Lange habe ich überlegt, ob ich diesen Artikel schreiben und veröffentlichen will. Es fällt mir nicht leicht, weil er wahrscheinlich sehr emotional, persönlich, voller Trauer und Melancholie sein wird. Normalerweise sollte man ja auch nicht alles im Detail und dermaßen intim öffentlich schreiben. Ein guter Freund, den ich deswegen um Rat gefragt habe und dessen Meinung ich sehr schätze, sagte zu mir wortwörtlich: Scheiss drauf, so ist das Leben und du machst das Beste aus seinen Fußstapfen! Genauso ist es. Deshalb ist das also ein Stück Bewältigung meines momentanen Gemütszustands. Ich war immer ein Papa-Kind. Und Papa war mein Held.
Der Verlust eines Elternteils wird niemals einfach sein. Und mein Papa ist immerhin 92 Jahre alt geworden. Was für ein stolzes Alter! Trotzdem ich somit ein Spätgeborener bin, war es nie ein Problem für mich, das mein Papa zu meiner Kindes- und Jugendzeit schon wesentlich älter war, als die Väter bei anderen Kindern. Niemals war das ein Thema oder gar peinlich für mich. Nie! Mein Papa war der Beste! Das sollte jeder eigentlich von seinem eigenen Papa sagen können. Und von seiner Mutter auch!
Er tat alles für mich und meine Schwester. Stets hat er alles liegen lassen, wenn ich mal wieder irgendwas als Lausbub ausgeheckt habe und hat alles mögliche mit uns unternommen. Als Kinder sind wir im Urlaub immer auf ein und denselben Bauernhof in Verden/ Aller gefahren. Wir wollten als Kinder nie woanders im Urlaub hin. Hier waren wir im Landleben voll integriert. Ich habe gelernt mit der Hand die Kühe zu melken, ich durfte dort den Trecker schon ganz früh selber auf dem Feld fahren und bei der Ernte helfen, konnte mit auf die Jagd gehen und haben gelernt, die Spuren der Tiere im Wald zu lesen. Ich lernte dort die Natur zu lieben. Und dazu all die viele Action auf dem Hof, die dort immer herrschte! Dort war es für uns immer wie auf einem riesengroßen Abenteuerspielplatz.
Und während wir Kinder unbeschwert durch die Wälder hüpften, über die Felder streiften und im Kuhstall mithalfen, fuhr mein Papa gefühlt immerzu dort im Landstrich mit dem Fahrrad herum. Morgens gab es jeden Tag frische Brötchen vom Bäcker in Kirchlinteln. Er hat uns oft erzählt, wie viele Pedalumdrehungen er mit seinem Fahrrad vom einem Leitpfosten am Straßenrand zum anderen machen musste und in welchem Gang. Von den sechs, die sein Fahrrad schon besaß. Er hat das mal gezählt. Strava und Co gab es damals noch nicht. Nur klobige Radcomputer der ersten Generation.
Auch sonst fuhr er dort oben auf dem Bauernhof in Verden, auch mit meiner Mama, so ziemlich jeden Weg ab, den es zu finden gab. Ich fand es schon spannend, wenn er erzählte, durch welche Ortschaften er gefahren war und von manchmal dreißig oder vierzig zurückgelegten Kilometern sprach. Für mich damals unvorstellbare Distanzen und als Kind beeindruckend. Ich fuhr höchsten mit meinem kleinen gelben Pucky-Rad ein paar Runden auf dem Hof. Mama blieb auch schon mal da, wenn es ihr wieder zu viel wurde mit dem Radfahren.
Auf dem ersten PC, den wir damals voller Stolz besaßen, weil so ein Gerät ja noch nicht ganz so weit verbreitet war, tippte Papa aber über ein paar Jahre penibel seine monatliche und jährliche Kilometerleistung ein und druckte sie manchmal auf dem Drucker auf dem Papier mit dem Lochstreifen aus. Stolz zeigte er mir dann das Ergebnis seiner eingegebenen Daten. Irgendwann stand dann da die magische Zahl von 42000, das habe ich noch im Gedächtnis. Er hatte kilometermässig die Welt umrundet. Für mich damals total irre. Der alte Rechner steht noch irgendwo und ich muss unbedingt versuchen, mal diese Daten zu rekonstruieren bzw. überhaupt zu finden.
