum) Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz Jakob Böhme: Die Morgenröte im Aufgang Ovid: Metamorphoses XV : der Phoenix William Blake: The book of Urizen Philipp Otto Runge: Der Morgen Luzifers Sturz (Jes 14,12-15) Richard Wagner: Parsifal Wolfram & Chrêtien: Parzival und der Gral * * * * * * * ° Hans Zimmermann, Görlitz : Quellen zum Thema "Schöpfung" und zum Weltbild der Antike und des Mittelalters : Wartburgkrieg Hans Zimmermann, Görlitz : Quellen zum Thema "Schöpfung" und zum Weltbild der Antike und des Mittelalters : Wartburgkrieg Siehe auch: "Der Sängerkrieg auf der Wartburg" (Wartburgkrieg): Abhandlung des Herausgebers (Karl Simrock 1858): Handschriften und Anordnung der Strophen Teil I: Fürstenlob * Teil II: Rätselspiel * Der Gral als Stein aus der Krone der Gerechtigkeit * Zabulons Buch Brüder Grimm: Deutsche Sagen Kassel, 1816 / 1898 561.g Jo. Rohte: Chronicon thuring., ap. Menken, II, 1697-1700. Leben der heil. Elisabeth in altdeutschen Reimen, ibidem 1035-45. Chronica pontificum et archiepisc. magdeburgens., bei Wagenseil und Tenzel. Gerstenberger: Thüring. Chronik, apud Schminke, I, 277-286. KLINGSOHR I 1 Dietmar Hecht (Ahlen): Auf den Spuren Draculas und Klingsors Einführung in zwei Paradigmen interkultureller Wahrnehmung Wer so tut, wie manchmal zu hören ist, als sei das ganze Getue um Dracula bloß eine Erfindung geschäftstüchtiger Tourismus-Manager verwechselt Ursache und Wirkung. Der Dracula-Mythos entspringt keinem Werbe-Gag, sondern einer Tiefenstruktur der kollektiven Mentalität Europas, die zu kennen einem Gelingen des Prozesses interkultureller Wahrnehmung äußerst hilfreich werden kann, hat sie doch viel mit dem zu tun, was man in der Tiefenpsychologie ‚den Schatten' und ‚Schatten-Projektion' nennt. Als Koordinator eines solchen Projekts interkultureller Wahrnehmung auf deutscher Seite möchte ich mich jetzt dieser Tiefenstruktur etwas genauer zuwenden. Eine zweitägige Fahrt führte uns an jene Orte in Siebenbürgen, wo der historische Graf Dracula sein pfählendes Unwesen getrieben haben soll, sich aber auch als Kämpfer gegen die vordringenden Osmanen militärisch hervortat. Dort in Transsylvanien, jenem ‚wilden Herzen Europas' schon seit dem Mittelalter, begegnete uns jedoch noch eine zweite mythische Gestalt, die viel mit deutscher Geschichte und Sagenwelt zu tun hat: der Zauberer und Dichter Klingsor. Beide können als Repräsentanten zweier grundverschiedener Paradigmen interkultureller Wahrnehmung aufgefasst werden. Als Koordinator eines Projekts, das sich die Auseinandersetzung mit interkultureller Wahrnehmung zum Ziel gesetzt hat, möchte ich mich der Tiefenstruktur dieser Paradigmen etwas genauer zuwenden. 1. Dracula - ein Paradigma abspaltender Wahrnehmung Ich vertrete folgende These: Soll interkulturelle Wahrnehmung im Sinne einer Begegnung der Kulturen gelingen, bedarf es eines hohen Maßes der Selbstwahrnehmung. Alle Beteiligten sollten sich bewusst werden, dass ein großer Teil von dem, was sie im Fremden wahrnehmen, ein unbewusst abgespaltener, projizierter Teil von ihnen selbst ist. Mir ist die Erkenntnis ein zentrales Ziel interkultureller Pädagogik: Im Anderen, dem Fremden, wird das wahrgenommen, was als ‚das Andere' hinter der Gardine des eigenen Bewusstseins im Unbewussten herumgeistert - der ungeliebte Schattenbruder. Was individuell gilt, trifft auch für die kollektive Ebene zu. Der Dracula-Mythos ist mir für eine solche kollektiv abspaltende Projektion des ungeliebt Eigenen auf etwas als fremd Empfundenes ein vorzügliches Lehrbeispiel (Paradigma). Aus ihm lässt sich sehr viel auch über das individuelle Projektionsverhalten lernen, vor allem dessen Inhalte. Hier lässt sich studieren, wie das, was in die kollektive Mentalität Westeuropas bewusst nicht integrierbar erscheint, ‚das Andere' in Form von Liebe, Tod und Teufel, wie durch ein Dia auf einen mythischen Raum, genannt ‚Transsylvanien', geworfen und im Spiegel dieses dubiosen Landes ‚jenseits der Wälder' mit Schaudern und wohligem Gruseln wahrgenommen wird. So ist Dracula nicht etwa das Schreckgesicht Rumäniens, sondern ein Spiegelbild, in dem Westeuropa seiner eigenen Teufelsfratze begegnet. Der siebenbürgische Dichter Dieter Schlesak hat in einer Arbeit über die Dracula-Legende diese Zusammenhänge informativ dargestellt. Auch der Beitrag Britta Boltes ist dieser Thematik in aufschlussreicher Weise nachgegangen. (...) 2. Paradigmenwechsel - Rücknahme der Dracula-Projektion Neben einer bewussten Auseinandersetzung mit der Schatten-Projektion im interkulturellen Wahrnehmungsprozess, wie sie das Dracula-Paradigma möglich macht, plädiere ich für eine tiefenpsychologisch begründete Ergänzung dieses Paradigmas und in diesem ergänzenden Sinn für einen Paradigmenwechsel. Das Dracula-Paradigma kann nämlich dem wahrnehmenden Subjekt keine Grundlage geben, die ihm helfen könnte, seine fatale Neigung zu projizierenden Abspaltungen ‚des Anderen' korrigierend zurückzunehmen. Gelänge es, dieses ‚Andere' - das ‚Böse', mythisch gesprochen, den ‚Teufel' (eben ‚Dracula') - als Teil des eigenen Selbst zu akzeptieren, müsste es nicht länger verteufelnd im anderen gesucht und gefunden werden. Wir nähern uns mit einer solchen Überlegung einem tiefenpsychologischen, letztlich religiösen Grundproblem des christlichen Kulturkreises. Dessen unzureichende Lösung gerade im Bereich der Wahrnehmung des Fremden hatte schlimme politische und soziale Folgen: In Juden, Hexen, ‚Abweichlern' jedweder Art fand man den Teufel wieder, der aus dem eigenen Selbst verbannt worden war. Ich verweise hier auf meinen Beitrag zur Ahlener ‚Woche der Brüderlichkeit' 1999: Auch die Projektion der Dracula-Gestalt entspringt nicht zuletzt diesem Problem, kann sie doch als ‚christlicher Teufel im transsylvanischen Exil' aufgefasst werden, aus dem er - Rache des verbannten Schattenbruders - ins lichte Westeuropa zerstörerisch heimkehrt. Ein Paradigma, das ich das ‚Klingsor-Paradigma' nennen möchte, könnte dem abhelfen. 3. Klingsor - Paradigma integrierender Wahrnehmung Auch die Klingsor-Gestalt ist eine transsylvanische Projektion Westeuropas, die aber im Unterschied zur Dracula-Gestalt des späten 19. Jahrhunderts weit ins Mittelalter zurückführt. Auch Klingsor steht für etwas Dunkles, Zwielichtiges, dem Bösen Nahes. Das wird aber in diesem Magier aus Siebenbürgen nicht als destruktiv, sondern als heilend wahrgenommen. ‚Das Andere' erscheint nicht abgespalten, sondern integriert. Dieser ganz andere Umgang mit dem Bösen wird in den Gralslegenden des 12. Jahrhunderts entwickelt, in deren deutscher Version Klingsor erstmals auftaucht: In Wolfram von Eschenbachs „Parzival"-Dichtung, die zu großen Teilen auf der thüringischen Wartburg entstand. Bei Wolfram verschmolzen Aspekte der keltischen Merlin-Gestalt der älteren Gralslegenden mit der Gestalt eines Zauberers, der im ‚Parzival' Clinschor heißt und noch in der halborientalischen Märchenwelt des staufischen Sizilien angesiedelt ist. Nach der Ehe des thüringischen Landgrafen mit der ungarischen Königstochter Elisabeth und der nicht zufällig nahezu gleichzeitigen Landnahme des siebenbürgischen Burzenlandes durch den Deutschen Ritterorden unter seinem thüringischen Hochmeister Hermann von Salza, rückte Siebenbürgen in den Wahrnehmungshorizont dieser aristokratischen Kreise zwischen Eisenach und Marburg. Zwar währte die Herrschaft des Ritterordens im Burzenland nur kurze Zeit. Aber sie hinterließ Spuren. Die Ritter bauten dort an der strategisch gefährdeten Südostspitze des Karpatenbogens ihre erste Marienburg, den Vorgängerbau der späteren gleichnamigen Ordenzentrale in Ostpreußen und gründeten Kronstadt. Die Ordenskirche von Tartlau soll beim Bau der Marburger Elisabethkirche, der ersten rein gotisch konzipierten Kirche Deutschlands, Pate gestanden haben. Nach Marburg hatte sich nämlich der Ritterorden zurückgezogen, nachdem es mit dem ungarischen König zu einem Zerwürfnis gekommen war. Vor seiner Übersiedlung nach Ostpreußen fand er dort zunächst Zuflucht. Er förderte nach Kräften den Kult, der sich nach dem Tod und der Heiligsprechung der Landgräfin Elisabeth zu entwickeln begann, lag doch die Ordenskomturei auf dem Gelände, wo die Heilige ihre letzten Lebensjahre in franziskanischer Armut verbracht hatte. In der Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda erscheint Klingsor als astrologisch versierter Magier, der die Geburt der Elisabeth in den Sternen liest: ‚Video stellam lucentem supra Hungariam!' 4. Transsilvanischer Merlin - eine integrierte Einheit der Gegensätze Der Blick auf diese historischen Zusammenhänge, denen wir auf unserer ‚Dracula-Fahrt' nachspürten, war notwendig, um zu verstehen, wie Klingsor, diese ursprüngliche Merlin-Gestalt der Gralslegenden, nach Siebenbürgen gelangte, genauer gesagt, wie es möglich war, dass diese ursprünglich im keltischen Raum Britanniens, von Wolfram dann im staufischen Sizilien angesiedelte Gestalt, nun plötzlich in Siebenbürgen wahrgenommen wird. Offenbar hatten die ritterlichen Kreise Thüringens inzwischen viel von dem weit entfernten Land ‚jenseits der Wälder' gehört. Dort in einer mythischen Ferne nahmen sie in Gestalt des Wolframschen Clinschor alles das wahr, was die kollektive Mentalität Westeuropas bereits in die Merlin-Gestalt projiziert hatte: Eine das allzu lichte christliche Gottesbild kompensierende Mischung aus Licht und Finsternis, Heiligem und Teuflischem, Christus und Antichrist, verschmolzen zu einer Einheit der Gegensätze in einem transsilvanischen Merlin. Meine eingangs aufgestellte These möchte ich jetzt dahingehend ergänzen: Was im Horizont des Dracula-Paradigmas nur als ein Abgespaltenes wahrgenommen werden kann, das Dunkle, Böse, kurz: der Schattenbruder, kann im Horizont des Klingsor-Paradigmas mit dem Lichten und Hellen vereint wahrgenommen werden. In tiefenpsychologischen Kategorien ausgedrückt: Das Dracula-Paradigma lässt uns den Schatten abgespalten und auf den anderen projiziert wahrnehmen, das Klingsor-Paradigma integriert und als Teil des eigenen Selbst. Damit verweist das Paradigma des transsylvanischen Merlin auf jenes bewusstseinstranszendente Zentrum, das C.G. Jung unser ‚Selbst' nennt und in vielen seiner Werke als ‚complexio oppositorum', als ‚Einheit der Gegensätze' beschrieben hat. Im Dracula-Paradigma wird das Selbst gewissermaßen halbiert wahrgenommen, gespalten in den Teil, mit dem wir und das kollektive Bewusstsein uns identifizieren, Gott und das Licht, und den Teil, mit dem wir nichts zu tun haben wollen, die Finsternis und ihre Teufel. Das Klingsor-Paradigma ermöglicht eine heilende Wahrnehmung dieser Spaltung, indem es das Zerrissene, Gott und Teufel, Christus und Satanael - die hell-dunklen Brüder des judenchristlichen Mythos der Ebioniten -, im Menschen wieder zusammenfügt. Zum Weiterlesen: Armbruster, A., Der Donau-Karpatenraum in den mittel- und westeuropäischen Quellen des 10 - 16. Jahrhunderts. Eine historiographische Imagologie (Studia Transylvanica), Köln/Wien 1990. Holzbrecher, A., Wahrnehmung des Anderen. Zur Didaktik interkulturellen Lernens, Opladen 1997. Jung, C.G., Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst, Solothurn/Düsseldorf 1995. Jung, E., v.Franz, M.-L., Die Graalslegende in psychologischer Sicht, Olten 51991. McNally, R.T. Florescu, R., Auf Draculas Spuren. Die Geschichte des Fürsten und der Vampire, Berlin/Frankfurt 1996. Schlesak, D., Die Dracula-Legende, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, Heft Nr.1/1997. Stoker, B., Dracula, Bergisch Gladbach 1993. Wurmser, L., Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, Berlin 1998. Zimmer, H., Merlin, in: ders., Abenteuer und Fahrten der Seele. Ein Schlüssel zu indogermanischen Mythen, Köln 1987, 189-209.   Zum Dracula-Park in Schässburg Diese Stadt hat viele Stürme in ihrer bewegten Vergangenheit durch den Mut und die Tapferkeit der Schässburger überstanden, sogar die bisher letzte Bedrohung, die Abrisswut des Bukarester Diktators - und nicht zuletzt dem Zahn der Zeit hat sie getrotzt! Jetzt hat Globalisierung samt Amerikanisierung auch Schässburg erreicht. Die Weltaufmerksamkeit hat sich auf die Stadt gerichtet, die Bergkirche, namhafte Häuser wurden restauriert, die UNESCO hat Schässburg zum Weltkulturerbe erklärt! 1999 erhielt Schässburg auch die Ehrenfahne des Europarates. Aber Weiteres ist schon geplant und durchgerechnet: Das deutsche Unternehmen Westernstadt Pullmann City soll das sogenannte „Dracula-Land" (Läääänd), soll einen Horrorpark bauen! Planen wird es die Balzer Continental Inc. - aus den U.S.A. Die Erstellung der Infrastruktur übernimmt Siemens. Und zum Projekt gibt es schon einen Regierungserlass vom 6. Juli 2001. Wie eine Faust aufs Auge - schon der englische, nicht der deutsche oder rumänische, Name des angeblich 60 Hektar großen Monsters! Ein Disneyland mit Vampiren aus Pappmaché unte r den tausendjährigen Eichen (ach was, die werden gefällt)! Obwohl es ein Gesetz gibt, das die Breite zum Naturreservat erklärt. Obwohl die UNESCO jede ökologische Veränderung in dieser Stadt genehmigen muss. Und dann die geplante Drahtseilbahn von der Breite zum angeblichen „Dracula-Haus" auf der Burg. Man stelle sich die Abertausenden von Touristen in den engen Gassen der Stadt vor! Mit einer Million Stadtzertramplern aus Rumänien und aller Welt rechnet der Tourismusminister. Aber Geld regiert die Welt. Und dieser Kommerz-Dracula hat mit dem Geschäft zu tun, kaum aber etwas mit Schässburg und den Schässburgern. Vlad soll in Schässburg, im ehemaligen Altfrauenheim, heute Dracula-Restaurant auf der Burg, im Jahre 1431 geboren sein. Sicher, wir dürfen nicht blind sein, die Augen vor der Not der Stadt verschließen, der Armut, dem Zustand der Wirtschaft, der hohen Arbeitslosigkeit. Solch ein Dracula-Land mit Millionen Touristen würde Geld und Arbeit in die Stadt bringen. Doch das wahrscheinlich nur kurzfristig, das Interesse würde erlahmen wie bei vielen ähnlichen Freizeitparks, die kaum Einnahmen bringen, nur Ausgaben. Das Plastik-Dracula-Land würde veröden, was noch schlimmer wäre als reges Leben. Auch ohne Dracula-Land werden die Touristen kommen um das Dracula-Haus zu sehen. Es gilt eher, diesen Strom einzudämmen, in Bahnen zu lenken, die die Bausubstanz schonen. Die dringend benötigten Einnahmen würden der Stadt auch dann zufließen, wenn sie mit dem Dracula-Phänomen, das auch Tiefgang hat, unsere Ängste um Liebe und Tod anspricht und zur okzidentalen Kultur gehört, so umgeht wie die Schweizer mit ihrem „Heidiland" umgehen oder die Franzosen mit ihren Loire-Schlössern, die Deutschen mit ihrem Kölner Dom, die Italiener mit ihrem Florenz. Weshalb sollten Touristen und Interessierte nicht über den wahren Hintergrund der Dracula-Legende aufgeklärt werden? Vorträge, Seminare, Filme, ja, eine Bibliothek und ein Archiv über Dracula, über Vlad Ţepeş, die den Zusammenhang Ţepeş-Dracula erläutern, könnte in seriöser wissenschaftlicher Sicht, über das Problem Dracula und das Vampir-Thema informieren, über die Filme, die zahlreichen Romane und Erzählungen. Das würde viele wissbegierige Menschen anziehen. Es wäre der Stadt und ihrer Vergangenheit würdiger als dieser kommerzielle Kitsch-Klamauk mit dem Dracula-Land. (7.1.2002, erschienen in: Süddeutsche Zeitung und Siebenbürgische Zeitung. http://www.perlentaucher.de/feuilletons/2002-01-07.html ) Die Proteste hatten Erfolg. Der Dracula-Park wurde nicht gebaut! Online: DIE DRACULA-LEGENDE: Bei Google: dritte Position nach Wikipedia: http://www.sibiweb.de/dracula/legende/     VLAD, DER TODESFÜRST Dracula-Wappen. Geburtshaus von Vlad Ţepeş (?). DENNDORF UND DER HEILIGE JOHANNES KELPIUS   Wir erreichen Trappold, den Geburtsort des sächsischen „Nationaldichters" Michael Albert, dessen Werke ich noch in Bukarest herausgegeben hatte, mein Klavierlehrer, ein Verwandter, war sein Sohn. Mein Gott, Trappold, wo ich so oft als junger Lehrer von Schäßburg kommend durch den aufgeweichten Strassendreck, oft das Rad auf der Schulter schleppend, nach Denndorf „gegangen", durchgeradelt war, wenn es der Dreck erlaubte. Das Dorf liegt an „unserem" Schaaser Bach, der durch Schäßburg fließt, in die Große Kokel mündet. Mein Kindheitsbach in der Steilausommer¬frische, mein erster Bach der Welt, die Kokel, mein erster Fluss. Trappold nun, die Kirchenburg auf einer Bergkuppe inmitten des Ortes. Ich filme. Sehe den Riss im Turm. Wir gehen hoch, ich drücke gegen die uralte Tür, oh Wunder, sie geht auf. Trappolder Kirchenburg (1504/1507) Torturm und Glockenturm Ein junger Ostdeutscher begrüßt mich, Kunst¬tischler, er restauriert die Burghüterwohnung am Eingang, will sich hier niederlassen und hat auch einen Verein gegründet: „Corona, Verein für lokale Initiativen, Berlin", mit mail und Adresse. Und hat vor, die Burg bewohnbar zu machen und zu bewirtschaften, sie als geistlich-geistigen Treffpunkt des Ortes zu öffnen, den sanften Tourismus zu befördern, Agrotourismus, kulturell und sozial im Dorf zu verankern. Er führt uns zuerst durch das Westportal in die Kirche, zeigt uns den Altar, der wurde von Johann Theiss aus Schäßburg hergestellt, sagt der Ostdeutsche, dann die Orgel, sie wurde vom gleichen Schäßburger Meister gebaut. Und erzählt dann von einem Fund auf dem Dachboden des Chores, eine lebensgroße Holzplastik des gekreuzigten Christus, ein Werk von Veit Stoss oder von einem seiner Söhne, eine Plastik, die nun im Agnethler Museum aufbewahrt wird. Vom Altar ist schon ein Engel gestohlen worden, es wurde eingebrochen. Besonders schön sind die Malereien auf der Empore, auch diese können die Kunstdiebe nun, ebenso wie einzelne Orgelpfeifen, abmontieren und abtransportieren. Der Ostdeutsche will dafür sorgen, dass der Verein Wächter einsetzt und bezahlt. Dann führt er uns zum innern Glockenturm bis zur Aussichtsgalerie, wo wir hinab sehn auf die beiden „Fruchthäuser", die ihm der Bürgermeister zur Verfügung stellen wolle. So ähnlich ergeht es eben den meisten von den Sachsen verlassenen uralten Kirchenburgen. Es gibt keine Pfarrhäuser und Pfarrer, ja, nicht einmal sächsische Familien mehr im Dorf. In Denndorf sei noch eine einzelne sächsische Familie, die dort lebe. Der totale Exodus. Vor kurzem war der britische Prince Charles in Siebenbürgen, er rief wieder zur Erhaltung dieser einmaligen Kulturdenkmäler auf, ein Teil davon wie Deutschweißkirch und Malmkrog gehört ja zum Weltkulturerbe. Der Architekt Hermann Fabini hat einen Atlas sämtlicher Kirchenburgen und Dörfer herausgegeben, es sind über 250, es gab einmal 300, erbaut nach dem Grundprinzip „turris sive ecclesia". Ursprünglich im 13. bis 14. Jahrhundert erbaut, waren es verteidigungsreife romanische Kirchen mit zinnengekrönter Umfassungsmauer. Dann später waren es Bergfriede mit Wehrtürmen. „Vaterunser in der Not" wurden sie auch genannt. Es sind Meisterwerke abendländischer Baukunst dieser im 12. Jahrhundert aus der Rhein-Moselgegend von ungarischen Königen „ad retinendam coronam." nach Transsylvanien gerufenen Siedler und einmalig in der Welt. Burgen und Wehrbauten in dieser Dichte gibt es sonst nirgends auf der Erde. 1990 waren wir noch in Denndorf gewesen. Kurz vor dem großen Exodus der Sachsen. Denndorf, wo ich vor vielen Jahren Lehrer gewesen war; ich wollte mich nicht zu erkennen geben; wir gingen zuerst zur Kirche und zum Kirchhof, viele Namen las ich da, vor den Augen die Zeilen verschwimmend, Namen, die ich kannte. Der schöne große Pfarrhof, Gras wucherte im Hof, war verlassen. Der Pfarrer der Nachbargemeinde versorgte die wenigen Sachsen. Luftaufnahme von Denndorf. Foto: Georg Gerster Auf der Hauptstraße sah mich eine ältere Frau mit einem Kind an der Hand durchdringend an, dann fiel sie mir mit einem Schrei um den Hals, Herr Liehrer! Eine ehemalige Schülerin, jetzt Großmutter, die damals 10 gewesen war, „hier, dies ist meine Enkelin", sagte sie weinend. Und ich musste natürlich mitkommen, bekam zu essen und Ţuica zu trinken. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, „der Herr Liehrer äs kun!" Sie begrüßten mich mit Tränen in den Augen. „Sie sind noch zur rechten Zeit gekommen, Herr Lehrer, in einem Jahr hätten Sie hier niemanden mehr angetroffen. Nur eine Familie will nicht auswandern. Wir haben hier keine Zukunft mehr, die Kinder wollen nicht bleiben! Viele sind schon in Deutschland. Jetzt ist es zu spät, noch hier zu bleiben, hä än aaser alden Gemien. Hier in unserer alten Gemeinde. Wir sind alle kaputt, das viele Arbeiten nach der colectivizare, und der Nervenkrieg jahrzehntelang! Aber es wird dort in Deutschland eine große Umstellung brauchen", sagen sie, „wir werden dort alle seelisch zu Grunde gehen... vun hä aus der alden Gemien, der alten Gemeinde in die großen Städte des Westens..." Als wir abfuhren, standen sie da und winkten, weinend; so werden sie „für immer" gehen, das Haus absperren, wozu noch? Ein letzter Blick ins Zimmer, auf die Scheune, den Hof, wo sie ihr Leben zurücklassen. Fort, nach Deutschland, wo sie fremd sind! War es Großvater nicht ähnlich ergangen, als er „für immer" sein Baiergaßhaus in Schäßburg verließ! Bei mir war es anders gewesen, ich hatte mich frei gefühlt, frei, es war wie ein Rausch, alles einfach zurückzulassen, ein freier Raum, hinter mir die Sintflut... kein Blick zurück, der Blick zurück kam dann jahrzehntelang nach, schmerzt immer noch! Damals 90 waren wir über Schaas und Trappold nach Denndorf gefahren. Wie arm und karg die Landschaft, wenn man aus dem Westen, gar aus der Toskana kommt. Auch die Dörfer, nur in der Erinnerung sind sie groß und schön. Jeder Stein ist noch da, vertraut, hier fuhr ich mit dem Rad als junger Lehrer durch den Dreck zur Schule. Die Steigung, jetzt, rechts dunkel der Wald. Ich habe oft von diesem Ortsausgang, und dann von der nächsten Brücke geträumt: Hier zwischen diesem und dem nächsten Dorf gibt es ganz sicher unsichtbar eine Himmelsleiter, dort am Bach, da muss es eine versunkene Stadt gegeben haben. Die alte Mühle ist verlassen, vernagelt, wie ein altes Hirn. Wie verschieden diese Abendstimmungen, das Östliche ist fahler, weiter, gespenstischer als der Süden. Diese starken Gefühle sind erinnert, das Augenbild aber, das nahe, ist jetzt fast schon fremd; wir halten unter Pappeln. Ich gehe ein paar Schritte in den Acker hinein, erstaunt sehen die Leute aus einem vorbeifahrenden Pferdewagen herüber. Es ist eine Stimmung, die sich nicht schließen kann. Die Gräber sind mit Betonplatten gedeckt, denn wer soll noch Blumen bringen? So fand ich auch den Friedhof in Denndorf. Vor dem Friedhof der große schöne Pfarrhof, die Fensterläden, der Hof, er ist verlassen. Und ich erinnerte mich an das Gespräch mit Bischof Klein: „Wenn man in die Gemeinden kommt, wo es den Leuten wirklich nicht gut geht, die jammern und klagen könnten, und sie tun es nicht! Wenn man sieht, wie es doch eine Art Ergebenheit gibt, die immer schon ein Kennzeichen der Siebenbürger Sachsen war, Dankbarkeit dann doch für das, was sie haben, dann muss man es auf das Konto eines tieferen Glaubens setzen, das Wissen: Unser Herrgott wird uns schon helfen, der verlässt niemanden. Das hört man oft. Man findet es auch bei den Jungen. Nicht so wie bei den Orthodoxen, nicht so klar und bewusst, wir sind ja durch die Reformation und die Aufklärung durchgegangen, alles ist nicht mehr so einfach, doch diese Vertrauens-Grundhaltung ist da, gerade auch in dieser Verlassenheit und Einsamkeit, wo es keine Gemeinschaft mehr gibt. Die Kirche ist dann noch das einzige was sie haben, das höre ich sehr oft. Es gibt keine anderen Angebote auf dem Dorf, wo sich noch jemand um sie kümmert. Und dann ist es wichtig, dass der Pfarrer immer wieder kommt, wenn auch nur alle zwei Wochen, dass man sich um sie kümmert, dass sie sich austauschen können." (Eine Transsylvanische Reise) ) Denndorfer Chor 1952 in Kronstadt beim Landeswettbewerb. Dirigent (sitzend), der Autor Ach, mein Dorf, ach, Denndorf. Da war ich mit Hannah auch gewesen, vor einigen Jahren war das gewesen: Aber da hängt jetzt ein Schleier davor wie der trübe Himmel da oben, die Augen: Vergeht es dir? Damals 90, gleich nach der Revolution war ich mit Hannah über Schaas und Trappold auch nach Denndorf gefahren, wo ich vor vielen Jahren Lehrer gewesen war; ich wollte mich nicht zu erkennen geben; wir gingen zuerst zur Kirche und zum Kirchhof, viele Namen, die ich kannte. Der schöne große Pfarrhof, Gras wucherte im Hof, er war verlassen. Der Pfarrer der Nachbargemeinde versorgte die wenigen Sachsen. Auf der Hauptstraße sah mich eine ältere Frau mit einem Kind an der Hand durchdringend an, dann fiel sie mir mit einem Schrei um den Hals, „Herr Liehrer!" Eine ehemalige Schülerin, die damals 10 gewesen war, sagte: „Hier, dies ist meine Enkelin." Und ich musste natürlich mitkommen, bekam zu essen und Tzuika zu trinken. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, „der Herr Liehrer äs kun!" Sie begrüßten mich mit Tränen in den Augen. „Sie sind noch zur rechten Zeit gekommen, Herr Lehrer, in einem Jahr hätten Sie hier niemanden mehr vorgefunden. Nur sechs Familien wollen noch bleiben, alle, alle auswandern. Wir haben hier keine Zukunft mehr, die Kinder wollen nicht bleiben! Viele sind schon in Deutschland. Ja, vor zehn oder fünfzehn Jahren! Aber jetzt ist es zu spät! Wir sind kaputt, das viele Arbeiten nach der colectivizare, und der Nervenkrieg jahrzehntelang! Aber es wird dort in Deutschland eine große Umstellung brauchen", sagen sie, „wir werden dort alle seelisch zu Grunde gehen... von hä aus der alden Gemien, der alten Gemeinde in die großen Städte des Westens..." Als wir abfuhren, standen sie da und winkten, weinten; so werden sie auch beim endgültigen Abschied und für immer gehen, das Haus absperren, wozu noch? Ein letzter Blick ins Zimmer, auf die Scheune, den Hof, wo sie ihr Leben zurücklassen. Fort, nach Deutschland, wo sie fremd sind! War es Großvater nicht ähnlich ergangen, als er „für immer" sein Baiergaßhaus verließ! Bei mir war es anders gewesen, ich fühlte mich frei, es war wie ein Rausch, kein Blick zurück, der Blick zurück kam dann jahrzehntelang nach, und hat auch jetzt kein Ende gefunden! Und dann Nach einem Jahr nach zweien Vernarbt der Flüchtling in uns Nachts zwischen zwölf und eins Geht er manchmal noch um Tastend die Hände verletzt am Grenzpfahl Irr ich kann es nicht fassen das Land Hinter der Tissa der Theiß. Und dann nach einem Jahr nach zweien Bricht das Herz von der Stange Über sich selber den Stab. Und ich sehe diese langen Lakel vor mir, Väter meiner Schüler in Denndorf, als ich dort Lehrer war, da stand ich mit dem Misch, dem Gunnesch Misch, der so schön das Flügelhorn blasen konnte, im Schweinestall ... auch er, wie fast alle sächsischen Wehrpflichtigen, war bei der SS, er aber war bei den KZ-Wachmannschaften gewesen. Und er sagte plötzlich und wie aus heiterem Himmel, als müsse er eine große Last loswerden: „Herr Liehrer, sängt ech dat do gesähn hun, kon ech nemmi schloofen! Herr Lehrer, seit ich das dort gesehen habe, kann ich nicht mehr schlafen!" Brief an Waltraud Schuster (Zoppelt) Camaiore, 23. August 2006 „Liebe Traudi, danke von herzen für deinen langen schönen brief, vor allem auch dafür, dass du so anteil genommen am tode meiner mutter und auch an dem begräbnis mit den liedern, der bergglocke ... ja, du warst dabei, und du warst auch bei meiner lesung in dinkelsbühl mit deiner schönen stimme und deinem gefühl dabei! Ich schicke dir hier den anfang meines neuen buches mit, wo dieser schwarze tag und der todes-februar geschildert wird, denn seit meine mutter tot ist, gibt es für mich nun diesen endgültigen abschied, alles versinkt immer mehr, was einmal war; das erstaunliche freilich ist, dass über mein schreiben, das ja immer eine heimkehr war, nun von aussen diese neue zeit als heimkehr auf mich zukommt, dass es , du weißt davon, es in schässburg das literaturkabinett gibt, das meinen namen trägt, meine stiftung in meinem geburtshaus, bald ist es so weit, dass dieses von lehrern , doktoranden etc. bewohnt werden kann. Und 2007 eingeweiht werden soll. Es also „wiederaufersteht", was bisher sozusagen nur noch in meiner erinnerung und in meinen büchern und in meinem gefühlwar. Und ich noch „praktisch" etwas für unsere alte heimat getan und auch weiter tun kann mit dem in der fremde erarbeiteten und auch mit meinem namen." Miker ist jetzt dort. Will mir berichten. Miker war auch beim Begräbnis, er ist ein unendlich treuer freund, und es ist erstaunlich, was das älterwerden nicht nur an verlusten, sondern auch an neuem zusammenkommen einiges bietet... so auch, dass es dich für mich wieder gibt, gehört dazu. Und du warst jetzt auch „zu hause", und das mit deinen beiden starken söhnen, wie schön das ist! Welch eine „heimkehr". Ja, die Weltkulturstadt Hermannstadt mit Luxemburg), auch das kein zufall. Und ich hab überlegt, ob ich nicht die von mir ins sächsische übersetzten eigenen gedichte an leseabenden in beiden städten vortragen und über „alles" dann rechen und diskutieren soll. Ich weiss, liebe Traudi, auch Hermannstadt ist anders, alles ist anders, ich hab wenig wiedererkannt, und du beschreibst es auch, wie fremd dir die stadt geworden ist. Ich weiss nicht, ob du meine „TRanssylvanische Reise" kennst, dort hab ich dieses Nicht-Mehr-Wiedererkennen, wie sich die alte erinnerung, auch in schässburg, dann besonders in denndorf, an der mauer der wirklichkeit den kopf einschlägt, nichts mehr wird wiedergefunden, in H. und Sch., geschildert. Durch das Neue, die renovierungen, das rasante neue, im armen denndorf durch den verfall, die ruinen, das sterben. Wobei, wie du es jetzt in diesem jahr vorgefunden hast, noch viel schlimmer ist, ich bin nicht mehr dorthin gefahren, mein besuch war 90, als es noch irgendwie lebte. Und ich hatte auch diese tränen und rührung und umarmungen wie du. Und es gab noch schülerinnen von mir, die mich einluden, mir tzuika mitgaben und speck. Kurz vor dem endgültigen verlassen der heimat. Aber dass dein elternhaus noch gut gepflegt ist... wie schön. Was du da mit kirche und schule beschreibst, furchtbar! Als wärst du auch für mich dort gewesen, für uns beide wohl: ein letzesmal! Dass man so was sagen muss... kann.. Und zum schluss: friedhofsgang dort. Wir: hier: mit grabsteinen im gepäck. Aber du hast recht: es ist so, als wäre das, was wir in uns tragen WIRKLICHER, jedenfalls für uns. Ich danke dir, liebe Traudi, dass wir noch ein letztes mal (nun durch deinen brief zusammen)dort waren, es stimmt: wo ich glückliche und ausgefüllte jahre verbracht habe, das kann mir keiner nehmen, auch das denndorf von heute nicht! Wä andersch bäst te worden/ menj uerem Himet ta! Und leg deinen brief in das Denndorf-Buch ein, sozusagen „für immer"! Und nun: Sei herzlich umarmt von deinem alten Dieter Vor 300 Jahren gestorben: Johannes Kelpius, erster sächsische Auswanderer nach Übersee Der Mannschaft von Christoph Kolumbus, der 1492 Amerika entdeckte, sollen, wie eine Anek¬dote erzählt, auch zwei Siebenbürger Sachsen angehört haben, die sich bei der Rückkehr vom Landurlaub in der neuen Welt verspäteten, da sie, so erklärten sie entschuldigend, einen Lands¬mann angetroffen hätten. Darüber schmunzelt man natürlich. Der erste nachweisbare Sachse, der die neue Welt betrat, war Johannes Kelpius (Kelp), der am 20. September 1667 in Denndorf als Sohn des Pfarrers Georg Kelp geboren wurde. Nach dem Studium der Theologie an den Universitäten von Tübingen, Leipzig und Altdorf bei Nürnberg schloss er sich der Bruder¬schaft der Rosenkreuzer an und wan¬derte mit 40 Brüdern, die ihn zu ihrem Leiter gewählt hatten, nach Nordamerika aus. Sie wollten dort zurückgezogen das Kommen des biblischen Tau¬sendjährigen Reiches und das Wiedererscheinen Christi erleben, das nach der Berech¬nung eines Rosenkreuzers 1694 zu erwarten war. In Penn¬sylvania erhielten sie ein Grundstück in der Ein¬öde am Wissahickon Creek, wo sie gemeinsam in einem Blockhaus wohnten und die Felder bebauten. Nachdem das Tausendjährige Reich nicht anbrechen wollte, verließen immer mehr Eiferer die Ge-meinschaft. Kelpius zog sich als Eremit in eine künstlich errichtete Höhle zurück, wo er sich der Meditation und dem Beten hingab sowie astrologischen Berechnungen nachging. Hier starb er vor 300 Jahren, 1708. Einweihung des Gedenksteines für Johannes Kelpius anlässlich des ersten Heimattreffens in Cleveland/Ohio 1963. Kelpius hat mehrere theologische Schriften verfasst, von denen einige schon in Altdorf erschienen waren. Er hinterließ auch Gedichte und Kompositionen. Seine bedürfnislose, fromme Lebensweise ließ ihn in der Erinnerung als „Heiligen" weiterleben. Er wäre somit der einzige Heilige, den die Siebenbürger Sachsen hervorgebracht haben. Kelpius hat sich in der Kolo¬nie der Rosenkreuzer auch als Lehrer betätigt. Seine Schule soll die erste deutsche Schule in Nordamerika gewesen sein. Sein schriftlicher Nachlass soll sich im Besitz der Philosophischen Gesellschaft in Philadelphia befinden. Zum Gedenken an ihn haben 1963 seine sächsischen Landsleute in den USA ihm auf dem „Sachsenacker" bei Cleveland/Ohio ein schlichtes Denkmal errichtet. Ein zweiter sächsischer Theologe, Lucas Rauß von Kronstadt, kam 1749 ebenfalls nach Penn¬sylvania, ließ sich zunächst in Philadelphia und dann in Yorktown nieder, wo er als Pastor bis zu seinem Tode (1788) wirkte. (Siebenbürger Zeitung, 30. Dezember 2008) KELPIUS, Johann KELPIUS, Johann, * 1673 bei Schäßburg, † 1708 in Roxborough/Germantown, Pennsylvania. Mystiker, Rosenkreuzer, Esoteriker, Alchimist, Dichter, Siedlungsgründer. - Johann Kelp (latinisiert Johann Kelpius, angliziert John Kelpius) wurde nahe dem transsilvanischen Schäßburg, Siebenbürgen, in einer wohlhabenden Familie geboren. Für die Legende seiner adeligen Herkunft fehlen abgesicherte Belege. Zwölf Jahre nach der Geburt verstarb am 25. Februar 1685 sein Vater Georg Kelp, der als lutherischer Pastor angestellt war. Wohlhabende Gönner, drei Freunde seines Vaters, sicherten seinen Lebensunterhalt bis zum Abschluß seiner Universitätsstudien. Bereits durch eine solide Schulausbildung hatte er die Sprachen Hebräisch, Latein und Altgriechisch erlernt. Das Englische brachte er sich später autodidaktisch bei. Kurzzeitig hielt er sich an den Universitäten zu Tübingen, Leipzig, Helmstedt und Altdorf auf, wo er nachweislich unter Johann Fabricius (1644-1729) Theologie studierte und lehrte. 1689 erwarb er in Altdorf den Magistergrad mit einem Traktat über natürliche Theologie. In den nächsten Jahren sollte er sich dem Pietismus zuwenden und ein radikaler Vertreter dieser Richtung werden. - Um für die Endzeit vorbereitet zu sein, gründete Kelpius mit weiteren radikalen Pietisten ein "Chapter of Perfection" als eine Grundlage, durch die das Himmlische Jerusalem herbeigeführt werden sollte. Johann Jakob Zimmermann (1642-1693), der geistige Vater dieser Gruppe, hatte den Weltuntergang auf den Herbst des Jahres 1694 berechnet. Kelpius hatte Zimmermann in Nürnberg während seiner Lehrtätigkeit an der Universität zu Altdorf kennengelernt. Dieser war wegen seiner heterodoxen Ansichten als Diakon von Bietigheim (Württemberg) entlassen worden und mußte ein unstetes Wanderleben durch Deutschland führen, was der Ausbreitung seiner Ideen nicht unförderlich war. Mit weiteren Mitgliedern dieses "Chapters of Perfection" sah man sich zur Auswanderung nach Amerika genötigt, um dem drohenden Untergang der alten Welt zu entfliehen. Nach dem Tode Zimmermanns unmittelbar vor Reiseantritt in Rotterdam im August 1693 wählte die Gruppe Kelpius zu ihrem neuen Führer. Die etwa vierzigköpfige Gruppe, die sich aus Männern wie Frauen zusammensetzte, verließ Rotterdam und hielt sich zunächst für einige Monate in England auf. In London verkehrte Kelpius mit Jean Leade (1624-1704), John Pordage (1607-1681) und Alexander Mack (1679-1735). Im Februar trat die Gemeinschaft die Atlantiküberfahrt auf dem Schiff "Sarah Maria Hopewell" unter Kapitän Tanner an und traf am 22. Juni 1694 in Bohemia Landing (Maryland) ein und einen Tag darauf, am 23.06.1694, in Philadelphia, dem weltweiten Zentrum religiöser Toleranz. Auf der Überfahrt hatte Kelpius ein Tagebuch in lateinischer Sprache geführt, welches später ins Englische übersetzt und gedruckt wurde. - In der neuen Welt angekommen, entschloß sich die Gruppe zur Gründung einer Siedlungs- und Lebensgemeinschaft nach dem Vorbild der apostolischen Frühkirche. Ihre Ausreise nach Amerika hatten sie mit der Flucht des Weibes vor dem Tier der Endzeit (vgl. Kapitel XII der Offenbarung) verglichen; in Anlehnung daran wurde ihre Lebensgemeinschaft "Society of the Woman in the Wilderness" oder "The Mystics of the Wissahickon" genannt. Sich selbst nannten sie "The Contended of the God Loving Soul". Mitglieder waren unter anderem Daniel Falckner (1666 - ca. 1741), Heinrich Bernhard Köster (ein ehemaliger lutherischer Pfarrer und späterer Quäker), Ludwig Biedermann, Daniel Luckius und Johann Gottfried Seelig, die alle bereits Reisegefährten der Überfahrt waren. Zu den ersten Mitgliedern stießen bald weitere europäische Gelehrte, denen es nach einem radikalem christlichem Leben stand. 1704 traf Conrad Matthäi aus der Schweiz (Kanton Bern) ein, es folgten Christoph(er) Witt, ein Arzt, und Daniel Geissler (gest. 1745). Wenige blieben für längere Zeit, so dass die Zahl der Hermiten permanent schwankte. - Zum Ort der Errichtung der Kommunität wurde ein Platz nahe am Ufer des Wissahickon River "on the Ridge" unweit von Germantown ausgesucht, wo der Fluß in den Schuylkill River mündet. Die Orte Hermit Spring und Hermit Lane im Fairmont Park erinnern noch heute an die frühesten europäischen Siedler in diesem Gebiet. Die Bewohner hausten in kleinsten Zellen und gönnten sich keinen Komfort. Ihre Kleidung bestand aus einem schlichten grauen Kittel. Kelpius richtete es sich zusätzlich in einer Höhle ein, wo er sich ganz seinen mystischen Stimmungen hingeben konnte. In einem Schulgebäude wurden die Kinder der Umgebung kostenlos unterrichtet. Die Deutschen der näheren Umgebung suchten bald regelmäßig bei der Gemeinschaft Rat und Hilfe. In Germantown und Philadelphia feierten die Brüder gelegentlich Gottesdienste, wie auch umgekehrt Bewohner dieser Städte an den öffentlichen Gottesdiensten der Hermiten teilnahmen. Es wurde ein geräumiges Gemeinschaftshaus errichtet, das auch der Aufnahme von Gästen diente, denen man keine der Zelle zumuten wollte. Auf dem Dache des Gemeinschaftshauses wurde ein Observatorium errichtet. Damit beobachteten die Brüder ununterbrochen mit einem Teleskop das Firmament nach Himmelserscheinungen wie Meteoriten, Wolkenformationen, Kometen und Verfärbungen in der Atmosphäre, die auf die Endzeit verweisen könnten. Denn auch nach der falschen Prophezeiung für das Jahr 1694 wurde an dem Glauben des Hereinbrechens der Endzeit und an der baldigen Erscheinung Christi (Second Coming) festgehalten. Es wurde ein Arboretum und ein Kräutergarten angelegt, in dem Heilpflanzen wuchsen. In diesem Garten wurde aus Europa mitgebrachtes Paracelsisches Wissen mit der Heilkunde der umliegenden medizinkundigen Indianer vereint. Einige der Kräuter waren als Samen bei der Überfahrt mitgebracht worden. Insbesondere das in Amerika unbekannte Johanniskraut spielte eine besondere Rolle innerhalb mystisch-esoterischer Kulthandlungen. - Die Gemeinschaft lebte zölibatär, wenn auch die Ehe kein Ausschließungsgrund war. Kelpius jedoch blieb bis zuletzt unverheiratet. Einsiedler waren die Brüder nur dem Namen nach. Sie hatten vielfältige briefliche und persönliche Kontakte mir der "Welt" und wurden in ihrer sonderbaren Lebensform in der "Einsamkeit" bekannter, als sie es jemals in Philadelphia oder einer anderen amerikanischen Stadt hätten werden können. Die Entbehrungen des hermitischen Lebens und die permanenten Kasteiungen griffen allerdings die Gesundheit des Kelpius schwer an. Sein geschwächter Körper erkrankte an Tuberkulose und er verstarb noch vor dem Mai 1708 während des Unterrichtens im Garten. Nach dem Tod Kelpius' verfiel seine Sozietät schnell. Seelig, der in den folgenden Jahren die Gesellschaft leitete, blieb kaum etwas anderes als die Nachlaßverwaltung übrig. Ihm fehlte es zwar nicht an spekulativen esoterischen Ideen, doch mangelte es ihm an Führungsqualität und Menschenkenntnis, solche auch in die Wirklichkeit zu transformieren. Manche der Hermiten ergriffen die Gelegenheit zur Hochzeit, vorzugsweise diejenigen, die zuvor am heftigsten gegen den Stand der Ehe opponiert hatten. Andere traten anderen Religionsgesellschaften bei, die meisten zu den "Seventh Day Baptistis" in Ephrata. Über die Jahre verfielen die Baulichkeiten, lediglich die Fundamente sind heute noch erhalten. Teilweise wurde auf ihnen erneut gebaut. Die Ruinen waren schnell mit zahllosen Fuchsbauten versehen und wurden von den Einheimischen als "Burrow of Rocks", also Rocksburrow bezeichnet, heute Roxborough. - Die theologischen Spekulationen des Kelpius bewegen sich zwischen einem radikalen Pietismus und einem esoterischen Rosenkreuzertum. Schon in Europa war er mit den Schriften des Philipp Jakob Spener (1635-1705) vertraut und galt als sein Anhänger. Darüber hinaus studierte er die Kabbala, vertiefte sich in den Paracelsismus und begeisterte sich für die Schriften des Mystikers Jakob Böhme (1575-1624). Er unterhielt eine umfangreiche Korrespondenz (überwiegend in Latein, in einigen Fällen in Deutsch und in zwei Briefen in Englisch) mit Philadelphiern in England, mit Pietisten in Deutschland und mit Mennoniten, Quäkern und Mitgliedern der "Seventh Day Baptists" in Amerika. Zu seinen Freunden zählten Roland Rudman (1668-1708), Erick Tobias Biörck (1668-1740) und Jonas Auren (gest. 1715); sein vielleicht bedeutendster Schüler war William Levering (1679 - ca. 1746). Konrad Beissel (1691-1768) wurde nachweislich durch die Lebensgemeinschaft des Kelpius zu seinen eigenen Unternehmungen angeregt. Auch die Londoner Gründung des "Masonic Rite of Perfection" ist durch Kelpius mitbeeinflußt. Ebenso hatte wahrscheinlich der radikale Quäker Benjamin Lay (1682-1759), der unweit der Hermiten in einer Erdhöhle an der York Road bei Branchtown hauste, Kenntnis vom Treiben der Brüder. Die vielen Denominationen außerhalb der Konfessionen, mit denen Kelpius in Verbindung stand und die alle beanspruchten, die wahre Kirche zu sein, waren für ihn Anlaß der Betrübnis: "Eine hat etwas sonderliches und dem Bilde der Vollkommenheit sehr ähnliches, dessen die andere manquiret, die andere wiederum etwas so jener fehlt. Je darnach rühmet sich eine jede als die beste und schönste unter allen diesen Weibern und die letzte (darunter versteht Kelpius wahrscheinlich die Quäker, Anm. d. A.) will gar die einzige Taube sein, ihre Mutter die liebste, oder das neue Jerusalem selbst" (Seidensticker, Johannes Kelpius, 1870, 71. Im Original siehe Kelpius, Diarium, 1917, 65). Die irdische Kirche ist für Kelpius hingegen "The City of Babylon", "The Earthly Jerusalem", "The Corporeal Wilderness" oder "Egypt". Dagegen steht die "wahre Kirche", die im Himmlischen Jerusalem gebildet sei. Das Erscheinen des Himmlischen Jerusalem stellt er sich folgendermaßen vor: "Wenn der letzte Stein wird vollendet sein, dann wird der Bau ohne Hammerschlag, ohne Rumor und Geschrei plötzlich erscheinen in seiner göttlichen Pracht, Herrlichkeit und Schöne" (Seidensticker, Johannes Kelpius, 1870, 69). Vorstellungen des Himmlischen Jerusalem mischen sich hier mit dem Bild des Tempels Salomons, dessen Steine ohne lautes Sägen paßgenau angefertigt worden sein sollen. Endzeitliche Gedanken beschäftigten Kelpius zeitlebens, und seine prämilleniaristischen Ansichten haben ihn nur Dank seiner quietistischen Grundhaltung nicht zum Enthusiasten werden lassen. Meditation, Kontemplation und Gebet machten einen Großteil seines Lebens aus. Sein in pietistischen Kreisen äußerst einflußreiches Werk "Kurzer Begriff oder leichtes Mittel zu beten" (1756) war in allen amerikanischen Kolonien verbreitet und wurde mehrmals nachgedruckt und übersetzt. Es ist jedoch kein Exemplar mehr der ersten Ausgabe, die Reiner Jansen um 1700 in Philadelphia hat drucken lassen, erhalten. Sein Buch "Neun und neunzig mystische Sprüche" ging ebenfalls verlustig; zahlreiche Lieder und Oden sind erhalten. Besondere posthume Ehrung wurde ihm Zuteil mit der Aufnahme in das von Edwin Austin Abbey (1852-1911) gestaltete Fresko "The Apotheosis of Pennsylvania" im House Chamber des Capitols von Pennsylvania (Harrisburg). Werke: Kelpius, Johann; Blosius, Balthasar: Inquisitio an ethicus ethnicus aptus sit Christianae juventutis hodegus? Sive an juvenis Christianus sit idoneus auditor ethices Aristotelicae? Quam benigno consesnsu amplissimae facultatis philosophicae publico