Positiv formuliert könnte ich sagen, ich sei in der Lage, mich stets neu zu erfinden. Wie ich das meine, werde ich Ihnen gleich erklären. Zuerst brauchen Sie aber noch eine Schlüsselinformation. Ich habe ein grosses Bedürfnis nach Stille und wohne in einer schallmässig miserabel isolierten Wohnung. Das macht das Zusammenleben mit mir aufregend und einzigartig.
Nun, neu erfunden habe ich mich insofern, als ich seit einiger Zeit täglich früh morgens um sechs aufstehe, die „Fünf Tibeter“ turne und eine halbe Stunde lang still sitze. Ich meditiere also und ich erwarte, dass die Welt während dieser Zeit still steht. Das tut sie natürlich nicht. Im Gegensatz zu mir ist nämlich die Natur, zumindest der Teil unmittelbar vor meinem Zimmerfenster, noch wild und ungezähmt. Das musste ich unlängst feststellen, als ein Elsternpaar ausgerechnet während meiner Meditation lauthals und ausdauernd um die Wette schackerte. (Der Warn- und Alarmruf der Elstern wird als „Schackern“ bezeichnet.) Da sass ich also und dachte darüber nach, ob sich die Vögel womöglich vor Tilky fürchteten, der Katze meiner Frau.
Langsam aber sicher begann ich mich zu ärgern: „Verdammt, die blöden Viecher sollen endlich den Schnabel halten, das Geschrei nervt total!“ In der Folge verspürte ich Lust, das Problem mit dem Luftgewehr zu lösen. Worauf sich postwendend meine Existenzangst meldete. Vor meinem inneren Auge sah ich schon die Schlagzeile in der Presse: „Paarberater schiesst auf Elstern!“ In meiner Aufruhr vernahm ich noch eine letzte, etwas zynisch-boshafte Stimme in mir: „Dabei tötet die Katze deiner Frau doch auch hie und da ein Vögelchen.“ Leicht resigniert und ernüchtert räumte ich mir schliesslich ein: „Das ist Wildlife, mein Junge. Im Gegensatz zu Tilky bist du bereits vollständig domestiziert.“
Ich erwarte nicht (mehr), dass das stete Geplapper meiner inneren Stimmen jemals zur Ruhe kommt, ob beim Meditieren oder sonst wo. Was ich viel mehr täglich übe, ist, mich mit dem, was gerade in mir und um mich herum ist, für einen Moment mitfühlend zu verbinden. Wenn mich zum Beispiel etwas stört an mir oder an meiner Frau, geht es mit anderen Worten darum, zuerst mit mir Kontakt aufzunehmen, zu atmen und mich von der Situation berühren zu lassen. Auf dieser Grundlage kann ich gelassener handeln und mich wirksamer um die Erfüllung meiner Bedürfnisse kümmern. Das klingt einfach und bleibt doch eine lebenslange Lernaufgabe.
Als ich mich an diese Zusammenhänge erinnerte, waren die Elstern zwar immer noch aufgeregt, aber ich konnte sie mit jedem Atemzug mehr und mehr loslassen. „Ja, das Gekreische nervt und ärgert dich und du sehnst dich nach Stille. Beides darf im Moment sein, auch deine Aggressionen.“ Mit dieser fürsorglichen inneren Stimme konnte ich mich entspannen und die Meditation friedlich beenden.
Dergestalt milde gestimmt traf ich in der Küche auf meine Frau. Nach der Begrüssung bat ich sie – gestärkt durch die Begegnung mit den Elstern –, mit dem Ausräumen des Geschirrspülers in Zukunft bis zum Ende meiner Meditation zu warten. „Einverstanden“, antwortete sie schlicht. Mit einem Augenzwinkern meinte sie dann noch: „Du bist in der Lage, dich immer wieder neu zu erfinden? Dann schlage ich vor, dass du in Zukunft öfter das Geschirr aus der Maschine räumst. Okay?“