Für ihn war Radfahren kein Sport
Papa fuhr nie ambitioniert mit dem Fahrrad. Für ihn war es kein Sport, sondern ein Ausgleich. Zeitnahme in irgendeiner Art und Weise war nicht seins. Ihn interessierte der Radsport wohl nur, als Jan Ulrich so erfolgreich war und jeder noch dachte, das wäre sauberer Sport gewesen. Ich habe ihn danach nie bewusst Radsport im Fernsehen gucken sehen. Er fuhr lieber einfach so mit dem Rad. Und wenn es nur der Weg zum Discounter war um dort mal auf den Wühltischen zu gucken, was es da so gab. Meistens brachte er immer irgendwelchen Krim Krams mit. Kleinigkeiten. Oder holte beim Bauern bei uns unten an der Straße ein paar Kartoffeln. Vorbildlich ließ er schon damals das Auto oft für Kurzstrecken stehen und sammelte auf dem Fahrrad viele Kilometer.
1989 war es dann so weit. Mein Papa wollte sich ein neues Fahrrad gönnen und auch ich sollte ein neues bekommen. Ich war zu groß geworden für das Kinder-Rennrad, welches ich zur Kommunion bekommen hatte. Damals gab es in Oberhausen einen Fahrrad-Laden mit gutem Ruf, tollen Rädern und viel Schraubergedöns. Den Namen weiß ich nicht mehr. Dort wurden wir fündig. Mein Papa hat sich nie viel gegönnt, doch diesmal sollte es nichts anderes werden als das ADFC-Rad des Jahres 1989!
Das HERCULES CITY SPORT TS (siehe Titelfoto) kauften wir dann tatsächlich zweimal. Ursprünglich mit Frontgepäckträger! Ich wollte das unbedingt auch haben. Ich weiß noch, das das damals eher uncool für einen Heranwachsenden war. Aber wenn mein Papa das fuhr, musste ich das auch fahren. Mein Gedankengang. Ich meine mich zu erinnern, das der Preis pro Rad runde 1100 Mark (!) betrug. Viel Geld damals. Ich war stolz wie Bolle nun ein richtig tolles Fahrrad zu besitzen. Das Rad hatte einen Dynamo, der konnte die gewonnene Energie in einem kleinen Kästchen am Sitzrohr speichern und nutzen, damit das Rücklicht im Stand weiter leuchtete. Hightech damals.
Quasi am nächsten Tag machten wir die erste gemeinsame Radtour. So eine richtige Papa-Sohn-Geschichte. Von Essen nach Alpen am Niederrhein. Ich wollte dort hin, um die Fabrik zu sehen, die dort Pflüge herstellte. Ich interessierte mich damals (und heute auch noch etwas) für landwirtschaftliche Maschinen. Das war ein gutes, allerdings auch weites Ziel. Ich weiß nicht mehr, ob Papa den Weg schon kannte, aber wir kamen prima dorthin. Sogar mit der Fähre mussten wir in Orsay übersetzen. Ich habe meinen Papa gefühlt nie Fahrradkarten studieren sehen. Er kannte trotzdem so viele Wege. Überall. Nur von ihm kenne ich dadurch enorm viele versteckte Pfade und Gegenden. Irgendwie unbewusst habe ich das damals aufgesaugt. Wenn ich heute mal irgendwo vorbeikomme und ich etwas wiedererkenne, dann ist es oft so, dass das wegen meines Papas ist.
Nach unserer Tour zum Niederrhein und zurück hatte ich nach rund hundert Kilometern so die Schnauze voll. Trotzdem hatte ich meinem Papa bewiesen, was für ein harter Hund ich in meinen jungen Jahren war. Trotzdem werde ich nie vergessen, wie mir mein Hinterteil schmerzte. Damals hatte ich keine gepolsterte Radhose. Das war mir fremd. Papa aber auch nicht. Ihm ging es aber gut. Nur ich guckte das Fahrrad längere Zeit nicht mehr an.