examini sistunt M. Johannes Kelpius Dalia-Transylvanus Saxo, et Baltha Blosius Norimbergensis. Altdorfium 1690; Kelpius, Johann; Fabricius, Johann: Scylla theologica, aliquot exemplis patrum et doctorum ecclesiae, qui, cum alios refutare laborarent, fervore disputationis abrepti in contrarios errores misere inciderunt, ostensa atque in materiam disputationis a Joh. Fabricio (...) et M. Joh. Kelpio (...). Altdorfium 1690; The Lamenting Voice of the Hidden Love. Germantown 1705; Kurtzer Begriff oder leichtes Mittel zu beten, oder mit Gott zu reden. Philadelphia 1756. ND Worcester 1955-1983 (Early American Imprints. First Series 7693); A Short, Easy and Comprehensive Method of Prayer. Translated from the German. And Published for a Farther Promotion, Knowledge and Benefit of Inward Prayer. By a Lover of Internal Devotion. Philadelphia 1761. ND Germantown 1763, ND Worcester 1955-1983 (Early American Imprints. First Series 8895); Etliche liebliche und erbauliche Lieder. Von der Herrlichkeit und Ehre Christi, von der starcken und mächtigen Liebe Christi, in der seeligen Jungfrau Agnes, und zwey Lieder von der Nachfolge Jesu Christi, wie sie aufgesetzt sind von zwey Bruddern, die vor einiger Zeit in dem Herrn entschlaffen sind. Nähmlich (sic!) eines von dem lieben Bruder Grumbacher, der schon mehr als 40 Jahr im Frieden Ruhet. Und das andere von dem lieben Bruder Christoph Sauer, der ohngefehr vor 3 Jahren in dem Herrn entschlaffen ist. Nebst etliche noch niemal im Druck erschienene sehr erbaulichen Liedern, von Joh. Kelpius, der auch schon vor 80 Jahren in seinem Erlöser seelig entschlaffen ist. Auf begehren etlicher Liebhaber, und in Hoffnung der Erbauung gedruckt, und heraus gegeben, von Peter Leibert. Germantaun (sic!) 1788 (ND Worcester, 1955-1983, no. 21201); Anhang zweyer Lieder. In: Hochmann von Hochenau, Ernst Christoph: Glaubens-Bekänntniss. Geschrieben aus seinem Arrest, auf dem Hochgräfl. Lippisch. Schloss Detmold, samt einer an die Juden gehaltenden Rede. Auf gnädige Verordnung seiner hochgräfl. Excell. des regierenden Herrn Grafen zu der Lippe. Im Jahre 1702 gedruckt, und 1743 von C. S. mit einer Vorrede begleitet. Nun zum 5ten Mal gedruckt. Germantaun (sic!) 1800, 45-48 (ND Worcester, 1955-1983, no. 37631); Extract of a Letter from John Kelpius to Esther Palmer. Philadelphia 1886; The Journal of Johannes Kelpius. Magister of the Hermits on the Ridge in Pennsylvania, 1694-1708. Hrsg. von Francis Howard Williams. Philadelphia 1893; The Diarium of Magister Johannes Kelpius. With Annotations by Julius Friedrich Sachse. Part XXVII of a Narrative and Critical History Published by The Pennsylvania-German Society. Lancaster 1917 (The Pennsylvania-German Society. Proceedings and Addresses at Lancaster, PA., November 13, 1914, XXV); The Hymn Book. Hrsg. von Christopher Witt. In: Church Music and Musical Life in Pennsylvania in the Eighteenth Century. Philadelphia 1926, 19-165 (Publications of the Pennsylvania Society of the Colonial Dames of America, IV, 1); A Method of Prayer. Hrsg. von Gordon Alderfer. New York 1951; Five Hymns from the Hymn Book of Magister Johannes Kelpius. Philadelphia 1976. Bibliographien: Brooks, Edythe L.: A Re-evaluation of the Significance of Johannes Kelpius and "The Women of the Wilderness". Diss. University of South Florida 1996, 66-84; Society of the Woman in the Wilderness. In: Dare, Philip N.: American Communes to 1860. 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Tragödie: zeigt, dass Oberth sich des Verbrechens de V2 bewusst war. Fast muss man sagen, Hitler hat sich mit seinem Judenhass selbst ein Bein gestellt. Die Atombombe wäre möglich gewesen, doch hatte er alle jüdischen Wissenschaftler (Gottseidank) verjagt, so dass sie für das Reich unmöglich wurde. Man stelle sich vor, er hätte sie gehabt, die Weltherrschaft unterm Hakenkreuz wäre seine gewesen. Auch die V2 durfte erst 1943, also nach Stalingrad fliegen, als auch die KZs in seinem Wahn, den deutschen "Musketier" so zu reinigen hatte vom "fremden Blut". Doch stellt Hochhut auch das Unglück, das dauernd an den Rand geschoben werden von Oberth klar. Und seine Opfer, eine Tochter und ein Sohn, kamen im Krieg um, die Tochter an seiner Seite als Forscherin. "Tragik und Ironie, dass auch ein so genuin Friedfertiger wie das Forscher Genie Hermann Oberth "dank" der dauernden Missachtung, die seinem Genie in Friedenzeiten jeden Weg zum Ziel verlegt hat, seine Raumfahrt-Visionen erst durch einen Teufelspakt, erst durch Hitlers Krieg, realisieren konnte." Sogar seine Doktorarbeit wurde als "Unfug" zurückgewiesen. So musste er in Siebenbürgen als Gymnasiallehrer "unterkommen". Freilich, schon 1917 bot er seine Rakte dem Heeresministerium an. Doch bekam er zur Antwort, jedes Kind wisse, dass eine Rakete nicht weiter als 7 km fliegen könne. Die ersten Erfahrungen machte er schon als Elfjähriger in der Schässburger Schwimmschule, und er wusste, dass kein Mensch in einem Geschoss überleben konnte, nur in einer Mehrstufenrakete: "Ich saprang da vom Turm ins Wasser; wenn ich nackt rückwärts sprang und dabei die Arme auf dem Rücken verschränkte, um nicht den Nierenschlag zu bekommen, betrug der Andruck... etwa das achtfache der Erdschwere, das konnte ich gerade noch vertragen." In einem Film zum Neunzigsten war Oberth so ehrlich zu sagen." Wenn man mich rechtzeitig zugezogen hätte, so hätte Deutschland den Krieg gewonnen." Aber Hitler wollte Oberth nicht. "Es haben nämlich Leute, die selber die Sache machen wollten, Hitler erzählt, meine Großmutter sei Jüdin gewesen, ich selbst sei Rumäne." Wieso andauernd diese Landsleute oben in der Weltgeschichte herumgeistern... Da fällt mir ein, dass auch der Mann von Hitlers Schwester ein Sachse war, auch er ein psychiatrischer Henker: Aber Oberth ist schon der Wichtigste von allen. Und Hochuth hat recht, "dass nur der Mordhass Hitlrs auf das jüdishe Volk die Welt vor der llmacht dieses Mnschen gerettet hat. " Auschwitz hat es verhindert. Es war im Hintergrund ein Wettlauf. Di verjagten Juen bauten den USA die Atombombe. Heisenberg und Weizsäcker aber wollten die deutsche Bomne, versuchten Nielos Bohr dazu zu gewinnen. Und Einstein schrieb an Rosevelt beschwörend zwei Briefe zusa,men mit Fermi, um zum Bau der Bombe aufzurufen, Hitlers Weltmacht zu verhindern. Irvbing hat das belegt im "Traum von der deutschen Ato,mbo,mbe" Doch dann wurde sie an Japanern ausprobiert. Oppenheimer der grüsst Schuft sagte: " Wir wollten, dass es geschah, ehe der Krieg vorüber war und keine Gelegenheit mehr dazu da sein würde." Dabei gab es geradzu flehentliche Kapitulationsangebote der Japaner schon ab 13.Juni 45. Doch zu Penemünde, dann Nordhausen, Dora, gehört auch Pynchons Roman: „Die Enden der Parabel", die der V2 gewidmet ist. Oberth kommt darin nicht vor, wie er ja auch nirgends sonst als aktiver Mitarbeiter vorkommt. Auch im Harz nicht, in Peenemünde nicht, da wird er bald abgescjoben, und auch in Huntsville nicht, wo er an von Brauns Seite als "spiritus rector" sein soll. Eugen Sänger beschreibt das in einem Brief deutlich: "Sie haben es nicht nötig, wenn sie dort arbeiten, sich mit technischen Einzelfragen, mit Verwaltungskram oder mit Befehlsgewalten zu verbrauchen, Ihre Anwesenheit macht Sie im stillen Kämmerchen zum Vater aller Dinge, auch wenn sie nur Rosen züchten und Bienen pflegen..." (1955-58 war er dann so nutzlos wie überall in Alabama). Er war übrigens vorher auch zwei Jahre vorher in La Spezia, um Projekte des Marineministeriums zu realissieren, doch wurde er auch dort ausgebootet. Hans Barth hat Oberth auch als jenen weiterdenkenden Wissenschaftler beschrieben, der auch an das Überleben des Plantene bei den Raketen dachte, in Sinne seiner Worte: "Benütze den glücklichen Zufall, dass du Mensch bist. Um die Welt besser, gerechter und schöner zu machen, nicht nur für die Menschheit, sondern für die gesamte Natur." Weltraumstationen auch, um das Menschheitsüberleben zu sichern, ebenso durch SonnenSpiegel ganze Wüstenregionen fruchtbar zu machen, den Hunger zu bannen. Ein Projekt, das die Menschheit hätte vernichten können, nahm er mit ins Grab.   4 DER MONTE VERITA. HERMANN HESSES WEG MIT GUSTO GRÄSER   18. Juli 2009-07-18 Gusto Gräser ist zwar kein Schässburger, doch durch seine kreative Narretei hätte er es durchaus sein können; und so eigne ich ihn mir an, weil er mir vrwandt scheint als „Sonderling", der den ganz unbekannten Schässburger Sonderlingen zugeordnet werden kann. Darüberhinaus stammt Gräser aus Kronstadt wie mein Vater und meine Grossmutter; doch nein, es gibt noch mehr Beziehungen zwischen Gräser und mir, diesen abgehauenen Transsylvanen. Und freilich erzählte mir auch Aurică Popescu, als ich mehrmals mit Maria und Michael bei ihm rumänisch essen war, vom „ sasul ţignit, dar genial"... Und weitere Beziehungen lassen sich über unseren alten Freund und Nachbarn hier in Agliano Goffi Fischer herstellen, der mit Hermann Hesse befreundet war, und der uns einiges über Gusto und seine „komische Beziehung zu Hermanns Hesse erzählte, nein, das ist doch unmöglich, dass dieser Tramp Hesses Lehrer gewesen sein soll? Doch er war es. Hier finde ich einen gut dokumentierten Aufsatz vom Gräser-Kenner Hermann Müller, der ja aus Göppingen stammt, und den ich kurz kennen lernen durfte, als ich in der Göppinger Synagoge einen Vortrag und eine Lesung über einen anderen berühmten Transsylvanier hielt: Den Auschwitzapotheker Capesius; so nehme ich mir die Freiheit und setze Müllers schönen und reichbebilderten Vortrag und Aufsatz hierher ... Hermann Hesses Weg mit Gusto Gräser Der folgende Artikel beinhaltet Auszüge aus einem Vortrag, den Hermann Müller am 20. November im Münchner Haus Deutschen Ostens (HDO) über die wenig bekannte Meister-Jünger-Beziehung von Gusto Gräser und Hermann Hesse hielt. Müller, 1931 in Göppingen geboren, gilt als der beste Kenner des Gräser'schen Werkes. Hermann Hesse hat Legenden geschrieben. Er hat Märchen geschrieben. Er hat Erzählungen und Romane geschrieben. Fast alle seine Werke handeln von einer Freundschaft. Und zwar von der Freundschaft zu einem Einsiedler und Wan¬derer, einem Heiligen und Weisen. Immer ist da ein überlegener Freund und Meister, zu dem ein Schüler oder Jünger verehrend aufblickt. Es ist ein einziges Thema, das sich durch alle seine wesentlichen Werke zieht. Hinter allen seinen Erzählungen steht eine Urlegende: die von einer Schülerschaft oder Jüngerschaft, von den Irrun¬gen und Verwirrungen dieser Freundschaft, von Zweifeln und Ängsten, von Abfall und Verrat, von Flucht und selbst von Mordgedanken, und dann auch von Reue, Heimweh und Rückkehr, von Hingabe, Dienst und Verschmelzung. Gusto Gräser auf dem Münchner Marienhof, im Hintergrund die Frauenkirche, 1945. Hesses Interpreten haben diese Meistergestalt für eine Schöpfung seiner Phantasie gehalten. Man hat von seinem „alter ego" gesprochen, hat ihn als den ewig Pubertierenden verstanden, der nie zu seiner männlichen Reife gelange, als einen unerlösten Pietisten, der aus dem Komplex von Schuld und Sühne nicht herausfinde. Die Sache sieht anders aus, ganz anders, wenn man weiß, dass hinter Hesses Meistergestalten nicht eine Phantasie steht, nicht ein pubertäres Sich¬hinaufwünschen - sondern eine reale Person, ein lebendiger Mensch. Die Wertungen kehren sich um. Was Schwäche schien, Unreife oder Krank¬heit, erhält ein neues Vorzeichen, erlebt eine Auferstehung: als heroisches Bekennertum, als prophetischer Tiefblick, als einsam-geheime Zeugenschaft. Hesse hat einen Menschen gekannt, den die meisten für einen Narren hielten. Er aber hat in ihm einen Heiligen erkannt, einen Seher und Weisen. Zu diesem Menschen zu stehen, sein Bild und seine Einsichten der Menschheit zu vermitteln, erkannte er als seine Aufgabe. Er hat sich gegen diese Aufgabe gewehrt, er hat sich ihr durch Flucht zu entziehen versucht, Zweifel und Ängste haben ihn immer wieder an den Rand des Selbstmords getrieben, aber letzten Endes ist er seiner Berufung treu geblieben. Besser als die gelehrten Philologen haben ihn seine Leser verstanden. Seit Generationen wird er immer wieder von suchenden Menschen entdeckt, gelesen, verehrt, gefeiert. Seine Schriften werden als Wegweisungen fürs Leben verstanden. Das Bild eines außergewöhnlichen Men¬schen wird durch alle Verhüllungen hindurch instinktiv wahrgenommen. Wie wir inzwischen wissen, ist es das Bild des Wanderers, Einsied¬lers und Dichters Gusto Gräser. Hesses Weg mit Gräser war ein extremes Hin und Her zwischen Hingabe und Flucht. 1907 folgt er seinem Freund in dessen Felshöhle „Pa¬gangrott" hoch über dem Maggiatal im Tessin. Er fastet, meditiert, läuft nackt durch die Wälder. Gemeinsam studieren sie die heiligen Schriften der Inder. Aber Hesse kann den entscheidenden Sprung der Hingabe nicht leisten und kehrt ins bürgerliche Leben zurück. Er verhöhnt sogar seinen einstigen Meister als in den Bäumen han¬gelnden Gorilla. Doch kann er seine Abwehr auf Dauer nicht durchhalten, sie endet 1916 mit seinem Zusammenbruch. Jetzt sucht er wieder Zuflucht bei Gräser. Auf dem Monte Verità von Ascona erlebt er eine seelische Neugeburt. Der in Depressionen Versunkene erlebt eine Glücks¬zeit, fühlt sich aufgenommen in den Bund einer zukünftigen Gemeinschaft, die sich ihm in Gusto Grä¬ser, seinem „Demian" und neuen „Zarathustra", verkörpert. Der ehemalige Kriegsfreiwillige wandelt sich zum entschiedenen Kriegsgegner. Doch wagt er kein öffentliches Be-kenntnis, verbreitet seinen Roman unter Pseudonym. 1919 zieht er sich ein zwei¬tes Mal von Gusto Gräser zurück - und stürzt in den Abgrund seiner „Steppen¬wolf"-Krise. Selbstmord¬gedanken verfolgen ihn, bis er nach zehn Jahren, dem Erblinden nahe, wiederum zusammenbricht. Nun schreibt er einen langen offenen Brief der Reue, der Beichte und der Bitte um Wiederannahme durch den Freund in der Erzählung „Morgenland¬fahrt". Auch sein letztes großes Werk, das „Glas-perlenspiel", kreist um das Thema der Rückkehr zu einem Freund und Meister. 1907 hatte ihm Gräser den Weg ins geistige Indien geöffnet. 1916 richtet sich der politisch Isolierte an dem Kriegsdienstverweigerer auf, erlebt den „Berg der Wahrheit" als eine „Traum¬insel" der Menschlichkeit und als Vorahnung einer künftigen Kultur. Mitten im Krieg, im Jahre 1917, schreibt er, verzweifelt über die Verken¬nung seines Freundes und zugleich in Hoffnung selbstbewusst: „Wir, die mit dem Zeichen, moch¬ten mit Recht der Welt für seltsam, ja für verrückt und gefährlich gelten. Wir waren Erwach¬te, oder Erwachende. Aber während wir Gezeich¬neten den Willen der Natur zum Neuen, zum Vereinzelten und Zukünftigen darstellten, lebten die andern in einem Willen des Beharrens. Für sie war die Menschheit etwas Fertiges, für uns war die Menschheit eine ferne Zukunft. Unsere Aufgabe war, in der Welt eine Insel darzustellen, vielleicht ein Vorbild, jedenfalls aber die Ankündigung einer anderen Möglichkeit zu leben." Hermann Müller Zum Autor Hermann Müller, 1931 in Göppingen geboren, gilt als der beste Kenner des Gräser'schen Werkes. Er kannte Gräser und besuchte ihn auch mehrmals - nachdem er ihn im Herbst 1955 in Aurica Popescus Café Klein Bukarest (damals in der Luisenstraße 45) in München kennengelernt hatte. Müller besitzt neben der Münchner Monacensia-Bibliothek die vollständigste Sammlung an Gräser-Materialien und Memorabilien (Deutsches Monte Verità Ar¬chiv Freudenstein). Einige seiner schönsten Stü¬cke sind noch bis zum 19. Dezember in der von ihm konzipierten Ausstellung im Haus des Deutschen Ostens (HDO) in München zu sehen. 1986-2002 gab Müller die Gräser-Blätter (später Monteveritana) heraus. Mittlerweile hat er vier Bände mit Texten aus dem Nachlass und eine Gräser-Biographie veröffentlicht. Anlässlich der Ausstellung war eine erweiterte Neuauflage geplant, die wegen eines Unfalls des Autors nun erst Ende 2009 erscheinen kann. Mit seinen Recherchen zum Einfluss von Gräser auf Hesse und sein Werk hat sich Müller Suhrkamp-Verlag - dem Hausverlag Hesses - „unbeliebt" gemacht. Als ob Müllers „Enthüllungen" dem Autor des Steppenwolf noch das Wasser abgraben könnten! Alles zu Gusto Gräser unter der von Müller aufgebauten Seite www.gusto-graeser.info. Konrad Klein Druckansicht | Empfehlen „Der lachende Siebenbürger" - Hans Bergel über Gustav Arthur Gräser Für den 6. November hatte der stellvertretende Direktor des Hauses des Deutschen Ostens, München, Udo W. Acker, im Rahmen der Veranstaltungen aus Anlass des 50. Todestages von Gustav Arthur Gräser (1879-1958) zum Vortrag „Der lachende Siebenbürger. Versuch über einen Außenseiter" von Hans Bergel eingeladen. Aus dem Vortrag lesen Sie unten Auszüge. Ungekürzt findet sich der Text in Heft 4/2008 der Kulturzeitschrift Spiegelungen (Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Halskestraße 15, 81379 München). Als er nach Jahren der Abwesenheit zu einem Besuch in die siebenbürgische Geburtsheimat zurückkehrte, knieten Karpatenhirten bei seinem Anblick nieder, bekreuzigten sich und murmelten: „Unser Heiland Jesus Christus ist wiedergekehrt." Dabei sollen nicht so sehr die imponie¬rende Gestalt und die hoheitsvoll-ruhigen Be¬wegungen, das lange Haupthaar und der Bart, Wanderstab, Sandalen und sackleinene Gewand die Ehrfurcht der Hirten geweckt haben, sondern die Herzenswärme und Menschlichkeit des strahlenden Blicks, die Güte und Freundlichkeit der Gesichtszüge. Der Mann, dem Huldigungen dieser Art in halb Europa dargebracht wurden, die er weder provozierte noch erwartete, war ein von den Ord¬nungsbehörden Gehetzter: Aus mehreren Staaten und Städten polizeilich vertrieben, in Gefängnis¬se und Irrenhäuser gesteckt, zum Tod verurteilt, als Narr und Messias der Rückgewandten von den einen verlacht und verspottet, hatte er durch andere als Botschafter einer Lebensorientierung außerhalb der Norm Zuneigung und Schutz erfahren. Er wurde 1933 von den Nazis ins KZ Großöhmig gesteckt, 1940 abermals verhaftet und verbarg sich vor ihnen jahrelang in den Dachkammern der Wohnungen berühmter Mün¬chener Universitätsprofessoren. Als er am 27. Oktober 1958 in Freimann im Osten der bayerischen Landeshauptstadt starb, verschied eine der eigenartigsten und bemerkenswertesten Gestalten der deutschen Kulturszene aus den Epochen um die beiden Weltkriege, ein Einzel¬gänger und Unbe¬hauster, der in bayerischen Berghütten, in einer Höhle der Schweizer Alpen, in einem Wohnboot auf einem der Berliner Seen und Gott weiß wo sonst noch gelebt hatte, be¬ständig heiteren Gemüts, furchtlos, unbeirrt und ohne ideologische Anmaßung den eigenständigen philosophischen Lebensentwurf in die Tat umsetzend, der ihn als konsequenten Kultur- wie Zivilisations¬skeptiker nicht zuletzt bei vielen der Besten seiner Zeit bekannt gemacht hatte. Gusto Gräser in der 1950er Jahren.Der Mann, von dem die Rede ist, hieß Gustav Arthur Gräser. Er erblickte am 16. Februar 1879 im siebenbürgischen Kronstadt als viertes Kind des Juristen und späteren Bezirksrichters Carl Samuel Gräser (1839-1894) und der Charlotte, geborene Pelzer (1853-1920), das Licht der Welt. Gräser begann im Alter von elf Jahren am 30. August 1890 den Schulbesuch auf dem Bruken¬thal-Gymnasium in Hermannstadt. Zugleich mit dem Unterrichtsbetrieb empfand der geistig wa¬che, spirituell auffallend ansprechbare Junge auch die bis zur Unbeweglichkeit starre Domi¬nanz des kirchlichen Anspruchs in der Schuler¬ziehung als unerträglich. Er brannte folgerichtig durch - und verschwand aus Siebenbürgen. Eine Information über seinen Verbleib stammt aus dem Jahre 1896: Gräser wurde auf der Budapester Weltausstellung für ein Holzschnitz¬werk mit der Goldmedaille ausgezeichnet. Er war siebzehn Jahre alt. Das zweite Motiv des Ausbruchs darf im Tod des Vaters 1894 vermutet werden - die starke Bindung an den Vater begleitete diesen Mann sein Leben lang. Und da die Bindung des Jun¬gen an die Mutter wesenlos wurde, kam zur Rebellion das verzweifelte Gefühl der Unbe¬haustheit in der Heimat. Der Hinweis auf die verblüffende Parallele zum jungen Hermann Hesse ist hier angezeigt; sie erklärt einiges von den Gründen der späteren Annäherung der beiden. Beiden war es um die Möglichkeit der Harmonisierung des Gegensat¬zes Geist-Welt, Mensch-Natur gegangen und der meditative Akzent in Hermann Hesses Werk ent¬spricht dem meditativen Akzent in der Daseins¬haltung Gräsers. Verlegte Hesse jedoch die Auseinandersetzung mit diesen Fragen auf die Ebene des Literarischen und bewies dabei die Konstanz des großen Schriftstellers, so meinte Gräser die Auseinandersetzung auf der Ebene der praktischen Konfrontation, die er ebenfalls ein Leben lang konstant durchhielt. Welches waren Gräsers Lebens-, Gesellschafts- und Weltvorstellungen? In Wien lernte der Acht¬zehnjährige den um die Jahrhundertwende viel diskutierten Maler Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913) kennen. Gräser schloss sich der Künstlergemeinde um den im Geist der Zeit so-zialreformatorisch engagierten Diefenbach an. Bald jedoch verließ Gräser die Wiener Künstler¬gemeinde, vernichtete sämtliche unter Diefen¬bachs Anleitung entstandenen Gemälde und wendete sich mit der ihm eigenen Entschieden¬heit in der Durchführung von Entschlüssen einem Dasein als Wanderer und Wanderprediger in ei¬gener Sache zu: Es war die radikale Absage an bürgerliche Standards, die er hinfort nie wieder respektierte. In München scharte der Einund¬zwanzigjährige sieben Gesinnungsgefährten um sich, wanderte mit ihnen bis ins Tessin, wo sich die Gruppe bei Ascona am Ufer des Lago Mag-giore als so genannte Landkommune auf dem Monte Verità niederließ. Vor allem durch Gräser wurde der Berg in der Folge so berühmt, dass er Besucher wie Lenin, August Bebel, Fürst Kro¬potkin und andere anlockte. Gräsers Skeptizismus gegenüber der Ober¬flächlichkeit eines sich im nur Zivilisatorischen genügenden Lebensverständnisses paarte sich mit Erkenntnissen klassischer fernöstlicher Weisheit, die den europäischen und amerikanischen Aktionsdynamismus und dessen Katego¬rien der allein auf äußeren Erfolg bedachten Existenzorientierung nicht nur als immensen Verlust an humaner Wertesubstanz erscheinen lässt, sondern auf Dauer als physische Gefähr¬dung der gesamten Gesellschaft: Die von den Zwängen moderner Orientierung materialistischen Erfolgs-, Geld,-, Karriere- und Vergnü-gungsdenkens ausgehöhlten Lebensinhalte brin¬gen einen Menschen