Ostertanztage 2014 in Hannover - Nachlese, 1. Teil: "Ein deutsches Requiem"
Nun sind sie für dieses Jahr wieder vorbei: die Ostertanztage. Zuletzt gab es "Dornröschen" von Jörg Mannes (Ostersonntag) und den Ballett-Kindertag (Ostermontag).
Als Nachlese möchte ich noch von zwei Aufführungen berichten, die ich besucht habe, beides Gastspiele: "Ein deutsches Requiem" und drei Stücke der Danza Contemporánea de Cuba. Vielleicht als Anregung für 2015?
"Ein deutsches Requiem" nach der Musik von Johannes Brahms, ein Gastspiel der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg, Choreografie Martin Schläpfer: eine ganz außerordentlich beeindruckende Aufführung, in der Musik und Tanz in großer Vollkommenheit zusammenstimmten.
Es beginnt mit dem Solo einer Tänzerin: "Wie aus einer anderen Welt dringt eine dunkel-glühende Stimme an unser Ohr, in ihrer brennenden Zuversicht voller Hoffnung und doch eingetrübt mit Dissonanzen, als wären es Stiche mitten hinein ins Herz: 'Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden ...'", so wird der Anfang in Worten beschrieben (Anne do Paço im Programmheft). Das kennzeichnet sofort, worum es beiden ging: Brahms und Schläpfer - den Zusammenhang mit einer anderen Welt, mit einem spirituellen oder geistigen Raum. "Zwischen Himmel und Erde - offensichtlich ist das Zwischen das Reich der Bewegung. Bewegung verbindet, was einander gegenüber ist hier und da ... Bewegung hat ihren eigenen Zeitmodus, und mit ihr entsteht eine eigene Art von Ort - beides im Übergang, das heißt: im Wandel" (Rudolf zur Lippe im Programmheft). Über alle Grenzen von Religionen, Konfessionen und Nationen hinweg wollte Johannes Brahms sich mit seiner Komposition erheben. In jener Zeit brach sich in allen Lebensbereichen eine immer stärkere Individualisierung Bahn, auch im Religiösen ging die Entwicklung immer mehr in Richtung einer bewussten Individualisierung des religiösen Erlebens - "sakral" und "spirituell" fielen immer weniger zusammen.
Zusammenhang zum Spirituellen einerseits, Verbindung zur Erde andererseits, die Bewegung als Brücke zwischen Himmel und Erde - wie kann das im Tanz ausgedrückt werden? Martin Schläpfer lässt alle 40 Tänzerinnen und Tänzer barfuß auftreten, ein kleiner, aber genialer Kunstgriff. Archaische Erdverbindung einerseits, Verletzlichkeit andererseits. Nur eine Ausnahme gibt es: Zum 5. Satz beim Spitzentanzsolo hat die Tänzerin Marlúcia do Amaral einen Ballettschuh an, der andere Fuß bleibt nackt. Sie hinkt danach und symbolisiert den Zusammenhang (den wertungsfreien Einbezug) aller Leidenden und die Entwicklung der Gegenkräfte: "Ihr habt nun Traurigkeit; / aber ich will euch wiedersehen, / und euer Herz soll sich freuen, / und eure Freude soll niemand von euch nehmen", singen Sopran und Chor, "langsam" lautet Brahms' Satzanweisung.
Immer wieder bricht Freude durch in Schläpfers Inszenierung, das ist mir von Anfang an aufgefallen: hohe Sprünge von einigen wenigen Tänzerinnen und Tänzern brechen aus dem Chorganzen schon im ersten Satz immer wieder hervor - "die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten" heißt es im gesungenen Text. Schwere und Leichtigkeit ist ein weiterer Gegensatz, den Schläpfer immer wieder einsetzt: Eine ganze Gruppe fällt in sich zusammen, kauert auf dem Boden, hat Mühe, sich aufzurichten. Eine Tänzerin wird von der Gruppe in die Höhe gehoben, fallengelassen, wieder aufgehoben. Sprünge und heftige Armbewegungen scheinen die Schwerkraft aufzuheben.
Ein Schattenspiel im Hintergrund beim ersten Satz "Selig sind, die da Leid tragen ..." Zuammenhalt an den Händen. Der "langsame, marschmäßige" zweite Satz "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras" beginnt mit einem eindrucksvollen Solo eines Tänzers. Gelegentlich sind mir hier Kontrapunkte aufgefallen: ganz ruhige Bewegungen, teilweise liegend, von wenigen Tänzerinnen oder Tänzern gerade während mächtiger Chorgesänge. Große Gruppen im 3. Satz zu "Herr, lehre doch mich ..." Besonders in diesem Abschnitt kommt das Für-einander-Einstehen der Menschengemeinschaft zum Ausdruck. Ein besonderer Höhepunkt ist im 4. Satz ("Wie lieblich sind deine Wohnungen") das Duo von Yuko Kato und Andriy Boyetskyy. Vom Spitzentanz im 5. Satz war bereits die Rede. Das Solo Marlúcia do Amarals wird in ein Duo mit Alexandre Simoes übergeführt. Vom 6. Satz - "Denn wir haben hier keine bleibende Statt" habe ich mir "ruhiges Sitzen auf dem Boden" notiert. Für den feierlichen Abschluss im 7. Satz - "Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben", Brahms' Satzanweisung: Feierlich - hat sich Schläpfer etwas Besonderes einfallen lassen; von der Decke hängen Seile herab, die von einigen ergriffen werden, aber zum Hochklettern nicht ausreichen. Bei aller Schwere kein dunkles, hoffnungsloses Ballett, das Martin Schläpfer hier geschaffen hat.
Großartig! Wer es in Düsseldorf oder Duisburg ansehen kann, wo es wieder aufgenommen wurde, sollte die Gelegenheit ergreifen. Informationen: http://www.duisburg.de/theater/repertoire/1314/Ballett/b09EinDeutschesRequiem.php
Text: Dr. Helge Mücke, Hannover, unter gelegentlicher Verwendung des Programmheftes; honorarfreie Pressefotos standen mir leider nicht zur Verfügung.