Papa hat nie viel aus seiner Zeit im Krieg erzählt
Er hat nie viel aus seiner Zeit im Krieg erzählt. Das Thema war zwar nicht tabu, aber auch nicht richtig erwünscht. Er war während des Krieges bei der Post und hat Briefe noch mit der Kutsche ausgeteilt, während die Bomben links und rechts einschlugen und die Pferde dann durchgingen. Er sollte damals zur Kinderlandverschickung. Mit dem Zug fuhren die ganzen Kinder in Richtung Bergisches Land, wo der Zug dann plötzlich mitten auf der Strecke anhielt. Nach einiger Zeit stieg mein Vater aus, weil nichts passierte und er sich die Beine vertreten wollte. Dann kamen die Bomber und nahmen den Zug unter Feuerbeschuss. Unvorstellbar. Er schlug sich zu Fuß wieder nach Hause durch und überlebte das Inferno. Eins der ganz wenigen Erlebnisse, von denen er mal aus dieser Zeit erzählte.
Da im Krieg oft Mangel an Lebensmitteln herrschte, musste Papa oft mit einem klapprigen Fahrrad nach Kirchhellen oder noch weiter fahren, um etwas Milch oder Wurst bei einem Bauern zu ergattern. Auf dem Nachhauseweg ist er daher auch schon mal auf dem Rad überfallen worden. Schließlich hatte er ja begehrte Ware. Wie das Leben damals sein musste, kann man sich heute nicht mehr vorstellen.
Ich kann mich noch erinnern, als Papa in Pension ging. Mit seinem besten Kumpel, der auch bei der Post gearbeitet hatte, fuhr er fortan jeden Mittwoch eine Tour. Der Tag war gesetzt. Damals, wie erwähnt, gab es außer Radkarten nicht viel, wozu man navigieren konnte. Er und sein Kumpel Hannes fuhren gerne ins westliche Münsterland und parkten mit dem Auto und dem neumodischen Radanhänger - ja, den hatte Papa sich mal gekauft - gerne irgendwo an einer Kirche. Sie fuhren dann einfach drauflos. Zur Orientierung diente die Kirchturmspitze, die man über die Felder hinweg oftmals noch von weitem sehen konnte.
Es kam aber auch wohl vor, das die beiden das Auto zunächst nicht wiederfanden, weil es an der Stelle, wo sie geparkt hatten, keinen Kirchturm gab. Oder es vielleicht der falsche Kirchturm in einem Ort am Niederrhein war. So kamen die beiden manchmal erst spät wieder nach Hause. Doch das war egal. Sie hatten ja Zeit. Und anscheinend viel Spaß. Verhungern taten sie jedenfalls auch nicht, denn in ihren Fahrradkörbchen wurde irgendwo bei einer Landmetzgerei unterwegs die Fleischwurst und die Brötchen eingekauft, transportiert und auf einer Bank irgendwo im nirgendwo am Waldesrand verputzt. Passend dazu hatten sie ihre kleinen Sitzkissen dabei und genossen das Leben. Papa hat es sich nie wirklich anmerken lassen, wie hart es für ihn war, als sein bester Kumpel eines Tages starb.
Da war ich bereits verheiratet und Papa hatte einen Enkel, mit dem er jetzt wieder Kind sein durfte. Natürlich wurde später selbstverständlich ein Fahrrad für den Jungen gesponsert. Das war quasi ja auch gar nicht anders möglich. Wie Großeltern nun mal so sind.
Mein Sohn war bereits fünf Jahre alt, als ich mit dem aktiven Fußball nach rund 25 Jahren aufhörte, das Fahrrad fahren wiederentdeckte und zumindest ein klein wenig in seine Fußstapfen (oder besser Pedale) trat. Mit meinem damaligen City-Bike machte ich die ersten Touren. Eine davon war mit meinem Papa. Über seine bekannten Schleichwege. Ohne Tempo. Einfach nur etwas Rad fahren. Ich glaube, das hat ihm auch Spaß gemacht. Wir machten nicht mehr viele Touren zusammen. Eher ganz selten. Im Rückblick hätte ich so gerne noch mit ihm die ein oder andere Radtour gemacht, um ihm auch mal meine Wege zu zeigen. Ich wünschte, ich könnte die Zeit ein klein wenig zurückdrehen.