hervor, der, seiner Persön¬lichkeit entleert, nur noch als Hülle figuriert, den großen vordergründigen Verführungen willenlos ausgeliefert. Die Frage: Wohin treiben wir, wenn wir allein auf technikbestimmte Lebensform setzen? dräng¬te sich auf. Vorausahnend hatte Rousseau im 18. Jahrhundert die Parole „Retour à la nature" ausgegeben. Schiller hatte die Frage wiederholt. Zwei Generationen danach war sie von Tolstoi neu gestellt worden. Gottfried Benn hatte sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts poetisch überhöht ausgesprochen: „Wenn ihr die Mythen und Worte / entleert habt, könnt ihr gehen. / Eine neue Götterkohorte / wird nicht auferstehn." In Deutschland verstärkte sich die innere Be¬unruhigung als Ergebnis des 1918 verlorenen Kriegs und der eingetretenen Notlage zu besonders intensiven Verunsicherungen und Erregt¬heiten. Es ist kein Zufall, dass hier die Feststel¬lungen über den „Untergang des Abendlandes" von Oswald Spengler geschrieben wurden. Gräsers Intentionen meinten weit mehr und reichten tiefer als die Eintagsfliegen-Fantasien der „Inflationsheiligen" jener Jahre nach 1918. Sie verstanden sich nicht als Heilsverkündigun¬gen in einem darniederliegenden desperaten Land, sondern als Memento inmitten einer Gesellschaft des Wohlstands. Er spricht in der ihm eigenen, auf den ersten Blick absonderlichen Sprache von der „Bescheidenheiterkeit", er wünscht seinen Zeitgenossen „Herzweisheit¬lichkeit". Zu den Köstlichkeiten seiner Wort- und Satzschöpfungen, die er in überbordender Fülle produzierte, gehört etwa das Substantiv „Ichmichlein" - gemeint ist, mit ironischer Nachsicht, die lächerliche Überheblichkeit und Selbsteingenommenheit des im Grunde winzigen Ego eines jeden von uns. Er notiert: „Schlaf gut, Ichmichlein, sei für uns verloren" - es ist eindeutig, wie er das meint. Kompliziert - und literatursprachlich aufschlussreich - wird es erst, wenn Gräser z. B. vom „Blödbauschegrauen der Bluffkultur", vom „simsumsammelseligen Welt¬sommerbund" oder von „Hassmissetaten tun statt Musetat" schreibt, wenn er Wortschöpfun¬gen zelebriert wie etwa „Wonnewunderkugel-weltbaum" oder Sätze zu Papier bringt wie „zusammenwandelwohnt im Sam, Allhochzeit¬sam, Urfreunde Paarheiterkeit". Diese Gedichte wurden zu einem Zeitpunkt verfasst, als der von der Schweiz - wo Gräser hauptsächlich lebte - ausgehende Dadaismus sich entfaltete: die „Ohne-Sinn-Kunst", wie einer der führenden Dadaisten programmatisch festhielt - der 1896 geborene Tristan Tzara. Freilich betrieb Gräser keine „Ohne-Sinn-Philosophie". Aber ist aus seinen vertrackt-sinnvollen Sprach¬bildern nicht eine Ähnlichkeit zu jenen seines siebenbürgischen Landsmannes, des Lyrikers Oskar Pastior, herauszuhören, der kein Hehl aus seinem poetischen Rückgriff auf den Dadaismus machte? Es gibt Gräser-Gedichte von verblüffender Ähnlichkeit mit Pastior-Gedichten. Und lehnten sich die Dadaisten nicht ebenso wie Gräser gegen den „Wahnsinn der Zeit" auf, wie einer ihrer Sprecher, Hans Arp, gesagt hatte? Rüdiger Safranski schrieb vom „Kulturekel" der Dadaisten. Aus derselben Zeitstimmung heraus hatte 1929 Sigmund Freud sein Buch über das „Unbehagen in der Kultur" verfasst. Auch dies gehört zum Zeithintergrund, aus dem heraus sich Gräser erklärt. Wie nahm das geistige Siebenbürgen den Au¬ßenseiter an? Verstand, verwarf es ihn? Besaß seine Herkunftsgemeinschaft die Membrane für den Außergewöhnlichen und das Außerge-wöhnliche? Nach einem Vortrag Gräsers 1916 im nordsie¬benbürgischen Bistritz schrieb ein Ungenannter in der Bistritzer Deutschen Zeitung vom 15. Juni: „Es muss ein Herrliches sein, so stark in sich zu gründen, dass man dem Spott und dem Unverstand der Menge Ruhe entgegensetzen kann und sich nicht beirren lässt in seinem Besten - in seinem Menschentum." Schon 1912 hatte der Kronstädter Schriftsteller und Heraus¬geber der Kulturzeitschrift Die Karpathen, Adolf Meschendörfer, einen Text leidenschaftlicher Anerkennung Gräsers veröffentlicht, dem er auch im Roman „Die Stadt im Osten", 1931, eine Gestalt nachbildete. „In ihm ist der Protest unserer Zeit gegen Mechanisier- und Schemati¬sierung des Lebens verkörpert", hatte der Her¬mannstädter Buchautor Otto Friedrich Jikeli in den Karpathen den Lesern mitgeteilt, „aus seinen Worten und Blicken fließt ein reicher Strom gütiger und reiner Menschlichkeit". Am 19. Dezember 1915 war in der Kronstädter Zeitung über Gräser zu lesen: „Er drängt sich niemandem auf. Er ist ein Mensch, mit dem man scherzen und lachen kann. Er will keine Jünger werben, sondern nur seinen Weg gehen." Nach Grä¬sers polizeilicher Ausweisung aus Hermannstadt Anfang Mai 1916 hielt in dem dort erscheinenden Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatt am 13. Mai dessen Chefredakteur Emil Neugeboren fest: „Ich sehe in ihm ein (...) Symbol für Stimmun¬gen, von denen niemand unter uns modernen Zivilisationsmenschen (...) frei ist (...) Er ist (...) eine geistige Kraft besonderer Prägung." Der Kunsthistoriker Hans Wühr nannte Gräser am 27. Oktober 1958 in der in München erscheinenden Siebenbürgischen Zeitung einen „Dioge¬nes des Herzens", der Schriftsteller Heinrich Zillich in den von ihm in München herausgegebenen Südostdeutschen Vierteljahresblättern, Heft 4/1964, einen Mann „aus einem Guss". Hans Bergel Gusto Gräser, der grüne Prophet aus Siebenbürgen Dem Dichter, Naturphilosophen und Pazifisten Gusto Gräser widmet das Haus des Deutschen Ostens (HDO) in München anlässlich des 50. Todestages mehrere Veranstaltungen, die vom 23. Oktober bis zum 20. November in München stattfinden. Im Herbst 1900 wanderten sieben junge Men¬schen von München über die Alpen, um im Süden eine Kolonie der freien Liebe zu gründen. Ober¬halb Ascona am Lago Maggiore entstand die Siedlung Monte Veritá, Berg der Wahrheit, die zur Wiege der Alternativbewegung wurde. Ihre Vordenker waren der Dichter und Maler Gustav Arthur Gräser (geboren 1879) und sein älterer Bruder Karl aus Kronstadt in Siebenbürgen. Durch sein unstetes Leben außerhalb der Regeln der Gesellschaft wurde Gusto Grä¬ser, der sich auch Arthur Siebenbürger nannte, zum Symbol für Aufbruch und Neubeginn, zum Vorläufer der Kriegsdienstverweigerer, der Frie¬dens- und Umweltbewegung. Der Hüne mit dem langen Rauschebart gilt gemeinhin als der erste Aus¬steiger, der erste Hippie. Gusto Gräser 1956 in München-Freimann.Dichter wie Gerhart Hauptmann und Her-mann Hesse erhoben ihn in mythischen Rang. Kultur¬historiker sehen ihn heute als „Gandhi oder Laotse des Westens". Als Gräser 1926 wieder mal aus Bayern ausgewiesen werden sollte, schrieb Thomas Mann: „Dieser Mann ist reinen Herzens und liebt Deutschland. Er meint es gut und freundlich mit uns, und gut und freundlich sollte man ihm begegnen". Denn immer wieder warb Gräser in öffentlichen Vorträgen in Stutt¬gart, Dresden, Berlin und München bei den Men¬schen für den Frieden, gegen die Rüstung, gegen die Staatsgewalt. Seine Texte ließ er zeitweise im Antikriegsmuseum in Berlin als Litho-graphien drucken. Gräser hauste im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in der Felsenhöhle „Pagangrott" bei Arcegno, ernährte sich von Nüssen und Gemüse und ignorierte die Zwänge der Zivilisation. Die¬se Radikalität ist beeindruckend, gleichwohl ist sie nur das äußere Anzeichen für das wirklich Spannende, nämlich die innere Gestimmtheit. Der Vordenker einer neuen Menschheit ohne Herr und Knecht und Zerstörung der Natur, Iko¬ne mehrerer Jugendbewegungen und Leitfigur neugegründeter Parteien, die von heute aus ge-sehen als Vorläufer der Grünen gelten können, lebte seit 1940 in der bayerischen Landes¬haupt¬stadt, überlebte halb verhungert den Krieg, war ständiger Gast in der Staatsbibliothek und starb 1958 vereinsamt in seiner Dachkammer in der Hortensienstraße in München-Freimann, ohne eine einzige Zeile seines großen Werkes je in Buchform gedruckt zu sehen. Veranstasltungsreihe im Haus des Deutschen Ostens Dem Dichter, Naturphilosophen und Pazifisten Gusto Gräser widmet das Haus des Deutschen Ostens in München anlässlich des 50. Todesta¬ges mehrere Veranstaltungen. Eine Ausstellung (Eröffnung am Donnerstag, dem 23. Oktober, 19.00 Uhr) aus den Beständen der Monacensia, der Handschriftenabteilung der Münchner Stadt¬bibliothek, sowie dem Gusto-Gräser-Archiv in Freudenstein von Hermann Müller soll das Leben dieses Mannes aufzeigen, gleichzeitig aber auch die geistigen Zeitströme andeuten, in denen sich Gräser bewegte und die er mitbewegt hat. An seinem 50. Todestag, am Montag, dem 27. Oktober, 19.00 Uhr, wird der bekannte Schau¬spieler und Sprecher Wolf Euba mit einer Le¬sung aus Gräsers dichterischem Werk uns erahnen lassen, welche Anziehungskraft die Sprach¬gewalt dieses Mannes auf die Zuhörer ausübte. Die Schweizer Schriftstellerin Eveline Hasler aus Ascona, Verfasserin des Buches „Die Fel¬senhöhle des jungen Hermann Hesse. Der Dich¬ter und sein Guru", zeichnet in dem Vortrag „Inspiration und Transpiration auf dem Monte Veritá" den schwierigen Versuch Hesses nach, zwecks Selbstläuterung bei Gusto Gräser in der Höhle auszuharren (Donnerstag, 30. Oktober, 19.00 Uhr). Hesse porträtierte seinen Freund und Meister in dem Bestseller Demian und mach¬te ihn damit für die Nachwelt unsterblich. Dann unternimmt der Schriftsteller Hans Ber¬gel in seinem Vortrag „Der lachende Siebenbür¬ger" den Versuch, den Außenseiter Gustav Arthur Gräser in seiner Zeit zu sehen (Donners¬tag, 6. November, 19.00 Uhr). Die Filmdokumentation „Gusto Gräser - Der Eremit vom Monte Verità" von Christoph Kühn aus dem Jahre 2006 lässt Freunde und Fami¬lienmitglieder des unbeugsamen Außenseiters zu Wort kommen. Ein reiches Fotomaterial und Ausschnitte aus seinem poetischen Werk runden dieses berührende Porträt des „barfüßigen Pro¬pheten" ab (Donnerstag, 13. November, 19.00 Uhr). Und schließlich zieht Hermann Müller, der unermüdliche Sammler und Erforscher des Grä¬ser'schen Nachlasses sowie Herausgeber seines Werkes, der auch die Ausstellung gestaltete, ein vorläufiges Fazit (Donnerstag, 20. November, 19.00 Uhr). Gusto Gräser: Vom Anders-Sein eines Außenseiters Gustav Arthur Gräser kam am 16. Februar 1879 in Kronstadt zur Welt. Vor 50 Jahren, am 27. Oktober 1958, starb er arm und vereinsamt in München. Dem Dichter, Naturphilosophen und Pazifisten Gusto Grä¬ser widmet das Haus des Deutschen Ostens (HDO) in München anlässlich seines 50. Todestages derzeit mehrere Veranstaltungen (siehe unten und separater Artikel). Immer wieder brach Gusto Gräser ab oder aus, verließ das Gymnasium, die Kunstgewerbe¬schule in Wien, dann die Lebensgemeinschaft des Malers und Sozialreformers Karl Wilhelm Diefenbach. Immer wieder entwickelte er, mal aus freien Stücken, öfter gezwungenermaßen, weil verfolgt und vertrieben, Formen einer alter¬nativen Existenzweise. Legendär ist die von ihm im Herbst 1900 bei Ascona begründete Siedlung Monte Verità. Öffentliches Aufsehen erregen seine Auftritte in deutschen Großstädten, seine Tänze, Reden und Gedichte. Gusto Gräser, Karikatur von Karl Arnold 1908.Die beiden Welt¬kriege bringen dem unbeugsamen Kriegsdienst¬verweigerer Ausweisung, Verhaftung und Ein¬weisung in Irrenanstalten. Sein Wirken stößt auch auf Anerkennung, ja Verehrung. Hermann Hesse setzt ihm ein literarisches Denkmal in „Demian". Die nationalsozialistische Terrorherr¬schaft überlebt Gräser nach Schreibverbot und mehreren Verhaftungen mit schwerer Not in München, wo er nach dem Krieg an seinem unveröffentlicht gebliebenen Werk arbeitet und wo er auch seine letzte Ruhestätte findet, in einem Armengrab. Es hat in der Geschichte der Siebenbürger Sachsen immer wieder Persönlichkeiten gegeben, die „aus der Reihe tanzten". Dieses Anders-Sein wurde ihnen nicht immer gedankt, ja sie galten als Außenseiter, denen man nicht unbedingt über den Weg traute oder sich gerne Anek¬doten über sie erzählte. Selbst Stephan Ludwig Roth war mit seinen Reformvorschlägen auf verschiedenen Gebieten, sei es der Schule, der Wirtschaft allgemein und der Landwirtschaft im Besonderen, bei seinen Vorgesetzten wie auch in der sächsischen Gesellschaft auf taube Ohren gestoßen und erst sein gewaltsamer Tod wurde dann zum Anlass genommen, ihm die gebühren¬de Stelle in der Reihe der Großen einzuräumen. Auch der Arzt Friedrich Krasser in Hermann¬stadt, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts seinen ältesten Sohn nach England geschickt hat, damit dieser nicht zum k.k. österreichischen Militärdienst einrücken musste. Gleichzeitig engagierte er sich bei den Freidenkern, schrieb gesellschaftskritische Gedichte, die vor allem in Deutschland weite Verbreitung als Flugblätter fanden, und dem man in Österreich den Prozess machte. Oder man denke an dessen Enkel Her¬mann Oberth, dessen wissenschaftlich untermauerte Idee, den Weltraum zu bereisen, selbst von Universitäten nicht akzeptiert wurde, der aber noch erleben durfte, dass seine Berechnun¬gen doch noch von Erfolg gekrönt wurden, als 1969 die ersten Menschen den Mond betraten. Da hatte er alle Skeptiker Lügen gestraft. „Gräser im Gras", um 1955 in München. Und nun gilt es an einen Mann zu erinnern, der nichts von alledem war. Er hatte die Schule vorzeitig verlassen müssen, worüber er später triumphierend berichtete; seine Lehre brach er ab; erst ein preisgekröntes Gemälde auf der Ausstellung in Budapest brachte seinen Namen wieder in Erinnerung. Ab da war er, grob ge¬sprochen, für die Gesellschaft verloren. Er verweigerte den Wehrdienst und wanderte in die Zelle. Später sollte ihm die Dienstverweigerung während des Ersten Weltkrieges sogar die To¬desstrafe einbringen, die schließlich nicht vollstreckt wurde. Er lehnte den Staat und all dessen Zwang ab, lebte in „wilder" Ehe, ging keinem geregelten Beruf oder Geldverdienst nach, sorgte allein durch sein Erscheinungsbild für Aufsehen und, wenn er dann noch das Wort ergriff, fürchteten die Behörden, es würde zu Unruhen kommen. Nirgends war er wohl gelitten, immer wieder wurde er ausgewiesen, denn nirgends hatte er Heimatrecht, als Ausländer schon gar nicht. Dabei wollte er nichts als seine Ruhe haben, um seine Gedanken aufzuschreiben, mit den Menschen darüber zu reden und sie für die Natur zu begeistern, die er zu seiner Zeit schon bedroht sah. Er beschwor die Zuhö¬rer, für einen friedlichen Umgang miteinander einzutreten und sich nicht allzu sehr in Abhän-gigkeiten jeder Art zu begeben. Gusto Gräser, von dem die ganze Zeit schon die Rede ist, stammte aus gutbürgerlichem Hause in Kronstadt, wo er als zweiter von drei Brüdern 1879 geboren wurde. Es hatte ihm an nichts gemangelt, und doch wollte er raus aus der Enge der siebenbürgischen Verhältnisse. Er ging nach Wien, um Künstler zu werden. Dort begann seine - um ein heutiges Schlagwort zu verwenden - Aussteigerkarriere. Von Wien nach München übersiedelt, kam er hier in eine Stadt, die damals im Aufbruch war. Der Jugendstil hatte Einzug gehalten, Schwabing war das Zen¬trum der Künstler. In den Zeitschriften Jugend und Simplizissimus wurde alles aufgespießt. Von München nun zog Gusto Gräser mit Gesin¬nungsgenossen und neuen Ideen aus, um im Süden als freie Menschen in und mit der Natur zu leben. Gusto und sein Bruder Karl wurden zu den Protagonisten der neuen Bewegung. Übrig blieb aber schließlich nur der Jüngere der beiden, der sein Leben konsequent lebte, dessen Denken und Handeln deckungsgleich wurden. Das kann man sowohl aus seinen Texten wie auch in den Schilderungen, die von Dritten über-liefert sind, nachvollziehen. Dass diese Lebens¬weise behördlicherseits mit Argusaugen verfolgt und bei kleinstem Abweichen von der Norm mit Maßnahmen gegen ihn vorgegangen wurde, war sein Schicksal, dass er beinahe stoisch hinnahm. In manchen Texten klingt zwar hin und wieder Resignation durch, aber selbst im Drit¬ten Reich, als man ihn aus Berlin auswies oder ihm ein Schreibverbot auferlegte, blieb er mit seinen Briefen und Eingaben ruhig und gelassen und warf den Behörden Unkenntnis seiner Person vor. Dass er den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Denn ein „Nichtstuer" hatte kein Anrecht auf Zuteilungskarten für Le¬bensmittel oder sonstige notwendige Dinge des Alltags. Nach 1945 war er immer wieder in der Bayerischen Staatsbibliothek zu finden, wo er nicht nur die Bestände in Anspruch nahm, sondern auch einen Platz fand, sich in der kalten Jahreszeit aufzuwärmen. Auch im Restaurant „Klein Bukarest" in der Augustenstraße war er häufig zu Gast, wenn er Landsleute treffen wollte, die die Kriegsumstände nach München verschlagen hatten, um auf diese Weise Nachrichten aus Siebenbürgen, aus Kronstadt zu bekommen. Gräser schien vergessen zu sein, als er 1958, seiner Art entsprechend, still von uns ging. „Doch bereits zwanzig Jahre später versammelten sich mehr als tausend junge Menschen um seine Fel¬senhöhle bei Ascona. Sie gedachten des Mannes, der ihrem Wollen und Denken Wege vorgebahnt hatte, die vor ihm noch keiner beschritten hatte", so Hermann Müller, der beste Kenner und Ver¬walter des Großteils von Gräsers Nachlass. Eini¬ge der Texte von Gusto Gräser sind erst in jüngs¬ter Zeit in Buchform erschienen („Erdsternzeit. Gedichte und Sprüche", Umbruch Verlag, Reck¬linghausen 2007), und jüngst kam „TAO - Das heilende Geheimnis" im selben Verlag heraus. 5 STADTORIGINALE   SCHÄSSBURGER STADTORIGINAE Zu ihnen gehörte auch Hermann Oberth Und sehe jetzt plötzlich wieder zwei Tote vor mir, die ich nie mehr erreichen werden kann... Mutter und im Hintergrund Friederike in einem weißen Morgenkleid, das ist ein schlechtes Zeichen... Und sie redet wieder wie früher, erzählte ja gern, nur ihr Gesicht ist so blass: „Kamm, mer gohn hiemen", sagte sie. Und sie ging voraus. Wir gingen über die alte Holzbrücke bis zum Sandplatz und dann die steilen Steintreppen am großen Hühnerstall vorbei ins Rote Haus, wo wir wohnten, bis das neue Haus gegenüber der Ziganie fertig wurde. Sie hatte wie immer ein Morgenkleid an, und ihre Augen blitzten. „Cha, menj Jang", sagte sie, „enzt äs, jetzt ist gerade auch der Amerikaner, der Mischonkel, da", sagte sie: „komm schnell, er wird uns besuchen, du weißt doch, men Jang, Amis und Tante Cäcilies Bruder ist zu Besuch, der Schiffsarzt, einer, der nur mit Millionären zu tun hatte auf Luxusdampfern, der Misch erzählte uns vorhin, dass auf der letzten Kreuzfahrt ein amerikanischer Milliardär an einem Herzinfarkt verstarb, und da hat er, der Schiffsarzt ihn einbalsamieren müssen, stell dir das vor! Das war schon beim Frühstück. Der Mischonkel bediente sich auf der blauen Veranda, die fast wie eine Lugesch war, und wo man beim Frühstück saß, aß vom Lakes, denn die Ladwerch, das Pflaumenmus, schmeckte ihm nicht, und er schmatzte. Ja, der Mischonkel saß auf der blauen Veranda und erzählte. Und wenn er erzählt, kommt niemand zu Wort, nicht einmal das Mundwerk der Tante Cäcilie ist ihm gewachsen! Hörst du ihn, mit seiner sonoren, ein wenig lispelnden Stimme? Er erzählte unmögliche Geschichten, die sich wirklich zugetragen haben sollen. So habe sich in Neapel eine italienische Opernsängerin in den Grafen Teleki verliebt, dabei sei er ein Phantom gewesen, und habe so am Leben bleiben wollen, indem er der Sängerin Blut trank. „Awer Misch!" protestierte dann die Ami. Wollte ihm solche Geschichten untersagen. Die jungen Frauen aber riefen: „Erzill, Mischonkel, Erzill!" Und er erzählte die grausigsten Geschichten weiter, am Schluss aber schloss er immer mit einem Arienfragment: „Innamorato, mio cuore tremante. Voglio morire!" „Diese Dauerflucht aus der Wirklichkeit", höre ich Mutter sagen: „Auch seine Reisen waren nichts anderes, er ist bis nach Australien gekommen, er war viel in New York, oft in Triest, und dort hatte er auch einen unehelichen Sohn, der Julius hieß. Ach, es war ja typisch für ihn, dass ihm das alles nichts ausgemacht hat." „Ich würde ihn gern kennen lernen, mit ihm sprechen! Geht das...?" „Nein, das geht nicht!" „Warum nicht?" „Bei ihm geht das nicht! Er hat sich nach seinem Tode vielleicht aufgelöst, er hatte keinen festen Kern. Auch das war ja typisch für ihn, es hat ihm alles nichts ausgemacht. Er hat es einfach weg geschoben! Und unsere gute Grießi, meine Großmutter, seine Mutter, fuhr mal nach Triest, wo auch sein jüngerer Bruder, der Willonkel, der dort die Militärakademie besuchte, Offizier werden sollte, krank war, Misch studierte Medizin damals. Sie hatte sich einen Passierschein verschafft, sie war eine sehr tapfere und energische Frau. Und als sie nun da bei ihrem Sohn war, da tat sich die Tür auf und es stürmte ein kleiner Junge herein; die Grießi warf nur einen Blick auf den Jungen, drehte sich mit strafendem Blick dem Schwerenöter zu und sagte nur kurz: „Awer Misch!!" Der arme Julius trat in der Familie nie in Erscheinung, der Mischonkel hat ihn einfach unterschlagen. Und schnapode behandelt. Das war scheußlich. Der Julius, Sohn einer Triestinerin! Er wollte ihn nicht anerkennen. Aber der fuhr dann jedes Jahr nach Rumänien, pflegte und versorgte den Hansonkel, den jüngeren Bruder vom Misch, der krank war. Und geizig war der Misch auch noch. Wenn er von seinen Weltreisen ins kleine Schäßburg kam, da hatte er erst am Bahnhof die Idee, er müsse nun seinen Nichten etwas schenken; und da gab es am Bahnhof so einen Ständer mit Schundliteratur, dort kaufte er schnell ein Buch als Mitbringsel. Seiner Nichte brachte er Die kleine Dagmar. Die Ami konfiszierte das dann sofort. Und wenn er von seinen diversen Bräuten in den Häfen erzählte: „Wießt tea, det Fritzi, dat hat ech scher franjdert. Weißt du, die Fritzi, die habe ich fast geheiratet, die hat mich fast rumbekommen! Dat hat mech scher ämeränk bekun -." (Großes Gekicher und Gelache. Vor allem Großvater lachte herzhaft schallend). „Mer hadden schien de Möbel bestallt. Awer ech hat mich dron doch schniell aus dem Stuuw gemacht. Wir hatten schon die Möbel bestellt, aber ich habe mich dann doch schnell aus dem Staub gemacht!" „Ein schöner Kerl war er ja, aber voller Neurosen und Ängsten. „Fritzi, sagte er zu meiner Mutter, net wohr, hegt kit nichen Besack." Und wenn dann doch ein Besuch kam, dann verschwand er durch die Hintertür und ab in den Wald, um ungestört zu sein. Nun hatte man damals den Stadträuber Majorkowitsch gesucht, ausgerechnet auch in unserem Steilauwald, die Gendarmen waren hinter ihm her. Und wenn der Mischonkel dann so durch den Wald wanderte, begann er Gespenster zu sehen; er war leger angezogen, weiße Hose, blaues Hemd, Tennisschuhe. Und plötzlich hörte man ihn dann von oben aus dem Wald rufen: „Hopphopp, Fritzi, äs de Bienesupp fertig. Ist die Bohnensuppe fertig? Wäßt ihr", sagte er dann nachher, „et kamen plötzlich zwin Polizisten, und ech docht, nett datt dä mich hoppnien, datt dä dinken, ech wer der Majorkowitsch. Ich dachte, dass die mich festnehmen, meinen, ich sei der Majorkowitsch." Ein Horror war´s für ihn, wenn er wegmusste, als hätte er Platzangst. Er musste ja seine Urlaubstage teilen zwischen uns auf der Steilau und Tante Cäcilie im Mühlenhamm. Da war er schon ganz krank, wenn es hieß, morgen müsse er in den Mühlenhamm. Er war lieber bei uns. Und ein wenig autistisch, wie er war, fiel ihm jede Veränderung furchtbar schwer: „Sall ech na wedder än en ander Bäd, ech halden dat nett aus. Uch des Driem do. Soll ich denn wieder in ein anderes Bett, ich halte das nicht aus. Und dann diese Träume dort." Vor den Träumen hatte er ständig Angst, ging ungern schlafen, der Arme. Manchmal ließ er auch einen fahren. „Tea Misch!" sagte dann die Ami. „Awer wat, do hot doch nor der Stahl gekerzelt. Aber was, da hat ja nur der Stuhl gequietscht." Er hat an der Börse spekuliert. Und verloren. Zuletzt hat er in New York gelebt. Aber das ging nicht besonders. Er war schrecklich empfindlich und oft gedankenverloren, kaum geeignet für das Großstadtleben. Und er hatte ständig vor irgend etwas Angst, alle Dinge rückten ihm auf den Leib, und vor jeder Berührung grauste es ihm. Immer gab´s Krach, wenn man seine Bettwäsche wechseln sollte. „Ihr seid ja verrückt", sagte er dann: „kaum habe ich mich an einen Polster gewöhnt, nehmt ihr ihn mir schon wieder weg." Ebenso genial ging er mit seinen Hemden und mit seiner Wäsche um: „Kaum hat man sich an ein Hemd gewöhnt, reißt ihr es einem schon vom Leib. Ihr seid ja fanatisch mit eurer ewigen Putzerei und Wascherei." Er war hochintelligent und begabt. Er konnte zehn Sprachen. Und er sang Opernarien auf Italienisch à la Caruso. Ich höre ihn noch heute, sehe ihn, wie er dasteht und singt. Aber er war eben auch furchtbar nervattich. Nachts wie gesagt, hatte er Alpträume, schlug richtige Schlachten im Traum, er flog, da kamen die Ungeheuer, alle weichen Dinge krochen ihm angeblich tief in seinen Leib, in seinen Kopf rein; daher gab es auch Streit, wenn er seinen Pyjama wechseln sollte, vor allem, wenn die Pyjamas aus Barchent waren, ihm Hautausschläge verursachten, Allergien, so dass es ihn entsetzlich juckte. Und wie gesagt, der Mischonkel dachte nur an sich. Hat auch seinen Sohn, den Julius, verleugnet. Roland hat dann diesen Sohn später wieder entdeckt. Roland hat Sinn für Ahnen- und Familienforschung; er ist schon ein Familienathlet, ist davon überzeugt, dass Ahnenforschung das wichtigste überhaupt sei, was es für uns geben kann! Er war auch der erste, der sich einen Ahnenpass machen ließ! Mit den Runen. Merkwürdig, vielleicht ist Roland doch kein Familienathlet. Aber er ist gar nicht aus der Art geschlagen, wie der Mischonkel. Doch etwas Gemeinsames haben sie ja trotzdem, sind beide nervattich, Willi, sein Bruder, war sogar mondsüchtig! Er lief bei Vollmond um den Küchentisch und rief: Ech sterwen, ech sterwen, ech sterwen! Wir hatten alle Angst davor! Er war dann wie ein Gespenst ganz blaß und übernächtig!   