Pedro Almodóvar, als bekanntester spanischer Filmemacher inzwischen mit fast unendlich vielen Auszeichnungen versehen, geniesst längst weltweiten Kult-Status. Der Oscar-Preisträger äussert sich in seinem Blog zu den Vorfällen des 25. September, über die wir ausführlich und live berichtet hatten. Almodóvar fordert Ministerpräsident Rajoy insbesondere auf, sich nicht zum Eigentümer der “schweigenden Mehrheit” Spaniens aufzuschwingen und klagt die Regierung unverblümt an. Sein Wort hat Gewicht, nicht nur in Spanien. Hier sein Text, übersetzt von Uhupardo.
Manchmal, wenn man mitten im Prozess ist, eine neue Fiktion zu erschaffen, beschleicht einen das Gefühl, dass das Wichtige draussen passiert; viel mächtiger als die Geschichte, die man gerade sorgfältig vorbereitet. Es stimmt, dass der moderne Mensch seine tägliche Dosis Fiktion braucht, ohne die er nicht leben kann. Doch es ist auch richtig, dass oft die Rufe der Wirklichkeit, die durch unsere TV-Bilder und Computer-Bildschirme schallen, so mächtig sind, dass sie dich atemlos machen und beweisen, dass ein Film im Vergleich bedeutungslos ist.
So ging es mir, als ich am Dienstag an meinem Film arbeitete und ein gewaltiger Tsunami über die Plaza Neptuno fegte wegen des Rechts, nicht einverstanden zu sein mit den Politikern, die behaupten, uns zu repräsentieren. Die Schreie dieser Flut, manchmal eingeschlossen, geknüppelt und weggeschleift von den 1.300 Polizisten, haben alle Titelblätter der Welt gefüllt, aber nicht das Trommelfell von Mariano Rajoy erreicht, der sich in New York aufhielt. In seinem Vortrag in der American Society hat Rajoy erneut die Wirklichkeit nach seinem Belieben verbogen und sich vonNew York aus bedankt bei der “schweigenden Mehrheit der Spanier, die nicht demonstrieren”.
Señor Rajoy, ich bin Teil dieser schweigenden Mehrheit, die am 25-S nicht demonstriert hat, und fordere Sie auf, die Dinge nicht zu verdrehen und sich noch weniger zum Eigentümer meines Schweigens aufzuschwingen. Dass ich physisch nicht auf der Plaza Neptuno war, bedeutet nicht, dass ich die Polizei-Knüppelaktion nicht verurteile, die überzogene Reaktion der Delegada del Gobierno, die Manipulation durch das Staatsfernsehen, die Überheblichkeit der Polizisten, die sich weigerten sich zu identifizieren in der Metro-Station von Atocha und Reisende bedrohten (weit weg vom Parlament), während einige Fotografen bei der Arbeit behindert wurden. Es hat nicht geklappt, die Madrider ab den Morgenstunden durch ein massives Polizei-Aufgebot gegen die Demonstranten einzunehmen (fehlgeschlagen; wir Madrileños leiden leise oder schreiend, aber wir glauben nicht denjenigen Personen, die uns regieren im Bürgermeisteramt oder Länderebene und bedauerlicherweise oder einfach durch geschlossene Listen an die Macht gekommen sind).
Die Bilder und alles, was mit ihnen zu tun hat, sind manipulierbar. Die Wörter, die Gesten, die Absichten, alles hängt vom Erzähler ab. Jede Realität kann etwas bedeuten oder das Gegenteil davon, je nach der Interessenlage des Erzählers. Die Sprecher der Regierung, selbst der Regierungschef, alle können über die Vorfälle auf der Plaza Neptuno sagen, was ihnen beliebt, tun sie auch täglich; doch glücklicherweise ist es heutzutage unmöglich, der einzige Erzähler zu sein, egal wie viele Gummiknüppel die Polizei auf alle diejenigen auszuteilen bereit ist, die eine Kamera tragen.
Wir leben in einer Welt, die dominiert wird durch die neuen Technologien (in diesem Fall glücklicherweise). Neben den vielen professionellen Kameramännern (unglaublich, sie inmitten des Erdbebens arbeiten zu sehen wie Kriegsberichterstatter – bewundernswert das Zeugnis, das sie hinterlassen haben, wegen des moralischen und auch künstlerischen Wertes) haben auch die meisten Demonstranten neben ihren zutreffenden Rufen und Slogans (“Sie stehlen, sie prügeln, aber sie repräsentieren uns nicht”) eine Kamera oder einfach ein Mobiltelefon dabei, deren Bilder zwar nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen erscheinen, aber dafür in anderen digitalen Medien oder in YouTube.
In diesen Bildern kann man in allen Einzelheiten den Gumiknüppel eines vermummten Polizisten sehen, absolut real (alle sind vermummt, ausser einigen infiltrierten Polizisten, die es auch gab und für die Beweise existieren) und das unmaskierte Gesicht seines Opfers, blass, mit einer Wunde am Kopf – eine so reale Wunde, dass reichlich Blut über die Wangen des Opfers fliesst und sich auf das Hemd ergiesst. Rotes Blut, dokumentiert, erzählt von jedem beliebigen Teilnehmer der “Veranstaltung”.
Ich habe nur ein einziges Foto eingefügt, doch in den nicht-staatlichen Medien gibt es so viele mehr davon. So viele wie Erzähler, die der offiziellen Version widersprechen und diesmal wenigstens ein gehöriges Echo in der internationalen Presse gefunden haben. Es mögen weitere Grausamkeiten wie die dieser Woche stattfinden, aber unsere rohe Wirklichkeit (“roh” im fotografischen Sinne, also das erste Bild der Realität, das noch bearbeitet wurde), die so komplex ist und doch so einfach, wird viele Erzähler haben und viele Sichtweisen. Die Verantwortlichen für Recht und Ordnung werden enorme Schwierigkeiten bekommen, sie alle zum Schweigen zu bringen. Gummigeschosse und Demonstranten über den Boden schleifen wird nicht reichen.
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