Irgendwann war es dann so weit. Es war ein schleichender Prozess. Absehbar. Radfahren ging einfach nicht mehr. Und seine Altersdemenz schritt voran. Wenn ich Mittagsschicht hatte, ging ich fast jeden Tag rüber zu meinen Eltern, um zu sehen, wie es ihnen ging um danach mit dem Rad zur Arbeit zu fahren. Und fast jeden Tag kamen die selben Fragen. „Hast du heute schon eine Tour gemacht?" oder „Bei dem Wetter ist aber heute gut zu fahren, oder?" Jeden Tag. In klaren Momenten seufzte er manchmal und sagte mir, wie gerne er noch einmal mit dem Fahrrad fahren würde. Ich musste jedes Mal schlucken.
Ein Lächeln in Papas Gesicht
Doch ich machte seinen kleinen Traum wahr. In Essen gibt es das Projekt „Radeln im Alter", welches Senioren in Rikschas ein klein wenig durch die Gegend fährt, um ihnen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Eigentlich ist das nur für Seniorenresidenzen gedacht. Über einen Kontakt machte ich aber diese eine Fahrt über den Radschnellweg RS1 von Mülheim/Ruhr bis Essen Stadtmitte möglich. Bis direkt vor seiner alten Arbeitsstelle, der Hauptpost in Essen, wo er zuletzt gearbeitet hatte. Ich wollte ihm wenigstens einmal einen Teil meines Arbeitsweges zeigen, von dem ich so viel erzählt hatte und ihn zudem noch in alten Zeiten bei der Post schwelgen lassen. Ich meine, ein Lächeln auch in seinem Gesicht gesehen zu haben.
Ich hatte bekanntlich irgendwann mit dem Bloggen angefangen. Papa hatte bis spät noch ein eigenes Ipad, auf dem er meine Berichte am Anfang noch lesen und an meinem Leben teilnehmen konnte. Ich musste ihm zwar manchmal mit der Technik helfen, aber ansonsten ging das eine Zeit lang ganz gut. Er bekam mit, wie das bei mir langsam zur richtigen Leidenschaft wurde. Er war oft überrascht, was ich alles so machte und unternahm. Doch die Zeit schritt voran und sein Kopf machte immer weniger mit. Lesen wurde immer schwieriger, er fing an, vieles durcheinander zu schmeissen oder zu vergessen. In lichten Momenten war ihm das ganz bewusst und er sagte an den Kopf tippend: „da oben ist so viel weg!" Ich merkte, wie schwer es ihm fiel, sich das selber einzugestehen und wie traurig er dann war.
Vor kurzem kam dann der Tag, den man am liebsten nie erleben möchte. Papa schlief friedlich zu Hause ein. Sein Körper hatte einfach keine Kraft mehr, sein Wille zu leben war erloschen. Die letzten beiden Jahre waren hart gewesen. Er war auf Hilfe und Pflege angewiesen und die Kurve zeigte steil nach unten. Auch wenn man denkt, man ist auf diesen Tag vorbereitet, weil er doch absehbar ist, fällt man in ein tiefes Loch.
Ich bin dankbar, so einen Papa gehabt zu haben. Er hat mich all die vielen Werte im Leben gelehrt und war immer ein Vorbild für mich. Ich vermisse ihn sehr. Um das alles zu verarbeiten, bin ich in letzter Zeit sehr viel Fahrrad gefahren und auf seinen oder besser gesagt unseren Spuren gewandelt. Ich war an vielen Orten, wo wir gemeinsam etwas erlebt oder wir Ausflüge hin gemacht haben. Das war teils sehr traurig, aber die schönen Erinnerungen daran trockneten die Tränen etwas. Auch wenn es abgedroschen klingt: Radfahren ist wie Medizin für mich und tut mir gut.
Papa war mein Held. Ich hoffe, er war auch ein klein wenig stolz auf mich.