Wir haben alle eine "feuchte Stelle" in uns, daher sollten wir lernen, uns zu beherrschen, uns zu kontrollieren, auf Befehle zu hören. Keine Widerrede! Wer hatte das gesagt, Clemi oder wars Friederike gewesen? Und den "Reichsdeutschen" gegenüber hatten wir meist Minderwertigkeitskomplexe. Alle sind wir etwas neurotisch. Sicher sind wir Sachsen nicht alle "reinrassig", sagte Vater: Es gibt viele Dorftrottel. Inzucht? Ja, nervattich sind alle. Nicht selten in den Familien Schreikrämpfe. Und die vielen Sonderlinge. Daher also die Naziwut bei manchen, wie bei Roland? Ja, weißt du´s noch? höre ich Mutters Stimme: Erinnerst du dich an Hermannonkel' Ordination, vis-à-vis von unserem Hausenblaß-Geschäft. Im gleichen Haus hatte der Zahnarzt Schuster seine Ordination. Da gehst du unter einem dunklen Tor durch, im Hof dann ist der große Speicher des Kolonialwarenhändlers Hesshaimer & Co... Ja, sag ich, da solls Mäuse in Mengen geben, sogar von weißen Mäusen hörte man. Wenn man die knarrenden dunklen Stiegen da raufgeht, muß man sich zuerst überwinden. Herzklopfen, poch, poch als Kind. Unsinn, man fühlte sich doch bei Hermannonkel geborgen. Und krank waren wir auch kaum, höchstens mal eine Grippe. Dem Otata tropfte immer die Nase. Da gabs aber andere Fälle bei uns. Stell dir vor, ich bin in der Baiergasse dem Birä-Will begegnet, erzählt Mutter ganz naiv und kichernd: dem Einwenigirren - der konnte, wenn ihn jemand ärgerte mit seinem phantastischen Können in hohem Bogen spucken, mit Eleganz und Präzision konnte er dem anderen aufs Ohr spucken. Und dann stand Mutter da, ein wenig hilflos in der entstehenden Pause, war aber sofort wieder da, auch die Pause nützend, wie auf der Bühne, das kann sie, mit verschmitztem Gesicht und doch wieder abwesend, als wäre ein Spieler in ihr, ein wenig zwanghaft, der Körper angespannt, die Muskeln hart: Jetzt will ich euch zeigen, wie die Milli tanzte, die Stadt-Irre, zum Libellenlied, zu dem wir als Backfische auch tanzten, gemeinsam im Reigen: Froh, wie die Libell am Teich Froh, wie die Libell am Teich Froh macht sie und leicht und reich Braucht nicht zu borgen, braucht nicht zu sorgen. Froh, wie die Libell am Teich Froh, wie die Libell am Teich... Unendlicher Kehrreim und Singsang. Sie hebt die beiden Hände wie bei einem Ritualtanz der Derwische, und immer ein Bein abwechselnd geschwungen, vor und zurück, vor und zurück, und kann sich kaum halten vor Lachen. (Nun hat sie also nicht nur erzählt, sondern sogar gesungen und getanzt. Und kann deshalb lachen.) In den besten Familien kam es vor, erzählt Mutter: Ich sehe sie noch vor mir, diese Milli, allen ein Greuel. Das in großen Strähnen wild wuchernde Haar unter einer großen schmuddeligen Baskenmütze zusammengezwirbelt und versteckt, triefendes Auge, hängender Kopf: schlechtes Erbgut! Von der allgemeinen Inzucht; Suff, Sünde wider das Blut. sogar der Binder Heinrich, des Bischofs Enkel, war ja blöd, als hätte ihn Gott geschlagen. die alte Tante B., die hatte zwei Söhne, beide blöd. Vater wollte einmal ein gutes Werk tun, lud den Heinrich zu Weihnachten in die Baiergasse ein, es war schrecklich, was der dann tat. Ihr wißt es ja. Was nützte es, dass er phantastisch mit Baukästen umgehen konnte, wahre Wunder zusammenbaute, er war "surkich", verwahrlost, hat sich dann später überhaupt nicht mehr gewaschen und statt aufs Klo zu gehen sich auf den Bettrand gesetzt. Die Sanitäter haben ihn dann abgeholt und eingeliefert. Seine Tanten hatten ihm Vorhaltungen gemacht, und denen hat er eines Tages ein Telegramm geschickt: Abort geputzt, Heinrich. Plötzlich stand Mama wieder auf und tanzte vor dem Tisch, hob den Kopf, wackelte damit: so hat die verrückte Grune Mill zuhaus ihr Regenschirmchen gehalten und getanzt: Meschand, Meschand gesagt. Solche von Merkwürden, die gabs in unserem Städtchen einige. Zum Beispiel auch den Schnich und die Schnichin, die Kirchendiener, die standen auch bei unserer Hochzeit vor der Kirchentür, nickten mit dem Kopf und sagten im Chor: Schnich! Sie nickten, machten einen kleinen Diener: Schnich. Das sollte heißen: "En hieschen gaden Dach wänschen ech!" Mutter fletterte wie ein junges Mädchen, drehte Pirouetten und sang beschwingt. Bildschön, ja bildschön war die Milli mal gewesen, mit sechzehn, siebzehn Jahren ist sie übergeschnappt, die arme Milli, wackelte mit dem Kopf, konnte nicht mehr richtig sprechen, nur lallen, und ließ viel Speichel in dünnen Fäden zu Boden fallen, dass es alle ekelte. So hatte sie immer eine Silberspuckspur. Doch Klavierspielen konnte sie weiter spielte, fabelhaft konnte sie spielen, so, als würde sie einen Traum bedienen, als spielte jemand aus ihr. Leider sagte man ihr nach, dass sie einen jüdischen Großvater oder Urgroßvater gehabt habe, eben de Ballegrieß wor jiddesch! Aber sie war noch für etwas anderes weit bekannt: Sie hatte eine Schmetterlingssammlung, eine ganz berühmte, von den Vorfahren hatte sie die geerbt. Solch eine Schmetterlingssammlung gabs auch bei Onkel Daniel und Tante Cäcilie im Mühlenham, und Roland ging jeden Sommer mit einem Netz aus Gaze Schmetterlinge fangen. Und die gefangenen Flutter wurden dann mit Stecknadeln aufgespießt und im Glaskasten aufgereiht; diese verglasten Kästen hingen über der alten Kommode im Mühlenham; abends fing man Totenköpfe, die waren ganz groß, und die schrien auch, ja, sie konnten beißen, wenn sie in der lauen Nacht herein ins Zimmer flogen, sich verirrt hatten. Und hatten sich vielleicht wie Motten um die Petroleumlampe getummelt, gesurrt, geflattert, und manche verbrannten, angezogen vom Licht. Bist du Schmetterling verbrannt, zitierte Onkel Daniel die "Selige Sehnsucht". Und der Tod sei nur eine Verwandlung wie Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Daher müßten Raupen sterben, damit solch eine "lebende Zartheit", die Schmetterlinge, entstehen können. Überall der Tod, der so traurig stimme und mahne, mahne, mahne, so dass wir uns immer auf diesen Abschied vorbereiten müßten. Flink lief Daniel zum alten Bücherschrank und holte die Bibel, schlug mit nervösen Fingern das Johannesevangelium auf und las mit hoher, ein wenig heiserer Stimme: Ich sage euch, wenn das Weizenkorn auf die Erde fällt, ohne zu sterben, bleibt es allein, wenn es aber stirbt, wird es Früchte bringen. Unsinn, sagte dann Roland: Diese jüdische Bibel. Wir überwinden auch den Tod! Wir herrschen mit ihm, durch ihn. Wer herrscht da! Gesindel, fuhr Daniel, der sonst so Sanfte, seinen Sohn dann an. Der Sanftmütige konnte diesen neuen "Sauberkeitsfimmel" nicht ertragen (war er vielleicht selbst e Judd). dieses Saubere, Gesunde, wie die frischgestutzten, glatt ausrasierten Nacken, die konnte er nicht leiden. Er selber hatte eine Künstlermähne um den Glatzkopf, Tonsur und Heiligenschein. Dieser glatte und geleckte Scheitel, der nun in Mode kam, wie der Scheitel und die Seele des Tausch Dolf und der Haarknoten der Frauenschaftsführerin Kitz, so sauber wie die Nullerköpfe der Kinder, so rein wie die kornblumenblauen Augen, die hell in die sächsische Welt schauten, das ging ihm auf den Geist. Kornblumenblau sind die Augen der Frauen... Und dann hieß es, jede deutsche Mutter schenkt dem Führer ein Kind. Bekannt wie ein Witz wurde die Frage einer sächsischen Bäuerin: Kommt der Herr Fihrer zu uns oder missn mir zum Herrn Fihrer fahren? Mädle ruckruckruck an meine grüne Seeite... Ich hab di gar so gern, i mag di leiden..   DIE BERGSCHULE Die Blasia mit Erich Bergel, wohl 1951 (Bege ganz oben rechts in der Ecke) Der Autor zweite Reihe Mitte Klassenfoto mit derKlasse IIa und IIb (nicht meine Klassen) aber allen meinen Lehreren am „Sem", meine erste Liebe (unten ganz links)       CAPESIUS, DER AUSCHWITZAPOTHEKER FURCHTBARE NÄHE   Und ich konnte den Gedanken nicht loswerden. Auch beim Duschen nicht, vor allem da nicht. Duschen jeden Tag. In Auschwitz waren die Duschen Tarnungen, Täuschung, anstatt Wasser kam Zyklon B aus den „Duschen." Und sehe die Hand des Vik Capesius, wie er zusieht, ja, den Befehl zur Vergasung gibt: ein Scharführer der „Vergasungsfritzen" öffnet die Zyklon-Dose und schüttet dann den Inhalt ins Rohr, das Schreien fängt unten schon an, und er schüttet trotzdem noch eine nächste Dose hinein! Mir hatte er gesagt, dass das „Menschenpflicht" sei, „sie kommen schneller zu Tode und das Schreien hört auf!" Bei uns ist das Duschen, der Wasserstrahl anstatt des Gases Wirklichkeit. Welche Wirklichkeit? Sind wir die Nachfahren jener Täuschung? Unsere Wirklichkeit nur vorgetäuscht? Hätte sie heute eine ganz andere sein müssen? Durchschaut? Und Viktor Capesius, dem die Apotheke „Zur Krone" gehört hatte? Ich sehe noch seine grosse, nach Formol riechende Hand, die mir Pfeffer¬minz¬bonbons reicht. In der Auschwitzapotheke verwaltete er das Zyklon B. Im Sanka fuhr er damit zur Gaskammer. Capesius, ein Freund meiner Eltern? Und hier stehe ich mit meinem Freund, dem letzten Juden von Schäßburg: Erich Răducan, vor der Synagoge in der Kleingasse. Ich höre Capesius stammeln, sein großer Kopf wackelt, die Augen starr hinter einer dunklen Brille. Und doch, ich weiß, er ist vor kurzem gestorben. Ist er jetzt besser im Bilde? Seine Stimme ist in meinem Ohr immer noch da, breit und schleppend, als müsse sie schwere Gewichte tragen, so müde ist sie. In einer Stunde werdet ihr euch wieder sehn... in einer Stunde... keine Angst... Ich höre seine Stimme, die nach Worten sucht: „Ja...da ist... da war... Sodom und Gomorrha", sagt er: „Es gibt noch etwas mit der Unterwelt, irgend so ein Zitat, das auch vorkommt, wenn es dir mies geht, wenn es am allermiesesten ist." Der Himmel sei immer rot gewesen, „die Luft voller Rauch, süßlich, du riechst es, jeder weiß... es riecht versengt nach Haut... Ja, man hat es gewusst..." ROLAND ALBERT INNSBRUCK: Roland Albert mit Elfi und mit meiner Mutter „Und der Capesius war der auch da in den Beskiden?" „Jaja, auch der war da, wir wurden zur Hasenjagd eingeladen von einem Freund von ihm." „Und was habt ihr dort erzählt, auch von Auschwitz gesprochen?" „Nein, über die Heimat sprachen wir. Und Witze hat man gemacht. Wir mussten ja schweigen." „Und hat es euch nicht bedrückt?" „ Schon. Aber man musste auch leben ... und vergessen. „ Du hast doch auch Transporte begleitet!?" „Ja, hab ich!" „Ich erinnere mich, dass du mal zu einer Hochzeit, ich glaube es war die von Hermann und Iren nicht kommen konntest, so erzählte es Iren, weil du einen Zigeunertransport nach Auschwitz begleiten musstest..." „Jaa...hja, das war... ich weiß nicht... es war.. eseses...waren ja mehrere... aus Nordsiebenbürgen... schon, da war ich noch einfacher Sturmmann..." „Und da habt ihr ihnen, auch den Kindern, kein Wasser gegeben..." „Es..es, ja nichtwahr... ver...verboten! Ich habs aber einige Male doch getan..." SIEBENBÜRGEN 1944 Zur Geschichte des Nachkriegssiebenbürgens vgl. die Augenzeugenberichte: http://www.z-g-v.de/doku/archiv/frameset03.htm Ich höre Vaters Stimme, diese Nähe, so, als löse sich die harte Kontur der anwesenden Dinge auf, als strahle wieder eine gelbe Wand, als wären wir wieder im Sommerhaus auf der Steilau, feuchte Wände, Rauch in der Küche. Rot und Braun, beides gehört zu meiner Kindheit. Dort gegenüber auf der „Lehmkeule" die Purdis, die Ziganie, nicht alle entkamen den Transporten, Jani nicht und Janos nicht, nur Puşcaş entkam den Todestransporten. Onkel Roland mit Rune und Totenkopfzeichen an der Mütze war dabei. Wie durch ein Wunder war Puşcaş entkommen, der mit dem E¬selchen, der in der Tinne das Koch-Wasser brachte, wenn man ihn rief, über das Tal hinweg: Puuşcaaas! Er brachte kein Trinkwasser, nein, nur zum Kochen war das Wasser gut, brachte es mit dem Eselchen, holperte heran, und dann stand die Tin¬ne, faulig roch das Wasser, die Tinne unter dem Schopfen. Aber andere waren dort, weißt du, dass viele siebenbürgische Zigeuner dort waren. Wo? Im Zigeunerlager von Birkenau. Siebenbürgen Land Des Segens, Land der Fülle und der Kraft, sang die Großmutter, das hatte so dunkle Innenräu¬me, der Klang vibrierte, eine Kindheitsmelodie, ein großes Enig¬ma, weite Kornfelder, Gold und Weingärten, Bauern, Hitze. Überlandfahrten. Und dann dieser ,,Meeresboden" einer ,,längstver¬flossenen Flut". 1940 bis 1944 die Todesflut; gehört zum Bodenlosen tief tönenden Gefühls; Mord, Maschinengewehr, Bombe und Cello; SS-Gebrüll und das zittrige Stimmchen der jetzte Toten... http://www.youtube.com/watch?v=b4PwSVW5Aak 1943 Abfahrt zur Front und zur SS aus Schässburg. Das Lachen verging allen. Und am Nachmittag mit Mama wieder in die Stadt, zum Markt. Mutter summte ein Lied, als wir am Musikgeschäft unter dem Sandersaal vorbeikamen. Dann an Winter Schorrs Fleischerladen, da hängt ein halbes Schwein blutig am Fleischerhaken; daneben Ollahs Eisenhandlung mit Hämmern und Äxten. Die Melodie aber bleibt. „Du, du liegst mir im Herzen, du, du liegst mir im Sinn... Denk ich mit Schmerzen, weißt nicht wie gut ich dir bin!" Geigen und Trompeten, Mandolinen und eine Zieharmonika liegen im Schaufenster des Musikgeschäftes an der dicken Mauer. Kannst damit wunderbar spielen, blasen, flöten. Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Liiindenbaum. Ich schnitt in seine Rinde so ma-a-a-nchen süßen Traum. Omas Stimmchen. Aber dazu: Vorwärts, vorwärts schmettern die hellen Fanfaren, vorwärts, vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren... Vor allem in der Morgenfrühe, frisch ist es heut, und die Blütezeit der Himmelsschlüsselblumen; sie schließen auf, wenn über den Feldern die Luft flimmert und glüht, Pimpfe aber sind im kühlen Wald; Waldlauf, Hornrufe, Trompete, Zeltlager. Und dann, wenn der Mond über den Berg kommt - Lagerfeuer. Flamme empor! Karee. Die Meldungen. Lager. Lager. Von Granada, sagte Mama. Lagerertüchtigung. Lager. Lotterlager. Pfui. Und oben im Reich auf der Landkarte ebenfalls Lager, im Wartegau und Bromberg, wo Hermann als Arzt arbeitet. Und nicht weit davon auch Roland in einem andern Lager, Wachmann, dann Sturmführer. Roland hatte Ja gesagt. Deutsches Volk, inneres Gesetz neuer Weltordnung. Also Weltvolk. Große Weltwandlung, in deren kosmische Wirbel wir mit hineingerissen werden, hatte er gesagt; und unser Ortsgruppenleiter hat es auch gesagt. Und der Hutmacher Lingner, Leiter der Freiwilligen Feuerwehr, hat es auch gesagt. Urgestein, eherner Fels eines neu entstehenden gesunden ertüchtigten Volkskörpers, der dem Chaos einer geschichtlichen Wende entsteigt. Und wie früher einmal auch heut der HIMMELSSTURZ. Abdichtung und reine Haltung, Volkskörper ist alles. So die harte Aufgabe in den Konzentrationslagern, den KLs, Infektionsherde zu vernichten. Führer befiehl, wir folgen dir! Und als wir an der Apotheke „Zur Krone" vorbeikamen, wo die Fritzi Capesius, die Wienerin, die Frau vom Vik, vor den Regalen mit den vielen Dosen und Schubladen stand, sie hatte eine Intellektuellenbrille auf, ahnte ich noch nicht, konnte es nicht ahnen als Kind, dass der Vik, ihr Mann wie Roland auch an einer anderen Front, einer verantwortungsvollen Front im KL in Auschwitz war. Und Mutter ebenfalls nicht. An sich ja fast ein hygienisches Problem dort, bei streng fachlicher Betrachtung, hatte Roland gesagt, genau so hat er es gesagt, als er auf Heimaturlaub im Mühlenham war, von Tante Cäcilie bemuttert und mit der Bohnensuppe, der Bienensupp, dä schmackt herrlich, verwöhnt wurde (Menj Boch jubiliert!), Pfingstpredigt und am Kastanienbaum da blühn die Kerzen, holder, holder Frühling, komm doch bald! „Dieses Wort "Verstrickung" finde ich sehr gut", sagte ich, „weil die Voraussetzungen nicht nur in der persönlichen Biographie waren. Denn Sie sind ja nicht Parteimitglied der NSDAP gewesen (Nein!) Und Sie haben sich ja auch nicht freiwillig gemeldet, sondern sind zum Militärdienst in der SS eingezogen worden auf Grund der siebenbürgisch-sächsischen Verhältnisse und der rumäniendeutschen Verhältnisse, das ist doch das Problem." Adam: „Es ist wahr, das Abkommen 1943, wo für die Rumäniendeutschen jede Freiwilligkeit aufgehoben wurde, der Militärdienst ganz regulär in der SS abzuleisten war, wirft ein ganz neues Licht auf diese „Täterschaft", die noch längst nicht genug untersucht worden ist, und sich grundsätzlich von all jenen unterscheidet, die freiwillig und aus Überzeugung ihre Untaten als SS-Männer begingen; Roland freilich ist freiwillig und aus Überzeugung zur SS gegangen; Capesius nicht!" Auf der Gasse waren gleich nach dem Krieg lange Trauerzüge zu sehen gewesen, die sich langsam durch die Stadt bewegten, zur Stadt hinaus auf die Steilau. „Sie begraben eine grünliche Seife", hieß es damals. Die Frau, die die Familie Baruch besucht hatte, die mit dem schwarzen Kopftuch und den weißen Strähnen, die blieb. Als ginge sie eben die Treppen zum Baruchhaus hinauf. Sie heißt Baila. Und ich bin wieder an der Treppe. Und sehe Tante Friederike. Und Mirjam, die Baruch-Mirjam mit Ella, der Böhm Ella, ihrer Cousine. Mirjam. Bei uns sei das die Maria, sagte jemand. Und von Ella, die auch DORT gewesen war und von der Treppensteigenden hatte Mirjam erfahren, dass es eine grünliche Seife gegeben hatte, mit den Initialen RJF. Und ein Leben lang soll entschlüsselt werden, was RJF heißt. Ich hör es, ich hab es dort als Kind gehört, ich hör die Stimme, sie flüstert, und etwas Dunkles kommt auf mich zu, das weh tut, und ist wie ein Weinen, wenn Erwachsene weinen, dann ist das nichts anderes als ein tiefer Streit. Und herzzerrei¬ßend. So als hätten die Gefühle einen starken schwarzen Geruch. Aber nicht so friedlich wie auf dem Bergfriedhof, nein, schreiend. Und so scharf wie eine Messerklinge. Oder das frisch geschliffene Blatt einer Sense unter dem Gras-Saft. Und blutende Gliedmaßen. Mirjam weinte, Friederike weinte, und ich höre ihre sanfte und doch energische Stimme: „Nein, mein liebes Kind, das können deutsche Menschen nicht getan haben, das glaube ich nicht." „Doch, Frau Z., es ist bestimmt wahr", sagte Mirjam, die zur Klavierstunde gekommen war: „Auch Bailas Mann, der Avrum, kam zuerscht nach Bromberg, dann nach Scha¬chenberg und am Ende nach Auschwitz; und er ist nie mehr wieder zurückgekehrt; auch die beiden Kinder nicht und die Eltern und die Geschwister nicht." Morgens Kaffee, abends Kaffee und zum Mittag etwas "Awa" steh' am Morgen, steh' am Abend steh' Appell dann wie ein Penis. Ein Schlag Kaffee, ein Schlag Suppe doch am meisten Schläge auf den Arsch. steh' am Morgen, steh' am Abend steh' Appell dann wie ein Penis. Auch steht er ein gemauerter Kamin wir tricksen ihn aus. steh' am Morgen, steh' am Abend steh' Appell dann wie ein Penis." Und Capesius, der zwanzig Jahre jünger war als Klein? Wie stand es mit Capesius angesichts dieses höllischen Abgrundes, er hatte ja keine Naziüberzeugung wie Klein, die ihn schützte?! In einem Brief an den rechtsradikalen Autor Heinrich Zillich schrieb er am 3. Oktober 1983: „Sehr geehrter Herr Dr. Zillich, nochmals vielen Dank für das kl. Gespräch und die Zusendung der Unterlagen. Ich hatte wohl die Absicht, Ihnen gleich zu antworten, bin aber erkrankt... Zu Ihrer Information lege ich einen Brief von Pfarrer Möckel bei, den ich während meiner Untersuchungshaft von ihm erhielt. Ihr Viktor Capesius." In diesem Brief von Gerhard Möckel, dem siebenbürgischen Pfarrer, heißt es in beschwörenden Sätzen: „Denn je länger wir darüber nachdenken, desto klarer wird es uns, dass Sie nicht allein und auch für sich allein vor Gericht stehen. Je tiefer man diese Vorgänge in Auschwitz fasst - und da können nur letzte Maßstäbe helfen - desto solidarischer werden wir anderen mit Ihnen in der Verantwortung und in der Schuld. Wohl nicht schuldig im Sinne des Gerichts, aber gemessen an jenen letzten Maßstäben... Die radikale Schuld ist durch menschliches Rechnen und Selbstprüfen wohl nicht zu begreifen. Die Übernahme einer Verantwortung diesen Umfangs und dieser apokalyptischen Tiefe spottet aller menschlichen Kräfte." Die Antwort des Auschwitzapothekers blieb aus; nur mündlich habe Capesius dazu Stellung bezogen, schrieb Möckel später in einem Bericht: „...wobei sein vollkommenes Nichtverstehen dessen, was der Brief gemeint hatte, deutlich wurde." Capesius schrieb 1983 voller Selbstmitleid an Zillich: „In meiner damaligen Lage war dieses Schreiben für mich eher belastend... In Ihrem Aufsatz „Opfer der Siegerjustiz" erkenne ich die Mentalität und die Einstellung von Dr. Klein wieder. Da wir viel in unserer Freizeit beisammen waren und auch in der gleichen Baracke wohnten, habe ich ihn so gut gekannt, um beurteilen zu können, dass alles, was er in Auschwitz auf Befehl ausführen musste, zutiefst seinem Wesen widersprochen hat. Bemüht etwas menschlich auszugleichen, hat er bei allen Transporten aus Ungarn mit den Ankommenden ungarisch gesprochen, im Bewusstsein, ihnen doch nicht helfen zu können, versuchte er sie wenigstens seelisch zu stützen." RÜCKBLENDE. Meine Mutter, „Viks" Jugendfreundin: „Es gibt ein Foto vom Silvester unseres Kränzchens im Speisezimmer, man sieht die große Tafel und den Weihnachtsbaum, alle Freunde waren da, und der Vik schaut mich auf dem Foto so an, er hat ein Weinglas in der Hand, ich sitze, er steht, wie ein schwarzer Berg sieht er aus, und er beugt sich zu mir herab, und wir sind ja maschkuriert, Neujahrsnacht eben, er als Schornsteinfeger, hat einen Zylinderhut auf und das Gesicht geschwärzt, er war mir unheimlich, aber auch ohne Maschkura unheimlich, er hatte etwas Lauerndes und Gewalttätiges. Und manchmal auch was Absentes, dann starrte er ins Leere. Also damals an jenem Familienfest im Baumgarten, das war so: Nach dem Bad essen wir Himbeeren im Gemüsegarten und schütteln den Sommerreisapfelbaum. Auf der Terrasse, unter den alten Eichen ist dann die lange Familientafel gedeckt. Jeder nimmt seinen Platz ein, mein Vater begrüßt die Gäste, und Tante Cäcilie sagt ein Gedicht auf. Ergriffen und gerührt. Soo schön. aber dann hebt das "Tschawalles" an: Alle reden durcheinander. Tante Cäcilie am schnellsten, zungenfertigsten. „Man kann sein eignes Wort nicht verstehen, brummt mein Vater." Diese schlechte Familienangewohnheit. Warum schreien sie alle? Unbeherrscht. Keiner hört dem andern zu. Wie ein großes waberndes Wesen umgibt die Großfamilie alle, zieht sie zu sich rein, diese Atmosphäre der Nähe auf der Eichterrasse an den reichlich gedeckten Tischen - ist dick zum Schneiden, mit den Händen fassbar, und man bewegt sich sicher in dieser Umgebung, im kühlen Schatten, in diesem Element des glücklich Vertrauten: Alles ist so einfach und schön geordnet wie die Schüsseln auf dem Tisch. Und doch - warum schreien sie alle durcheinander? Als wären sie gefährdet, als müssten sie ertrinken oder sich gegen irgend etwas selbst behaupten! Es ist so, als wären sie alle mehr, als stände ihnen mehr Selbstbewusstsein zu als sie bekommen, als sie hier jedenfalls brauchen können. Oder ists ein Rausch, dieses Zusammensein, in dem man das tägliche leise ziehende Unbehagen, diese leise Angst vor dem Kommenden vergessen kann? Die Männer sind ruhiger. Als hätten sie sich an eine Ahnung von etwas Unvermeidlichem längst gewöhnt; man ist hier schön geborgen, und doch ists so, als wäre dies alles nicht mehr ganz wirklich; der Nussbaum, die Terrasse, der Blick auf die vertrauten Konturen der Burg, die Buner Berge, die Nähe hier: die Tannen, der Huflattich zwischen den Steinen - alles ist schon wie längst vergangen, wie stehen geblieben, auf einer kleinen Insel. Mein Vater trinkt einen großen Schluck Nadescher Wein und sagt dann zu Rolands Vater Daniel, dem Organisten, der neben ihm sitzt und aufmerksam durch die runde Brille auf ihn blickt: „Seit dem verlorenen Krieg vom Achtzehner und dem Zusammenbruch der Monarchie ist nichts mehr so wie es war. Und alles nur ein schwankender Boden und Unsicherheit, seit wir nun zur Walachei gehören." SOMMERFRISCHE Der Himmel bedeckt sich plötzlich mit dunklen Wolken, es ist drückend schwül. Dann endlich sausen dunkle Schatten lautlos über die Erde. Ozonduft, Frische. Erste große Gewittertropfen. Schnell die Stühle reintragen. Und als sie dann gemütlich im Sommerhaus auf der Veranda sitzen, meinen sie zu träumen. Krachend schlägt der Blitz in der Nähe ein. Harry jault erschrocken. „Ja, es sind ferne Heimaten in uns, Wolkenstreifen, wir denken immer, es könnte jeden Augenblick etwas Schlimmes passieren", sagt Roland. Roland sitzt mit Vik am Fenster und sieht auf die Silhouette der Burg, die zwischen den tief hängenden Regenwolken und den Regenstreifen gerade noch zu erkennen ist: Es schüttet. Es trietscht; durch den Hohlweg schießt schon gelbes Lehmwasser, die Wege sind kleine Bäche. „Schade", sagt Vik, „dass wir jetzt nicht hinauf zum Tanzplatz können, ich hatte mich schon sehr gefreut, und jetzt hab ich das Grammophon ganz umsonst mitgebracht." „Wieso, komm, wir setzen uns oben in die Mansarde, zum Tanzen ist wenig Platz, doch, vielleicht zwei Paare, und du spielst deine Tanzplatten ab, hast du nicht auch was Klassisches, Schubert oder Beethoven." „Nein, ich mag Charleston und Strausswalzer lieber", entgegnet Vik. „Banause", murmelt Roland. Und dann hören die Alten, die auf der Veranda sitzen und weiter dischkurieren: Oh, Donna Clara, ich hab dich tanzen gesehen... Und Oh Mädle ruckruckruck an meine grüne Seeite, i hab di gar so gern, i mag di leideee. Und natürlich auch: Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe...Und: Kornblumenblau sind die Augen der Frauen beim Lieben... Und: Wo die Nordseewellen schlagen an den Strand... Und die Ami singt dann auch gleich mit: Wir gehören zusammen/wie der Wind und das Meer,/ Von dir mich zu trennen,/Ja das fällt mir so schwer...Und man hört den Vik falsch singen, er ist aus allen herauszuhören am lautesten... http://www.youtube.com/watch?v=IJ3ujSK4KTY Roland aber sagt: „An unseren Liedern erkennt man genau diesen Wesensunterschied zwischen uns und den Juden. Kannst du dir vorstellen, dass sie unsere Lieder nachfühlen können.... Das Verjazzte, diese Asphaltmusik, ja, mit der sie die Welt heute vergiften... in Berlin oder New York. Auch Paris, dies Vernegerte, diese Negermusik." Und alle singen: Soldaten sind Soldaten, in Worten und in taten. Sie kennen keine Lumperei... http://www.youtube.com/watch?v=7lIw_1S5Kpk Von rechts: Roland Albert, seine Mutter, die Alber Minnitante, und seine Frau, um 1940 Nach dem Krieg floh er nach Österreich (Kufstein), lebte dort als Holzfäller, Elektriker, Lagerverwalter, bis er zusammen mit seiner Frau Religionslehrer in Kufstein, schließlich Buchhalter wurde. Nach de Tod seiner Frau 1962, die an einem späten Auschwitztrauma und Krebs starb, lebte er mit seinr Lebensgefährtin in Innsbruck Privat (?) scheint Capesius ja ein guter anständiger hilfsbereiter und höflicher Mann gewesen zu sein, wie zu Hause in Schässburg eben auch, ein Familienvater, Chef und Freund. Die Häftlingsapotheker und Drogisten der SS-Apotheke im Stammlager und der Häftlingsapotheke aus Birkenau (die Eva Citron Bard durch Vermittlung des Sturmbannführers leitete.) hatte er „gerettet", sie sind, wenn nicht alles täuscht, und nur dem Chef geschmeichelt wurde, Capesius zugetan und haben ihn kaum belastet: Der Apotheken-Häftlingsleiter und Kapo mit Kapobinde Jan Sikorski etwa, geboren am 12. Januar in St. Petersburg, ein ausgeglichener, fleißiger und wahrheitsliebender Mann. Mit Dr. Dent. Fritz Strauch aus Berlin (geboren in Schlesien) Leitender Häftlingsapotheker, der die Offizin SS-Apotheke leitete, und schon älter war, 1897 in Berlin geboren, hatte C. sogar eine Freundschaft. Es gibt Briefe als Beweis... DIE AUSCHWITZAPOTHEKE II Adam zeigte mir die Kopie eines Briefes von Ferdinand Grosz an Hermann Langbein (Wien). Ich wusste: Grosz kam aus jener Apotheke in Tîrgu-Mureş, wo Capesius auch seine Eva kennen gelernt hatte, und ich sagte zu Adam: „Der Capesius kannte Grosz gut, doch zusammen mit ihm hatte er auch seine Geliebte, die Eva Citron dort kennen gelernt." „Was du nicht alles weißt, stimmt das?" „ Ja, es gibt zuverlässige Berichte dazu." „Also hier", sagte Adam: „dein Leben besteht jetzt vor allem aus Lesen, nicht aus Schreiben, mein Lieber", und er sah mich mit seinem typisch ironischen Blick an, den ich noch aus Bukarest von ihm kannte, und der mich immer ein wenig verärgert hatte. Ja, Lesen, aber was bedeutete dieses Lesen hier in seinem alten Zimmer in der Schässburger Hüllgasse? Doch ich lernte jetzt ein anderes Schässburg, ein anderes Odorhei, ein anderes Tîrgu-Mureş kennen als das meiner Kindheit, so weit entfernt wie das „nächste Dorf" die Kinderblicke auf die Schilder der Busse am Markt: „Tîrgu-Mureş. Marosvásárhely": 2 FURCHTBARE NÄHE II   Und wir? Die Anderen? Unser Untergang? Es war August. Aber es war nun viel zu spät für unsere Wunderwaffe. Und man hörte, die Amerikaner seien die ersten gewesen, die einen Vorgeschmack auf die Apokalypse geliefert hatten. Am 6. August 1945, also ein Jahr später.... Großvater las die Nachricht in der Zeitung, er konnte sich aber unter jenem Lichtblitz nicht viel vorstellen. Auch der Name sagte ihm wenig, Japan war weit. Trotzdem nahm er in jenen Tagen seine Bibel, als wäre sie zuständig, und strich sich einige Stellen aus der Offenbarung an. Vom Tode seines Sohnes Ali wusste er noch nichts, auch über Georgs Hungertod in Frankfurt an der Oder wusste er nichts. Keine Nachricht, obwohl beide schon seit einem halben Jahr tot waren. Sie lebten weiter an der Familien-Fotowand über dem klobigen Schreibtisch. Im Innern des Schreibtisches gingen die vielen Aktenbündel in einer flächigen Zinkkassette auf, Münzen, dazwischen eingeschoben das grünlich netzartige Zwischen¬fach für das Papiergeld, es zeigte kaiser-königliche Münzen mit dem Kopf des Franz Joseph, dann den Michael des König¬reiches Rumänien. (Später, ab 1948, kam das billige Nickelgeld der Volksrepublik hinzu, mit Wappen - aber ohne Kopf.) Vor der Fotowand die unförmige, wie eine Frucht geformte alte Messinglampe. Die Fotowand erinnerte sich, auch wenn niemand mehr dabei war: Nahe am Fenster zum verwilderten, unkrautreichen Garten des Nachbarn hing das ovale Porträt der Großmutter, dies milde Gesicht, auf der Brust eine weiße Schleife mit großer Goldbrosche, die Ami; und nicht weit von diesem Gesicht das erste Foto der Kriegstoten... Ali. Karl Wilhelm Keul (26). Gefallen bei Weimar 13.April 1945 Und ich hörte die Stimme Mutters: „Die Internazionale und die russische Hymne erklangen auf unserem Marktplatz. Stell dir das vor - die Internationale! Und auf der Villa Franca stand russische Flak. Und Verwundete mit Mongolengesichtern auf dem Bahnhof in langen Reihen. Internazionale: http://www.youtube.com/watch?v=A2EChX1QsPU Onkel Daniel sagte, es sei freilich ein Mangel an Gastfreundschaft, unsere friedlichen Jungs aus Russland so raus zu schmeißen, dann gar hier bei uns in unsere Heimat so ungebeten einzudringen, die Russen doch sonst ein so gastfreundliches Volk! Als die Internationale und die russische Hymne auf dem Marktplatz erklangen, auf der Villa Franca russische Flak auffuhr, ich Verwundete mit Mongolengesichtern betreuen musste, im Mädchenlyzeum, auf dem Bahnhof, als die Kölnisch Wasser und Brennspiritus tranken, uns die Uhren abnahmen, dawai tscheas - Uhr her!, sagte Onkel Daniel: „Aha, nun gut, die andere Zeit ist da. Der Heilige Geist in neuartiger Form." Alle waren verstört, als sie hörten, vor allem der K.-Großvater war verstört, wütend sogar, als Daniel einen einzigen Satz sagte: „Wir wollten die Roten erledigen, dann haben sie uns erledigt."" Das blieb, das war mal ein Wort. Und Daniel machte sich weiter Luft: „Der Hass auf die Roten, die Angst vor den Armen: Wir wollten sie erledigen, dann haben sie uns erledigt. Klare Sache. Wir waren ein Volk von Bürgern und Bauern, wir Sieben¬bürger Sachsen, ja. Dass sie Gold und Besitz bei uns suchten, war doch normal. Ja, dass jene, die uns Jahrhunderte lang in Häusern und großen Höfen, in schönen Gärten bedienen mussten, Milchmänner, Tagelöhner, Erdarbeiter, mit Vor¬namen nur angesprochen und mit Du, nun die Wut überkam, ist doch menschlich, nicht wahr? Dass sie sich die Geschäfte, die Häuser beibogen, die Gärten, die Höfe dieser arbeitswütigen Sachsen." Bei Alarm wurde der kleine Hannes grün und gelb im Gesicht und weinte. Minch bekam Durchfall. Ich zitterte am ganzen Leib und wollte nichts essen! Und Mutter erzählte: „Wir Frauen mussten den Verwundeten, die vom Bahnhof kamen, die schmutzige Wäsche waschen. In früheren Klassenzimmern des Mädchenlyzeums waren Betten in langen Reihen aufgestellt, ein Lazarett, da lagen Kirgisengesichter, die waren freundlich, aber die Frauen hatten eine Sterbensangst vor ihrer Wildheit; und in der Zeitung hatte man sie als Affen gesehen; jeder Verwundete... der da lag, war ja ein Bolschewik. Und dann gab es auch diese Vergewaltigungen. Hermann¬onkel und Gustitante waren von zwei Rotarmisten in Schach gehalten worden, während der dritte seelenruhig die Hosen runterließ und sich über die weinende Tochter, die arme Gerda, hermachte. Und dann kamen auch noch die anderen beiden zum Zuge. Das hat die Arme nie vergessen können! Großvater aber, der ehemalige k. u. k.- Offizier, wurde rot im Gesicht als er das hörte, wollte seinen Revolver holen ..." (Hatte er den überhaupt noch?) das Jagdgewehr? Ja, hat er die nicht genauso wie Telefon und Radioapparat abgeben müssen? Die Frauen aber schrieen entsetzt: bleibt hier, Karl, bleiw hä, gang net! Denk doch an die Kinder! Sie werden euch alle umbringen! So blieben sie also, zitternd vor ohnmächtiger Wut und Scham. Und dann kamen auch die Drei von drüben, kreidebleich und stumm. Am nächsten Morgen musste die arme Gerda ins Spital, sie haben ihr gleich eine Waschung und Desinfektion gemacht. In diesen Tagen gab es viele Begräbnisse... vor allem in der Corneşti... klagende Frauen mit schwarzen Kopf¬tüchern... Kerzen... Weihrauch Geruch... ein Pope in silber¬besticktem Messgewand sang..." 17 Und die Erinnerungen flossen, Bild für Bild... wie sonst als Kind hier war ich erwacht, hatte die schlechte Luft im Schlafzimmer gespürt, das heiße verbeulte Kissen am Kopf. Der Wecker hatte geschnarrt - Schmerz des Frühaufstehens. Und ich war wieder ein Kind: Vater stand auch auf, er musste in die Stadt. Ich durfte mit. Aber ich sehe die Überschwemmung der Kokel noch nicht, unter der Maria-Theresia-Brücke schießt das Wasser noch nicht durch. In den Häusern sind die Wände noch nicht nass und feucht, das gelbe Erdreich löst sich noch nicht auf, man kann davon noch nichts erkennen - erst das nächste Jahr wird es zeigen, langsam wird sich alles auflösen. Jetzt, im Spätherbst 1944 sind nur die Gesichter fahl, die Leute schleichen niedergedrückt und wortlos durch die Straßen, grüßen kaum, manche flüstern, der Mundfunk ist verbreitet, es sind die einzigen Nachrichten, Gerüchte über Gerüchte, davon lebt man. Und wieder hat die Oma davon geträumt, dass kochendes Wasser vom Himmel fällt, statt Regen. Und auch die Steine des Trottoirs am Marktplatz sollen sich aufgelöst haben. Ich taste mit den Händen vorsichtig an ihren Kanten entlang und Vater wird böse: „Du machst dich ganz dreckig, Junge!" Dann versuche ich es mit den Füßen - alles noch fest. Nichts ist zu bemerken, nur die Leute haben Gesichter wie zehn Tage Regenwetter. Aber als Mirjam, unser Nachbarmädchen, dem alten Mendel, dem Rabbi, davon erzählte, sagte der nachdenklich, wie es seine Art ist: „Ja, Fluss oder Stein, all dies hat mit dem Ende zu tun, hat mit dem vorletzten Buchstaben der Welt zu tun, mit dem Schin." Dann ging Vater mit seinen langen Schritten und ich mit kleinen Schrittchen an der Apotheke Zur Krone vorbei. Sie war gesperrt, die Apotheke, auch unser Geschäft im gleichen Gebäude der Gewerbebank war gesperrt. Doch Vater nahm den Schlüssel, öffnete, ging von hinten rein, durch die Tür der Bank mit den automatischen geräuschlosen Türöffnern, dann öffnete er das Wertheimerschloss, ging mit schnellen Schritten am Klo vorbei, und dann zu den Büchern im Kontor, nahm das Hitlerbuch an sich und einige Schriftstücke und Zeitungen, verstaute sie vorsichtig in einer großen Aktentasche und hatte es dann, nachdem alles wieder gut gesichert war, sehr eilig, die Baiergasse hinab zu kommen ins Stadthaus und in den Garten am Kokelufer. Dort sah er sich um, nahm dann das Hitlerbuch und alle Schriftstücke und Zeitungen aus der Aktentasche und warf sie in hohem Bogen in die Kokel. Schlamm drüber! Und auch Vaters rumänischer Hauptmann war da, der ihn vor der SS gerettet hatte, sie zogen nun gegen die Deutschen, gen Westen, auch er, der kleine Hauptmann mit seiner Kompanie. Er wollte Vater etwas Gutes tun, und sagte: „Te îmbraci in uniformă română şi vii cu noi. Ziehst jetzt eine rumänische Uniform an und kommst mit uns." Ja. Es sei besser, Vater kämpfe jetzt gegen die Deutschen. Das sei gut für alle Zukunft. Du kommst auf die andere Seite der Front. Aber Vater wich zurück, wie vor etwas Verbotenem. „Nein, nein", sagte er. „Danke. Ich bleibe jetzt bei meiner Familie, die braucht mich." 18 Großer Raum. Eine Orgel. Gesang. 1945. Hört ihr die Große Glocke? Der Bischof auf der Kanzel. Onkel Daniel an der Orgel. Hört ihrs: Jesu, meine Zuversicht? Die Große Glocke, von drei Männern gezogen. („Da tönt voll Ernst, da tönt voll Macht vom Berg die Glocke droben.") Auf einem Wandmedaillon, schildartig, verzierte Randleiste: „Auff dien grosz Martr Sterben/ Und Leydn/ Kommn wir o Herr zu/ Dir bescheydn." Wir waren am Ende. Keine Auferstehung. Peenemünde hatte versagt, dies Fischerdorf auf der Insel Usedom, wo ja auch Großvaters Jagdfreund, unser Raketen-Oberth, gewesen war - schließlich hatte er die Rakete erfunden - und sollte seine Erfindung weiterführen bis zur Wunderwaffe V 1 und V 2, was er auch gern getan hätte. Bevorzugt wurde aber dann sein Schüler von Braun. Das werden die Siebenbürger der Obersten Heeresleitung nie verzeihen, die hat den falschen Mann gewählt. Ich saß im Baruchhaus in der Stube, wo ich geboren wurde, am neuen Schreibtisch und schrieb: Alle, die mit den Deutschen kämpften, blieben weiter an der Front. Für Führer und Reich. Auch wenn bei uns in Schesz-Brich ein seltsamer Frieden herrschte. Unter den Russen. Es geschah etwas, was wir auch in unserem heutigen Wohlleben gar nicht mehr nachfühlen können: Im Januar 45 wurden alle jungen Sachsen und Sächsinnen nach Russland verschleppt. Auch Georg wurde deportiert. Befehl des russischen Stadtkommandanten, sich zu stellen. Wie früher die Deutschen ihre Juden bestellt hatten - Befehl des Stadtkommandanten. Friederike erzählte, wie es gewesen war: „Als die Bekanntmachung des russischen Stadtkom¬mandanten und der Polizei publik wurde, handelten alle genau so wie vorher, ohne Widerrede und ohne Rücksicht auf ihr kleines Leben, eben so wie wir es gewohnt waren, genau so (ohne Räcksicht af as klien Liewen), blind auch der neuen Obrigkeit gehorchend. Und die Baruchischen lachten über uns und sagten noch, wenn man euch auffordert, morgen in der Früh auf dem Marktplatz zum Erschossenwerden anzutreten, seid ihr vollzählig und pünktlich da. Aber sie, die Juden, hätten es ja genau so gemacht. Vielleicht sind wir uns zu ähnlich, so dass dieses Unglück zwischen uns geschehen musste. Dieser Wahnsinn, stell dir das vor! Und da war doch der junge Roth, der Sohn vom Friseur, der hatte sich ja wie alle übrigen auch gestellt, wä menj Georg uch. Wie mein Georg ja auch. Um ein Uhr mittags mussten sie sich in der Mädchenschule versammeln, dort war der Sammelplatz; sie wurden bewacht von rumänischen Polizisten und von Russen, aber man hätte sie gar nicht bewachen müssen, sie wären sicher nicht weggelaufen, sicher nicht! Und als man den jungen Roth nicht aufrief, alle wurden aufgerufen beim Appell, nur er nicht, da meldete er sich wie in der Schule und sagte: Bitte, mich hat man nicht aufgerufen. Oder hat er es vielleicht auf Rumänisch gesagt?! Ich weiß es nicht. Ja, wir, wir waren schon ganz schön dumm; ich packte Georg den Rucksack, zuerst hatten wir noch Mittag gegessen, und es war vorgeschrieben, was man mitnehmen durfte, es gab eine Liste dafür, und ich sagte zu ihm, als die alte Spieluhr auf der Kredenz anfing zu spielen, du weißt ja, dieses Üb immer Treu und Redlichkeit, dies Mozartlied war auf der Walze, die Ami hatte das so gern, man muss ja jetzt nach so vielen Jahren lachen, obwohl mir jetzt die Tränen kommen, da sagte ich, dass es ja schon dreiviertel eins sei, und sagte noch, Georg, tea messt dech beellen, du musst dich beeilen, sonst kist tea noch ze speet. Und er: Jaja, ich gehe schon, behät dech Gott, menj Läwet uch de Känjder. Behüt dich Gott meine Liebe, dich und die Kinder! Und ich komm bald wieder, ich bin ja gesund. Ja, und er nahm den Rucksack vom Tisch, schnürte ihn sorgfältig zu, ging zur Tür hinaus, über den Gang ging er, Georg, mein Mann, ich sah ihm nach, er ging die Treppe hinab, tauchte im Hof nochmals auf, ging durch den Hof, am Tor wandte er sich nochmals um, winkte mit einer Hand, ich sah die Hand ganz oben, ganz oben sah ich seine Hand, seine liebe Hand, und er verschwand dann auf der Gasse und kam nie mehr wieder. Einige hatten sich versteckt, unter anderen auch dein Vater, manche änderten wie Fredi ihren Familiennamen, heirateten Rumänen, du kennst ja die Geschichte vom Leutnant Popescu, der die Gret geheiratet hat, die schon in der Schule war, er holte sie raus, fragte, ob sie einen Verlobten habe, naja, sagte sie, der ist noch bei der SS. Der blutjunge rumänische Offizier geng mät em straks zem Standesamt, ging mit ihr stracks zum Standesamt, und sie kam als Doamna Locotenent Popescu wieder heraus, er wünschte ihr noch viel Glück, und nach dem Krieg können wir uns wieder scheiden lassen. Es kam aber nicht mehr dazu, er kam aus dem Krieg nicht mehr zurück, und die Gret war nun rumänische Kriegswitwe, sie wartete noch anstandshalber das Trauerjahr ab, und heiratete dann ihren Franzi, der gesund von der SS wieder nach Hause gekommen war. Und sie bezieht noch heute ihre rumänische Offizierspension, obwohl sie längst in Westdeutschland lebt, in der „neuen Heimat.""   Dr. HELMUT KEUL „Januar 45 war ich freilich noch im kämpfenden Berlin. Und mit der V 2 sollte es nun so weiter gehen. Ich war ja noch dabei in jenem Zentrum des eingekesselten Großberlin", so Onkel Hermann: „Dann kam der 2. Mai. Ein leichter Regen ging nieder, jenseits des Nollendorfplatzes erste weiße Fahnen. Frühlingsduft, Rauch, Geruch von Blut und Schweiß, wir stiegen mit weißen Armbinden über die Trümmer. Hatten uns sorgfältig Kragenspiegel und Rangabzeichen abgetrennt. Ergaben uns den Russen", erzählte Hermann: „Wir hoben die Hände hoch, ergaben uns einer Gruppe Rotarmisten, die lächelnd abwinkten. Die Uniformen von SS und Wehrmacht sind gleich feldgrau. Ich war SS-Unterarzt, also Unteroffizier, und bei der Kontrolle - die untersuchten zuerst jeden nach Blutgruppenzeichen - fanden sie mein Zeichen nicht, das war mein Glück, ich hatte keines. An dem Tag, als bei unserer Einheit diese Operation vorgenommen worden war, konnte ich mich drücken", lachte er leicht gequält auf. „Ja", sagte er: „Mer bekamen alsi den Passierschenj, sätzten es än den Zach, in debn Zug, und kamen no enner langen Fohrt drun än Temeschburg auf dem Bahnhof un. De Let sachen as un, als wären mer Giester. Als wären wir Geister, also Gespenster, ja, so sahen uns die Leute an, ein Häuflein deutscher Soldaten fast ein Jahr nach dem Zusammenbruch. Und prompt nahm uns dann auch eine russische Patrouille hopp. Wir zeigten aber unsere Zapiska, das Papier, vor, die schüttelten die Köpfe und ließen uns ziehen. Im Zug sahen uns die Leute an, als wären wir eine Befreiungsarmee, die Rumänen, die hatten jetzt von der Befreiung und den Befreiern genug und hätten sich wohl gern zurückerobern lassen. Zu Hause in Schäßburg angekommen, drückte ich mich die Wände entlang, von Hauseingang zu Hauseingang, als gälte es, mich in einem heimlichen Straßenkampf zu bewähren... Kam dann in meinem Elternhaus an, ging durchs Hoftor, über die Katzenköpfe am Baruchhaus vorbei, im Hof schlugen die Nachbarn die Hände über dem Kopf zusammen, unsere Gysi machte Kulleraugen und rief: Joi a Doktorur. Und nur ein Baruchmädchen, ich glaube, es war die Mirjam, machte ein sehr erschrockenes Gesicht. Friederike sah mich vom Gang, wurde ganz rot vor Aufregung und lief mir entgegen, auch meine Mutter war inzwischen alarmiert, und es fand eine große Begrüßung statt. Zuhause aber herrschten noch echt rumänische Zustände. So hatte die Polizei nach einigen Tagen von meiner Ankunft Wind bekommen, oder die brauchten noch Menschen für einen neuen Transport in den Ural. Im Januar 1945 waren Abertausende unserer Leute verschleppt worden. Jedenfalls kam ein Zivilist zu uns in die Baiergasse und sagte zu meinem Vater: Sa poftiţi cu fiul Dumneavoastră la poliţie, kommen sie bitte mit Ihrem Sohn zur Polizei. Und da hat mein Vater gesagt: Mein Sohn ist nicht da. Und der Zivilist ist gegangen; doch nach einer Stunde kam er wieder und bestand darauf: Ich muss Sie jetzt mitnehmen, machen Sie sich sofort fertig. Und wie der auf unserem Gang am Wohnzimmerfenster entlang geht, in die Küche, um mich festzunehmen, bin ich zum Haupteingang hinaus, wir hatten ja zwei Eingangstüren, zuerst ins Klo und dann auf den Holzmarkt zu Sles. Und da hat mein Vater wieder gesagt: Mein Sohn ist nicht da, und der Zivilist musste wieder unverrichteter Dinge abziehen. In der Holzmarktgasse bei Sles und Eri war eine rumänische Kommission, die wollte sich die Wohnung ansehen und enteignen. Ohne zu wissen, was da los war, kam ich in das Zimmer herein. Und da sagte dieser Rumäne, ich weiß nicht, wie er hieß, wir kannten uns von früher: Ah, domnule Doctor, aici sunteţi! Ah, Herr Doktor, hier sind Sie! Sie hatten mich ja gesucht, die Sigurantza. Aber der von der Kommission war ja nicht für mich und meine Verhaftung zuständig. Und später, da kam einer, sah mich von der Gasse zum Tor herein gehen, zwinkerte mir zu und sagte: Sie müssen sofort zur Polizei. Ließ mich aber hineingehen. Ich sagte zu Vater: Jetzt verschwinde ich; zu den Russen geh ich auf keinen Fall, das kenne ich. Und habe dann nachgedacht, was ich jetzt tun könnte, bin dann zur Krankenkasse gegangen und habe die gebeten, mir einen Einlieferungsschein zu geben. Ein andermal kam zu meinem Vater einer vom Cerc, vom Wehrkreiskommando, mit einem Pferd zur Behandlung, Vater war ja ein angesehener Tierarzt. Ein Sachse war es, und ich frage ihn: Was machen Sie da beim Cerc? Und der sagte: Ich war ja auch in Deutschland bei der SS, aber wir sind mindestens zehn SS-Sachsen jetzt beim Cerc. Der Oberst beschäftigt uns. Ich musste mich sowieso beim Cerc melden und bin mit meinem Vater am nächsten Morgen zu denen gegangen. Und da hat der Oberst Popa gesagt: De îmbraci în uniformă romînă, ca porcii ăştia dela Siguranţa să nu te prindă.. Du ziehst eine rumänische Uniform an, damit dich diese Schweine von der Sicherheit nicht finden, so hat er wörtlich gesagt. Da bin ich tagelang als Schreiber durch die Stadt gewandert, so gegen Morgen. Früh um acht habe ich dort meinen Dienst angetreten, und es waren meistens Sachsen oder Ungarn da, die auch alle draußen und auser Landes gewesen waren. Und überall in den dicken Büchern stand: Dat desertor. Als Deserteur erkannt. Daneben ein großer Stempel: In sensul convenţiei romîno-germane din 1943 a fost incorporat in armata germana. Entsprechend des deutsch-rumänischen Abkommens von 1943 wurde er zum deutschen Heer eingezogen. Auch Geheimschreiben gingen durch meine Hände, in denen stand, die Sachsen und Schwaben, also die hitlerişti, versuchten mit allen Mitteln, jetzt wieder über die Grenze zu kommen. Man sollte sie auf keinen Fall wieder hereinlassen." „Was war das für ein Abkommen?" „Nun, das war ein Geschenk des Volksgruppenführers Roland Schmidt, ein Staatsabkommen zwischen Berlin und Bukarest. Es bedeutete praktisch, dass alle Deutschen Rumäniens ihren Wehrdienst freiwillig bei der SS abzuleisten hätten. Von Freiwilligkeit war zu dem Zeitpunkt freilich kaum die Rede. So kamen fast 70.000 unserer Leute völlig ahnungslos und unter Zwang in den Schwarzen Orden und leider als Wachpersonal auch in die Lager wie mein Bruder Tallo und Roland."   1945 1945 und 1946 SCHULD UND DEPORTATION   17 18 Großer Raum. Eine Orgel. Gesang. 1945. Hört ihr die Große Glocke? Der Bischof auf der Kanzel. Onkel Daniel an der Orgel. Hört ihrs: Jesu, meine Zuversicht? Die Große Glocke, von drei Männern gezogen. („Da tönt voll Ernst, da tönt voll Macht vom Berg die Glocke droben.") Auf einem Wandmedaillon, schildartig, verzierte Randleiste: „Auff dien grosz Martr Sterben/ Und Leydn/ Kommn wir o Herr zu/ Dir bescheydn." Wir waren am Ende. Keine Auferstehung. Peenemünde hatte versagt, dies Fischerdorf auf der Insel Usedom, wo ja auch Großvaters Jagdfreund, unser Raketen-Oberth, gewesen war - schließlich hatte er die Rakete erfunden - und sollte seine Erfindung weiterführen bis zur Wunderwaffe V 1 und V 2, was er auch gern getan hätte. Bevorzugt wurde aber dann sein Schüler von Braun. Das werden die Siebenbürger der Obersten Heeresleitung nie verzeihen, die hat den falschen Mann gewählt. Ich saß im Baruchhaus in der Stube, wo ich geboren wurde, am neuen Schreibtisch und schrieb: Alle, die mit den Deutschen kämpften, blieben weiter an der Front. Für Führer und Reich. Auch wenn bei uns in Schesz-Brich ein seltsamer Frieden herrschte. Unter den Russen. Es geschah etwas, was wir auch in unserem heutigen Wohlleben gar nicht mehr nachfühlen können: Im Januar 45 wurden alle jungen Sachsen und Sächsinnen nach Russland verschleppt. Auch Georg wurde deportiert. Befehl des russischen Stadtkommandanten, sich zu stellen. Wie früher die Deutschen ihre Juden bestellt hatten - Befehl des Stadtkommandanten. Friederike erzählte, wie es gewesen war: „Als die Bekanntmachung des russischen Stadtkom¬mandanten und der Polizei publik wurde, handelten alle genau so wie vorher, ohne Widerrede und ohne Rücksicht auf ihr kleines Leben, eben so wie wir es gewohnt waren, genau so (ohne Räcksicht af as klien Liewen), blind auch der neuen Obrigkeit gehorchend. Und die Baruchischen lachten über uns und sagten noch, wenn man euch auffordert, morgen in der Früh auf dem Marktplatz zum Erschossenwerden anzutreten, seid ihr vollzählig und pünktlich da. Aber sie, die Juden, hätten es ja genau so gemacht. Vielleicht sind wir uns zu ähnlich, so dass dieses Unglück zwischen uns geschehen musste. Dieser Wahnsinn, stell dir das vor! Und da war doch der junge Roth, der Sohn vom Friseur, der hatte sich ja wie alle übrigen auch gestellt, wä menj Georg uch. Wie mein Georg ja auch. Um ein Uhr mittags mussten sie sich in der Mädchenschule versammeln, dort war der Sammelplatz; sie wurden bewacht von rumänischen Polizisten und von Russen, aber man hätte sie gar nicht bewachen müssen, sie wären sicher nicht weggelaufen, sicher nicht! Und als man den jungen Roth nicht aufrief, alle wurden aufgerufen beim Appell, nur er nicht, da meldete er sich wie in der Schule und sagte: Bitte, mich hat man nicht aufgerufen. Oder hat er es vielleicht auf Rumänisch gesagt?! Ich weiß es nicht. Ja, wir, wir waren schon ganz schön dumm; ich packte Georg den Rucksack, zuerst hatten wir noch Mittag gegessen, und es war vorgeschrieben, was man mitnehmen durfte, es gab eine Liste dafür, und ich sagte zu ihm, als die alte Spieluhr auf der Kredenz anfing zu spielen, du weißt ja, dieses Üb immer Treu und Redlichkeit, dies Mozartlied war auf der Walze, die Ami hatte das so gern, man muss ja jetzt nach so vielen Jahren lachen, obwohl mir jetzt die Tränen kommen, da sagte ich, dass es ja schon dreiviertel eins sei, und sagte noch, Georg, tea messt dech beellen, du musst dich beeilen, sonst kist tea noch ze speet. Und er: Jaja, ich gehe schon, behät dech Gott, menj Läwet uch de Känjder. Behüt dich Gott meine Liebe, dich und die Kinder! Und ich komm bald wieder, ich bin ja gesund. Ja, und er nahm den Rucksack vom Tisch, schnürte ihn sorgfältig zu, ging zur Tür hinaus, über den Gang ging er, Georg, mein Mann, ich sah ihm nach, er ging die Treppe hinab, tauchte im Hof nochmals auf, ging durch den Hof, am Tor wandte er sich nochmals um, winkte mit einer Hand, ich sah die Hand ganz oben, ganz oben sah ich seine Hand, seine liebe Hand, und er verschwand dann auf der Gasse und kam nie mehr wieder. Einige hatten sich versteckt, unter anderen auch dein Vater, manche änderten wie Fredi ihren Familiennamen, heirateten Rumänen, du kennst ja die Geschichte vom Leutnant Popescu, der die Gret geheiratet hat, die schon in der Schule war, er holte sie raus, fragte, ob sie einen Verlobten habe, naja, sagte sie, der ist noch bei der SS. Der blutjunge rumänische Offizier geng mät em straks zem Standesamt, ging mit ihr stracks zum Standesamt, und sie kam als Doamna Locotenent Popescu wieder heraus, er wünschte ihr noch viel Glück, und nach dem Krieg können wir uns wieder scheiden lassen. Es kam aber nicht mehr dazu, er kam aus dem Krieg nicht mehr zurück, und die Gret war nun rumänische Kriegswitwe, sie wartete noch anstandshalber das Trauerjahr ab, und heiratete dann ihren Franzi, der gesund von der SS wieder nach Hause gekommen war. Und sie bezieht noch heute ihre rumänische Offizierspension, obwohl sie längst in Westdeutschland lebt, in der „neuen Heimat.""   1945 und 1946 läutete sehr oft die Große Glocke der Bergkirche. Viele kamen nicht wieder, und für jeden läutete die Glocke. Es läutete also ganz tief die Glocke. Als die Nachricht von Alis Tod kam, weinte sich Mutter die Augen aus, tagelang. Töff fiel bei Weimar am 11. April 1945; die Todesnachricht aber kam erst ein Jahr später an. Neun Mann sollen es gewesen sein, in einem Weggraben, das Gesicht im Gras, vielleicht schon Blumen. Die Blumen aber hatten keine Köpfe mehr, Stängel nur, und auch die zerfetzt. Tau? Töff war sechsundzwanzig Jahre alt, als er fiel. Lager oben auf dem Ettersberg. Lager, kein Todeslager wie bisher, und doch: Dort oben Wanderers Nachtlied unter einer Linde, am Appellplatz, Vögel singen im Geäst; eine Sicht geht weit hinein nach Thüringen. Und genau an diesem Tag kam auch die Nachricht von Georgs Tod, auch sie kam ein Jahr später; auch Friederike weinte sich die Augen aus, und lebte nachher kaum mehr, war Kriegswitwe und Mutter. Die alte Todeskunde, auch sie gilt nun nicht. Keine Erfahrung ist annehmbar. Georg war in Frankfurt an der Oder an einem Hungerödem langsam verlöscht. Wie eine Kerze, sagte sie, wie eine Kerze verlöscht, Georg. Es folgte Schlag auf Schlag. Zwei Jahre später die eigentliche große Enteignung. Ich sehe es noch so genau vor mir: Der S.-Großvater war wie jeden Tag gegen neunzehn Uhr mit Vater aus der Firma A.V. Hausenblasz, unserem Geschäft, nach Hause gekommen. Sie hatten ihm das Geschäft enteignet. Er bewegte sich langsam, mühsam, müde, ein wenig schlurften seine Schritte auf dem Asphalt; neben ihm Sles, sein Sohn, der ihn manchmal sogar untergefasst hielt und mit gebremsten Schritten besorgt neben ihm herging. Die Kuckucksuhr schlug, der freche Holzvogel kam aus seinem Häuschen. Der Großvater ging die knarrende Stiege hinauf, er blieb auf jedem Treppenabsatz stehen, atmete schwer, ich neben ihm, konnte es kaum erwarten, oben zu sein. Großvater wollte mir etwas sehr Wichtiges zeigen, „eine Überraschung", ein Buch. Nein, Briefmarken waren es. „Mit Briefmarken kannst du die ganze Welt kennen lernen, Mächel, du kannst sehr weit weg sein. Man kann auch im Brockhaus lesen und weg sein." Großvater war in Budapest gewesen und in der Kaiserstadt Wien. Preßburg, Prag. Die ganze Monarchie. „Die größte Reise aber geht anderswohin, weißt du, dazu ist die Erde zu klein", sagte er leiser als sonst. Auf dem letzten Treppenabsatz, bevor er den Fuß auf den Boden des kleinen Korridors setzte, brach er wie vom Blitz getroffen zusammen, er fiel auf die Knie, und ich fing einen Blick aus seinen wasserhellen Augen auf. Ich schämte mich, weil der Großvater so schwach vor mir auf dem Boden kniete, stumm, mit bittendem Blick da vor mir auf den Knien rutschte, sich festhielt am Treppengeländer, und ich war so erschrocken, dass ich nicht schreien konnte, keinen Mucks von mir gab, dastand und den Großvater anstarrte, der nichts sagte, gar nichts, immer tiefer und tiefer einknickte, und plötzlich schrie ich gellend durchs Treppenhaus, „der Ota äß gefallen, hie laat..." Rannte die Treppe hinab, sturckelte fast, raste hastig in die Diele. Und dann kamen sie alle gelaufen, Sles und Mutter und auch die Minch halfen Großvater ins Bett. Aber er lebte nicht mehr lang, es zehrte, es nagte an ihm. „Sein Lebenswerk", sagte Vater, „ist ruiniert, das hat er nicht verwinden können, das nicht. Es war ja diese Sache mit der Komman¬ditgesellschaft, da hatte er die alte Firma umgewan¬delt, umbenannt. Sie hieß nun Firma Elegant, da gab es rumänische und jüdische Teilhaber, um in diesen schweren Zeiten zu überleben. Aber auch das war dann gescheitert, es hat auch nicht lange gehalten, es gab eine. schleichende Enteignung. Das wollten sie ja, das wollten sie. Die hätten uns am liebsten ausgerottet. Und unsere jungen Leute immer noch in Russland. Aus und vorbei. Die ganze Lebensarbeit. Aus bitter armen Verhältnissen. Sich hochgearbeitet. Aber jetzt? Alles aus und umsonst gewesen..." 21 „Sommeranfang, ein schöner, wolkenloser Juni 1948. Da ging eines Tages das Schreckensgerücht um", erzählte Mutter: „Frau Flechtenmacher kam zu uns herauf und sagte: Um Gotteswillen, sie nehmen uns alles... Und sie sind in jenem schönen Juni zum Beispiel zu unserem alten Freund Wacke in seine Mühle gekommen und haben ihm befohlen, die Schlüssel vom Geldschrank herauszugeben; er habe in seiner Mühle nichts mehr zu suchen. Und bei den andern war´s ganz ähnlich: Sie können nach Hause gehen, hat man ihnen mitgeteilt, so als würden sie Guten Tag oder Grüß Gott sagen. Sie können nach Hause gehen, die Firma gehört Ihnen nicht mehr, die Firma ist nationalisiert, sie gehört jetzt dem Volk. Und sie haben dann auch schreckliche Dinge gemacht, dieser Pöbel. Sie haben sich zum Beispiel den Herrn Flechtenmacher gegriffen, abgeholt, der war Prokurist bei der Firma Hesshaimer; Joi, furchtbar, ich sehe ihn jetzt noch vor mir, totenblass durch die Straßen gehen, begleitet von einer johlenden Menge von Mob und Fratzen, Halbwüchsigen und Gassenjungen begleitet, so gingen sie also nebeneinander her, ein merkwürdiges Paar, der distinguierte Herr Flechtenmacher hochaufgerichtet, blass und voller Scham, und die Lenjel-Neni, die alte Gemüsehändlerin, die johlende Menge hinterdrein und unter Pfeifen der Gassenjungen über die Neue Brücke und bis in die Baiergasse und durch die ganze Stadt. Ich bin schnell vom Fenster weg, es war ja an dem Tag Kaffeekränzchen bei der Pasketwitsch Geri, meiner Freundin im Elektrizitätswerk, ging schnell vom Fenster weg, konnte es nicht mit ansehen, denn ich kannte ja die beiden als ehrenhafte Leute. Vor allem den Herrn Flechtenmacher. Einen mussten sie herausgreifen, zur Schaustellung. Dabei war er doch so ein distinguierter Herr, mit einem Achtung gebietenden Auftreten." Und auch die Juden wurden dabei nicht verschont. Salmen hat es mir erzählt. „Ja, weißt du, Dr. Mendel, der Bruder von der Dr. Ella Böhm, war ja mit dem Ministerpräsidenen Ion Gheorghe Maurer eng befreundet, und so wurde der Mendel in Bukarest stellvertretender Direktor einer Bank und war dann in die "Ana-Pauker-Affaire" verwickelt, kam so ein volles Jahr in Einzelhaft; er fiel einen Tag nach der Entlassung in Schäßburg auf der Straße tot um. Und die Brüder Baruch wurden auf der Straße mit einem Plakat "Ausbeuter, Klassenfeind" von einer johlenden Menge herumgeführt; sie waren die ersten, die dann von Israel abgekauft wurden. Sie leben aber auch schon lange nicht mehr!" Es war auch ein trauriges Weihnachten, trauriges Ostern und Pfingstfest gewesen; der Schnee schien dünn, nicht fallen zu wollen, das Frühlingslicht und das Grün, das Licht anders als sonst, die Bäume kleiner, die Häuser, auch die Menschen schienen fahl, wie überlebt. Augenöffnung? War dies der Himmelssturz, von dem der große Adolf immer gesprochen hatte und der heldenhaft zu vermeiden sei, indem man andere ins Jenseits beförderte? Ich schätzte meinen Vater, weil er bekannte: „Wie ein Stein fiel es mir von der Seele, als der ganze Plunder weg war, der uns so belastet hatte, ein ganzes Leben, schon die Väter und Vorväter verbraucht hatte." Und er, er habe ja nie etwas besessen, er sei immer nur Angestellter gewesen. War´s denn für die Ewigkeit, das Bleibende? Von dem die Großväter immer sprachen, für das sie ihr Leben geopfert hatten? Auch im Kopf sollte die Welt stillstehen. Noch auf dem Totenbett, umgeben von zwanzig Enkeln: Grund, Haus, Hof. Und der Patriarch machte sein Testament. Ein Leben voller Macht über andere als das Höchste der Güter und Gefühle?   1945 und 1946 läutete sehr oft die Große Glocke der Bergkirche. Viele kamen nicht wieder, und für jeden läutete die Glocke. Es läutete also ganz tief die Glocke. Als die Nachricht von Alis Tod kam, weinte sich Mutter die Augen aus, tagelang. Töff fiel bei Weimar am 11. April 1945; die Todesnachricht aber kam erst ein Jahr später an. Neun Mann sollen es gewesen sein, in einem Weggraben, das Gesicht im Gras, vielleicht schon Blumen. Die Blumen aber hatten keine Köpfe mehr, Stängel nur, und auch die zerfetzt. Tau? Töff war sechsundzwanzig Jahre alt, als er fiel. Lager oben auf dem Ettersberg. Lager, kein Todeslager wie bisher, und doch: Dort oben Wanderers Nachtlied unter einer Linde, am Appellplatz, Vögel singen im Geäst; eine Sicht geht weit hinein nach Thüringen. Und genau an diesem Tag kam auch die Nachricht von Georgs Tod, auch sie kam ein Jahr später; auch Friederike weinte sich die Augen aus, und lebte nachher kaum mehr, war Kriegswitwe und Mutter. Die alte Todeskunde, auch sie gilt nun nicht. Keine Erfahrung ist annehmbar. Georg war in Frankfurt an der Oder an einem Hungerödem langsam verlöscht. Wie eine Kerze, sagte sie, wie eine Kerze verlöscht, Georg. Es folgte Schlag auf Schlag. Zwei Jahre später die eigentliche große Enteignung. Ich sehe es noch so genau vor mir: Der S.-Großvater war wie jeden Tag gegen neunzehn Uhr mit Vater aus der Firma A.V. Hausenblasz, unserem Geschäft, nach Hause gekommen. Sie hatten ihm das Geschäft enteignet. Er bewegte sich langsam, mühsam, müde, ein wenig schlurften seine Schritte auf dem Asphalt; neben ihm Sles, sein Sohn, der ihn manchmal sogar untergefasst hielt und mit gebremsten Schritten besorgt neben ihm herging. Die Kuckucksuhr schlug, der freche Holzvogel kam aus seinem Häuschen. Der Großvater ging die knarrende Stiege hinauf, er blieb auf jedem Treppenabsatz stehen, atmete schwer, ich neben ihm, konnte es kaum erwarten, oben zu sein. Großvater wollte mir etwas sehr Wichtiges zeigen, „eine Überraschung", ein Buch. Nein, Briefmarken waren es. „Mit Briefmarken kannst du die ganze Welt kennen lernen, Mächel, du kannst sehr weit weg sein. Man kann auch im Brockhaus lesen und weg sein." Großvater war in Budapest gewesen und in der Kaiserstadt Wien. Preßburg, Prag. Die ganze Monarchie. „Die größte Reise aber geht anderswohin, weißt du, dazu ist die Erde zu klein", sagte er leiser als sonst. Auf dem letzten Treppenabsatz, bevor er den Fuß auf den Boden des kleinen Korridors setzte, brach er wie vom Blitz getroffen zusammen, er fiel auf die Knie, und ich fing einen Blick aus seinen wasserhellen Augen auf. Ich schämte mich, weil der Großvater so schwach vor mir auf dem Boden kniete, stumm, mit bittendem Blick da vor mir auf den Knien rutschte, sich festhielt am Treppengeländer, und ich war so erschrocken, dass ich nicht schreien konnte, keinen Mucks von mir gab, dastand und den Großvater anstarrte, der nichts sagte, gar nichts, immer tiefer und tiefer einknickte, und plötzlich schrie ich gellend durchs Treppenhaus, „der Ota äß gefallen, hie laat..." Rannte die Treppe hinab, sturckelte fast, raste hastig in die Diele. Und dann kamen sie alle gelaufen, Sles und Mutter und auch die Minch halfen Großvater ins Bett. Aber er lebte nicht mehr lang, es zehrte, es nagte an ihm. „Sein Lebenswerk", sagte Vater, „ist ruiniert, das hat er nicht verwinden können, das nicht. Es war ja diese Sache mit der Komman¬ditgesellschaft, da hatte er die alte Firma umgewan¬delt, umbenannt. Sie hieß nun Firma Elegant, da gab es rumänische und jüdische Teilhaber, um in diesen schweren Zeiten zu überleben. Aber auch das war dann gescheitert, es hat auch nicht lange gehalten, es gab eine. schleichende Enteignung. Das wollten sie ja, das wollten sie. Die hätten uns am liebsten ausgerottet. Und unsere jungen Leute immer noch in Russland. Aus und vorbei. Die ganze Lebensarbeit. Aus bitter armen Verhältnissen. Sich hochgearbeitet. Aber jetzt? Alles aus und umsonst gewesen..." 21 1948 „Sommeranfang, ein schöner, wolkenloser Juni 1948. Da ging eines Tages das Schreckensgerücht um", erzählte Mutter: „Frau Flechtenmacher kam zu uns herauf und sagte: Um Gotteswillen, sie nehmen uns alles... Und sie sind in jenem schönen Juni zum Beispiel zu unserem alten Freund Wacke in seine Mühle gekommen und haben ihm befohlen, die Schlüssel vom Geldschrank herauszugeben; er habe in seiner Mühle nichts mehr zu suchen. Und bei den andern war´s ganz ähnlich: Sie können nach Hause gehen, hat man ihnen mitgeteilt, so als würden sie Guten Tag oder Grüß Gott sagen. Sie können nach Hause gehen, die Firma gehört Ihnen nicht mehr, die Firma ist nationalisiert, sie gehört jetzt dem Volk. Und sie haben dann auch schreckliche Dinge gemacht, dieser Pöbel. Sie haben sich zum Beispiel den Herrn Flechtenmacher gegriffen, abgeholt, der war Prokurist bei der Firma Hesshaimer; Joi, furchtbar, ich sehe ihn jetzt noch vor mir, totenblass durch die Straßen gehen, begleitet von einer johlenden Menge von Mob und Fratzen, Halbwüchsigen und Gassenjungen begleitet, so gingen sie also nebeneinander her, ein merkwürdiges Paar, der distinguierte Herr Flechtenmacher hochaufgerichtet, blass und voller Scham, und die Lenjel-Neni, die alte Gemüsehändlerin, die johlende Menge hinterdrein und unter Pfeifen der Gassenjungen über die Neue Brücke und bis in die Baiergasse und durch die ganze Stadt. Ich bin schnell vom Fenster weg, es war ja an dem Tag Kaffeekränzchen bei der Pasketwitsch Geri, meiner Freundin im Elektrizitätswerk, ging schnell vom Fenster weg, konnte es nicht mit ansehen, denn ich kannte ja die beiden als ehrenhafte Leute. Vor allem den Herrn Flechtenmacher. Einen mussten sie herausgreifen, zur Schaustellung. Dabei war er doch so ein distinguierter Herr, mit einem Achtung gebietenden Auftreten." Und auch die Juden wurden dabei nicht verschont. Salmen hat es mir erzählt. „Ja, weißt du, Dr. Mendel, der Bruder von der Dr. Ella Böhm, war ja mit dem Ministerpräsidenen Ion Gheorghe Maurer eng befreundet, und so wurde der Mendel in Bukarest stellvertretender Direktor einer Bank und war dann in die "Ana-Pauker-Affaire" verwickelt, kam so ein volles Jahr in Einzelhaft; er fiel einen Tag nach der Entlassung in Schäßburg auf der Straße tot um. Und die Brüder Baruch wurden auf der Straße mit einem Plakat "Ausbeuter, Klassenfeind" von einer johlenden Menge herumgeführt; sie waren die ersten, die dann von Israel abgekauft wurden. Sie leben aber auch schon lange nicht mehr!" Es war auch ein trauriges Weihnachten, trauriges Ostern und Pfingstfest gewesen; der Schnee schien dünn, nicht fallen zu wollen, das Frühlingslicht und das Grün, das Licht anders als sonst, die Bäume kleiner, die Häuser, auch die Menschen schienen fahl, wie überlebt. Augenöffnung? War dies der Himmelssturz, von dem der große Adolf immer gesprochen hatte und der heldenhaft zu vermeiden sei, indem man andere ins Jenseits beförderte? Ich schätzte meinen Vater, weil er bekannte: „Wie ein Stein fiel es mir von der Seele, als der ganze Plunder weg war, der uns so belastet hatte, ein ganzes Leben, schon die Väter und Vorväter verbraucht hatte." Und er, er habe ja nie etwas besessen, er sei immer nur Angestellter gewesen. War´s denn für die Ewigkeit, das Bleibende? Von dem die Großväter immer sprachen, für das sie ihr Leben geopfert hatten? Auch im Kopf sollte die Welt stillstehen. Noch auf dem Totenbett, umgeben von zwanzig Enkeln: Grund, Haus, Hof. Und der Patriarch machte sein Testament. Ein Leben voller Macht über andere als das Höchste der Güter und Gefühle?   3 4 FAMILIENBIEFE UND TRAGÖDIEN. SCHULD DER UNSCHULDIGEN II   DS: Nun, dieser Komplex gehört mit zu den Lebens-Brüchen und dem verlorenen Nenner nach dem Krieg und den offenbar gewordenen Kriegsver¬brechen, der Suche nach einer neuen mög¬lichen Moral. Es schien, als wären wir, so schrieb auch ein rumänischer Kollege, Nichita Stane¬scu, "eine elternlose Generation" geworden, da die Väter nichts mehr weiterzugeben hatten; in dieses Vakuum stieß der Marxismus. Die "Aktions-gruppe Banat" ist ebenfalls so angetreten: Als Kritiker ihrer Herkunft. Zusätzlich aber versuchte sie das Regime links zu überholen, was natürlich dann zur Über¬wachung durch die Securitate, zu Verhören und zu Verhaftungen führ¬te. Bei mir, wie bei einigen älteren Kollegen war es ähnlich. Dazu kam ( anfangs unbewußt) die Scham wegen der braunen Ver¬brechen hinzu, bei denen meine Herkunftsgruppe aus un¬kriti¬scher Reichsverhimmlung und Naivität unschuldig-schuldig Opfer und Täter zugleich geworden war: bei einigen von uns war der Wunsch da: auf die andere Seite der Front zu kom¬men. Ak-zeptiert wurden wir deutschen Bürgers- und Bauernsöhne freilich von den alten Antifa-Aktivi¬sten nicht, sondern mißtrauisch beäugt. Doch bewußt oder unbewußt standen wir, nun eine Art "Waisenkinder des Klassenkampfes" zwischen Hammer und Amboß, zwischen Partei und Her¬kunfts¬gruppe. Ich konnte es nicht vergessen, wie eine jüdische Kommilitonin in Bukarest, die als Kind in Auschwitz gewesen war, bei einem Lager-Film, der ihre Erinnerungen berührte, neben mir im Kino in Ohnmacht fiel. Sie Fragen nach Erlebnissen und Erfahrungen aus meiner Kindheit und Jugend, die mich zur Distanzierung von der Lebensform und Denkform meiner Her¬kunftsgruppe geführt hatten. Sie sind zwiespältig diese Distanzie¬rungen. Eines teils bin ich tief geprägt vom Sächsi¬schen, ich war ja auch zwei Jahre lang über¬zeugter sächsischer Dorfschullehrer in Denndorf bei Schäßburg, und ich habe "leider" eine schöne Kindheit ge¬habt, auch wenn drakonische Er¬ziehungs-maßnahmen und "Pflicht¬kantigkeit" der Erzieher das Bild verdüstern, die Erinne¬rungen bleiben - und mein Schreiben wiederholt immer wieder das Muster dieses tiefen innern Bruches, ein Trauma, das ich nicht mehr los werde. Ich hab noch die alte Erziehung "genossen", ich kenne diese Schmallippigkeit und den "unbedingten Gehorsam", "keine Wider¬rede", diese Erziehung zur bedingungs¬losen Unter-ordnung, und ich kann sehr wohl damit meine späteren Schocks verbinden, etwa die Antworten des sie¬benbürgischen Auschwitzapo¬thekers Dr. Victor Capesius, der mir zu Hause als Kind Pfef¬ferminzbonbons verkauft hatte in seiner Schäßburger Apotheke "Zur Krone", den ich dann in den siebziger Jahren in Göppingen besucht habe, oder die eines SS-Onkels, der ebenfalls "dort" an der Endstation unserer Zivilisa¬tion Offizier war, die beide auf meine Frage, wie das alles denn möglich gewesen sei, sie "dort" mit¬gemacht hätten, obwohl ihr Ge-wissen ihnen schlaflose Nächte bescherte, die Erklärung dazu fanden: "Ich war eben für den absoluten Befehl, für die unbe-dingte Unterordnung! Wohn hätte ich auch gehen sollen? Dort waren ja MEINE Leute!" Und wäre ich einige Jahre älter ge-wesen, hätte ich mich möglicherweise jenem Zwang auch nicht entziehen können. In meinem Roman "Vaterlandstage" habe ich so mit dem Erwachsen¬enwissen meine eigenen, naturgemäß naiven und schönen Kindheitserinnerungen "korrigiert", korrigieren müssen, sie wohl auch schreibend beschädigt, indem ich beide Dinge zusammengebracht habe, zusam-menbringen mußte. Denn solch eine Seelenarbeit muß ein Autor, vor allem, wenn sie sonst in seinem Umkreis völlig ausbleibt, auch für andere lei¬sten, das ist ja sein Beruf, schreibend sich selbst, aber auch andere zu befreien versuchen. Am schönsten hat der Historiker Prof. Roland Möckel dieses für den eigenen Seelenfrieden nicht ungefährliche Muster in einer Besprechung des Bu¬ches analy¬siert. Ich erlaube mir hier daraus zu zitieren: "Die Er¬zählung wird gebrochen durch die See-lenarbeit der Hauptperson T., die in die ei¬gene Vergangenheit zurückkehrt, vergegenwärtigt, und anders und neu nacher¬lebt. Verschlüsselter, naiver Kode von einst und entschlüsselter, wissen¬der Kode heute liegen übereinander. Die Vergangenheit ist da, aber sich selbst fremd... Der Roman ist die Odyssee eines jungen Menschen ... in dessen scheinbar friedliche wassertrop-fenkleine Welt der Blitz einge¬schlagen und allen Schutz um die Seele des Kindes verbrannt hat. Mit dem grellen Licht, das auf die chaotische, schein¬friedliche Welt gefallen ist, bleibt der Junge allein. Die Darstellung dieser Verlas¬senheit ist subtil und sehr genau... Der Roman .... ist die beste und konsequente¬ste Durcharbei¬tung und Darstellung des Chaos, in das die Sieben-bürger Sachsen im 20. Jahrhundert schuldig-unschuldig hineingeraten sind, die ich kenne. Die Hauptperson ist kritisch und selbstkritisch bis an den Rand der Selbst¬zerstörung. Und muß es konsequenter Weise auch sein. Die Zeiten waren so." (Zugänge, 1/87). Sie können sich vorstel¬len, dass es mir unter diesen Umständen nicht mög¬lich war "Zuspruch" und "moralischen Schutz" gar bei eben jener schuldig ge¬wordenen Moral zu suchen, die in meinen Augen - leider ins Negative gehend, je¬nem jungen Menschen so zerstörerisch nahe stand, ähnlich wie die eige¬ne Fami¬lie, zerstörerischer und belastender als der äußere Moloch der roten Ideologie und ih¬rer Verbrechen, der ja aus der Fremde kam.... Die Untaten der eigenen Leute gehen mir näher, als die von Fremden. Wie soll ich als Autor, der seinem Gewissen und seinem Gedächtnis verpflichtet ist, auch seiner Biographie, dieses Trauma einfach "vergessen", und diese Wunde, die jetzt auch in Deutschland auf verheerende Weise wieder aufbricht, unterschlagen! Ich betrachte es aber als eine Chance und eine wichtige Initiative des "Brückenbaus" zu uns "kritischen Intellektuellen", dass es Ihre For¬schungsstelle für Literatur im "Südosteuro-päischen Kulturwerk" gibt. (Aus einem Interview mit Stefan Sienert, 1994)   DIE WELT, IN DIE ICH HINEINGEBOREN WURDE Man schrieb August 1934. Roland lag mit seiner Liebsten im Gras. Geburten in Siebenbürgen können recht kompliziert sein, sagte er zu ihr. Kinder mit Wasserkopf sind keine Seltenheit, Alfen. Aber dieses muss bekämpft werden, mit allen Mitteln und unbedingt. Wir haben den Kampf mit den Ungeborenen aufgenommen. Daher auch der Jubel vor einem Jahr. Verstehst du? Seither träumen die Frauen vom Führer. Wie dies Führertum da durchschlug bei den jungen Leuten. Auch bei Mutter. Und es sah ja auch alles so jung und sportlich, frisch¬ gewaschen, sauber gekämmt und gebügelt aus. Und man turnte viel... Frisch, fromm, fröhlich, frei/ ist die ganze Turnerei. Schlagt die Pauken und Drommeten Turner in die Bahn Turnersprache lasst uns reden Vivat Marlitt Vivat Vater Felix Dahn Heil! Umschlingt euch jetzt mit Herz und Hand Brüder aus Nord, Süd- und Überhauptdeutschland! Dass einst um eure Urne Eine gleiche Generation turne. Volksgesundheit also, um das Verschwinden zu bremsen, das dann eben genau durch den Versuch, es zu verhindern, eintraf, das große Heimatverschwinden auf die Art, wie wir es heute kennen. An jenem Tage also, als ich heraus und in diese Welt kommen sollte und partout nicht auf die Erde wollte, war der Stadttierarzt, mein Großvater, morgens dabei, über Land zu fahren. Und hier ganz links der Schlesak-Großvater, die „Ami", die Keulgroßmutter, die „Mitzmother", die Schlesakgroßmutter, eine Cousine Schlüter, die Schwester der Mitzmother, Gustitante Heidel, Schlütertochter, ihr Sohn, Vater, Keulgroßvater, unten Ali mit Gerda Heidl und „Bubi" Heidel. 1934 kurz vor meiner Geburt. Der Großvater war sehr besorgt, denn eine seiner Töchter war als Kind an Diphtherie gestorben. zu oft wurde von den Gefahren der Inzucht, den vielen Wasserköpfen in den Dörfern gesprochen und auch von den transsylvanischen Alfen, Geistern, die ihre missgestalteten Kinder blitzschnell und hast du mich gesehen, mit dem gesunden Säugling vertauschen und sich gleich aus dem Staub machen, aus dem wir ja sowieso gemacht sind. Onkel Georg war noch viel früher aufgestanden als der Großvater. Kurz vor sechs und bevor er ins Büro ging, dem er im Elektrizitätswerk vorstand, hatte er diesen Morgen eingeblasen. Er blies auf seinem Flügelhorn von oben aus den Wiesen den Trompeter von Säckingen: Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein. http://www.youtube.com/watch?v=oHT60-0LSgI Herrlicher Duft. Über den Buner Bergen noch sehr blaß die Venus und die Mondsichel. Bratenfett vom Vorabend war längst verduftet, auch der Rauch der Petroleumlampen. die weiten Röcke der Großmutter lagen auf dem Stuhl neben dem Bett. Staubgeruch auf der Landstraße, kühles Staubmehl, Pferdeäpfel. Die Geburt - eine gefährliche Sache. durch fehlerhafte Haltungen und Drehungen des Kindes entstehen schon im Mutterleib Vorderhauptslagen und hintere Hinterhauptslagen, Gesichts- und Stirnlagen. Wie eine Schraubenspindel dreht sich das Ungeborene im knöchernen Kanal ans Licht, macht es jedoch eine einzige falsche Bewegung, folgt die so gefährliche Zangenextraktion am Becken¬ende. An diesem Morgen war der Großvater früher aufgestanden, wie ein großer Engel im Nachtgewand im Hof erschienen. Er nimmt die Zeitung, klemmt sie unter den Arm und geht durch den Gang am Stifken vorbei zur Eingangstür, aufrecht, nicht schlurfend, aufrecht wie ein Soldat; frische Morgenluft, Tannenduft schlägt ihm entgegen, er schnuppert und murmelt: Hiesch äs der Dach hegt. Uch fräsch de gead Laft! Und Vogelkonzert antwortet. Da geht der Mann mit der scharfen, leicht gebogenen Nase hinaus in den verkrauteten Hof, schreitet über die weißen Chlorodont-Spritzer, die die zähneputzenden Kinder auf dem gerippten und gewundenen Huflattich hinterlassen haben, geht im langen weißen Nachthemd, ein Erzengel in Pantoffeln, am Backofen und der "Wassertinne" vorbei zum Plumpsklo. Die fahrbare Wassertonne hat eine Deichsel für den Esel des Zigeuners: Ja, der Puscas muss wieder mal gerufen werden! Öffnet die Plumpsklotür, setzt sich, entfaltet das Blatt. Ein Blick in die Heimatspalte: "Das Landeskonsistorium beschließt über Volksgesundheit. Ausschüsse für Wohlfahrts- und Gesundheitspflege, weingeist- und tabakfreie Sonntage (Armen-, Kranken-, Waisen-, Krüppel-, Taubstummen- und Blindenpflege, Pflege der Schwachsinnigen und Geisteskranken, der Trinker, Geschlechtskranken und Schwindsüchtigen..." Diese Zeit. Schwere Zeit. Große Zeit, große Sorgen. Hoffentlich ist das Kind nicht erblich belastet. Er starrt ratlos auf die gelesenen Zeilen. Blut muss rein erhalten bleiben. Manche in unserer Familie sind nervattich. Vor allem unser Misch, der Schwager. Und Töff ist oft sehr ungeschickt und abwesend. Gottseidank sonst munter: Beim Coetus ist Töff Fuchsmajor, er herrscht die Männer an, hab ich gehört: Wer spricht da im Glied? "Es predigt in der Klosterkirche, Sonntag, den 12 August: Pfarrer Georg Ließ, nächsten Sonntag, den 19. August: Pfarrer Georg Ließ... Erkältungskrankheiten, Nervenschmerzen, Grippe. Geistliche Abendmusik in der Klosterkirche, der Leipziger Thomanerchor kommt am Freitag, den 24. August..." Er hustet vor Erregung, er schneuzt sich. Chronischer Katarrh. Sein Blick fällt auf die Zeile: "Togal löst die Harnsäure, beseitigt die Krankheitsstoffe." Morgens im Bad Salzwasserlösung in die Nase, fast genauso gut, überlegt er, Naseneingänge frei halten. Er steigt dann etwas später unten an der Tornatz auf den Leiterwagen, freilich nicht wie ein großer Engel im weißen Nachthemd, sondern nach dem Frühstück, das er auf der blauen Veranda eingenommen und nachdem er sich in seinem Schlafzimmer reisefertig gemacht hatte, schritt er den Fahrweg hinab bis zur Tornatz, wo der Leiterwagen stand, der Herr Wagner und die Pferde warteten. Der Großvater auf dem Leiterwagen fährt eben am Letjew ganz nah am kleinen orthodoxen Kirchlein der Kornescht vorbei, auf walachisch heißt es Corneschti, denkt er, müssen leider jetzt auch diese Staatssprache lernen... Im Wirtshaus sitzt schon der Hartmann, denkt er, verkommenes Subjekt, stiehlt dem Herrgott den lieben langen Tag. Pale säuft er; wer? der Herrgott? Dummerjan, der Hartmann doch wohl, es werden immer mehr und mehr. Gut, dass ich meinen Armeerevolver behalten habe. Auch das Jagdgewehr für alle Fälle. Überfälle zunehmend, am schlimmsten die Aufrührer, Wahnsinn und Rebellentum. Staubmehlstraße, große Wolke hinter dem Wagen, Ferne. Wie in der Fibel; bittschön, bei uns ist noch alles in Ordnung. Pferde traben und furzen, Hüh, überwältigend. Und gestern Hindenburgs Begräbnis. Ordnung herrschte da wider Pöbel und die Revoluzzer. Das ferne Ostpreußen, Neudeck um Mitternacht. Nur die Familie, dann Personal, Gutsleute, viele treue Bauern und Knechte. Die Treuedietreue. Von Neudeck bis Tannenberg standen sie, Tausende Treue Spalier. Die Sargträger nicht, die gingen voran: Zwei Hauptleute, zwei Kapitänleutnants, wie es sich gehört am Rand versinkender Geschichte. http://www.google.de/search?q=K%C3%B6niggr%C3%A4tzer&hl=de&rls=com.microsoft:de:IE-SearchBox&rlz=1I7SMSN_de&prmd=ivns&source=univ&tbs=vid:1&tbo=u&ei=TrscTd6rN4mB4AbFjLiGAg&sa=X&oi=video_result_group&ct=title&resnum=1&ved=0CCUQqwQwAA Und bald kommt das Kind ins Gassenhaus. Heut oder morgen. Gezogener Degen, Reichskriegsflagge, Kränze ohne Zahl über dem Eingang, in eherner Ruhe Reichswehr, zwei Battalione Infanterie, zwei Schwadron Reiter. Felder ringsum flimmern schön. Süße Heimat, komm bald wieder. Und zwei Batterien Artillerie, drei Leibregimenter, Präsentiermarsch, die Lafette mit Sarg, sechs Rappen; Fahnensenkung, Fahnenhebung. Also oben, jaja, im Reich, da ist noch alles in Ordnung. Pöbel wird beherrscht, der Achtzehner, die Schuld annulliert. Aber was Merkwürdiges haben sie oben eingerichtet. Schon dieses Wort Konzentration... Konzert, nein auch in der "Dimineaţa" stand was von Gespenstern, die da rein müssten, Volksfeinden. 49 Im Januar schon hatte Helmut, der ja oben studiert, im Lokalteil "Aus der Heimat", Dachau-Innersdorf, gelesen, natürlich zuerst den Wetterbericht, den man überfliegt: Wetterbericht, ausgegeben am Samstag, den 13. Januar 1934, mittags noch vereinzelt Regen und Schneefälle, dann zeitweises Aufklaren, schmales Zwischenhoch, kein weiterer Temperaturanstieg. Dann aber war die Rede von jener merkwürdigen neuen Einrichtung. Da stand: "Der neueste Wachkommandant. Der Führer des 1. Sturmbanns der 56. SS-Standarte Norbert Scharf wurde zum Wachkommandanten des Konzentrationslagers berufen." Greuelnachrichten aber und Gehässigkeiten des perfiden Albion aus dem "Manchester Guardian", dass es in der neuen Einrichtung etwa 2700 Gefangene gäbe, dass einige mit feuchten Handtüchern und drahtumwickelten Ochsenziemern, die die Gefangenen sogar selbst verfertigen mussten... ja, dass einige von ihnen vermittels 25 - 75 schweren Schlägen zu Tode geprügelt worden seien, sind energisch dementiert worden. Diese Feinde! eine Welle der Besinnung geht doch durch die Welt, hat Hutmacher Lingner gesagt, auch geschrieben im "Boten". Schriftführer Freiwillige Feuerwehr. zu Ehren großes Ereignis: 10 Steigerübungen, 12 Spritzenübungen, 8 Sanitätsübungen, 9 Gesamtübungen und 9 Vorträge, wozu also noch Punkt und Komma, wenn es läuft wie geschmiert? Übertragungen ausm Reich Sportpalast und war das Herz geht dir auf Mund auch über Mund auf und Mund zu aber ohrenbetäubend Jubel nämlich Heil Deutschland und da kommt er schon. Also oben jaja da im Deutschen Reich ist alles in Ordnung. Pöbel beherrscht. Der Achtzehner, die Schuld annulliert. Als ich im Achtzehner dann abrüstete, nach Hause kam, da hatte sich auch in der Heimatstadt alles verändert: Bei der Neuen Brücke eine ungeheure Flut, das dahin schießende Wasser, das Trommeln der Wassermassen an die Fensterscheiben war zu hören, der alte Schopfen mit den Familienbriefen aus der Verlobungszeit, den Kriegsbriefen aus dem Feld: Galizien, den Briefen von Misch aus Amerika - weggerissen. Ich konnte gar nicht nach Hause. Und alle Gesichter wie zehn Tage Regenwetter, fahl, "verwapelt", die alten Unterscheidungen passten nicht mehr in diese völlig aufgeweichte Landschaft. Vielleicht werden wir plötzlich und ganz unheroisch eines Nachts in der Kokel zusammen mit angeschwemmten Hühnern, Kühen, Schweinen einfach ersaufen. Oder auf dem Klo morgens beim Zeitungslesen. Das Haus stürzt ein, es wird unweigerlich nach einer Zeit einstürzen. Wofür ist der arme Wilhelm gefallen. Soldatenehre. Fiel an der Spitze seiner Kompanie in Galizien in den ersten Tagen des Vierzehner, mit gezogenem Säbel erstürmte er als blutjunger Leutnant eine Anhöhe und brach im mörderischen Feuer eines Maschinengewehrs schon bei den ersten Schritten zusammen; die andern stürmten weiter. Und seine Mutter, die Griessi, soll genau in seiner Todesstunde einen Schrei gehört haben. Sie wusste: As Willi äs died. Äs gefallen. Pflichterfüllung, absolute Pflichterfüllung. Königrätzer Marsch mit Soldatenbilder und Schlachten: http://www.youtube.com/watch?v=b4PwSVW5Aak&feature=related Es gab damals keine Widerrede wie heute. Es wäre niemandem in den Sinn gekommen, zu fragen, ob es Unsinn ist oder. Nein, wenn das Vaterland in Gefahr ist, dann darf doch nicht gefragt werden, das wäre ja schon Verrat. Oder gar Gedanken - wie kann ich mich drücken. Wo solch eine Auffassung durchkommt, da ist das Kostbarste vertan. Dann ist die Idee des Vaterlandes tot... im kalten Licht des Verstandes wird alles zweckmäßig, verächtlich und fahl. Uns war es noch vergönnt, in den unsichtbaren Strahlen großer Gefühle zu leben. Dies Gefühl ist in uns noch lebendig. Und wenn nicht die Familie gewesen wäre, hätte ich mich gegen die Roten in Budapest gemeldet, die auf den Kopf geschlagen.

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