Es ist Samstagmorgen. Dieser ist bei uns traditionell für Aufräumen und Putzen reserviert. Da die Freundin und ich beide berufstätig sind, schaffen wir es nämlich werktags lediglich eine mit viel Wohlwollen als oberflächlich zu beschreibende Ordnung aufrechtzuerhalten. Mit Fortschreiten der Woche gelingt uns selbst dies kaum noch. Spätestens am Freitag haben Schuhe, Ranzen, Sporttaschen und Rucksäcke Besitz vom Flur ergriffen. Und die Kleiderhaken an der Wand haben wir anscheinend auch nur, damit die Kinder wissen, an welcher Stelle sie ihre Jacken auf den Boden schmeißen müssen.
Professionelle Reinigungshilfe
Gleichermaßen häufen sich auf den zweckentfremdeten Arbeitsflächen in der Küche zunehmend Rechnungen, Werbebriefe, Prospekte und zu unterschreibende Klassenarbeiten oder andere Informationen aus der Schule und Sportvereinen. Dazu gesellen sich viele weitere Gegenstände wie Schraubenzieher, Kartenspiele, Spielzeugfiguren oder Geschenkpapier, die eigentlich nichts in der Küche verloren haben, aber eine Mischung aus Trägheit, Ignoranz und Phlegma hindert uns daran, sie an ihre vorgesehenen Plätze zurückzuräumen.
Auch der Wohnzimmertisch, an dem ich sitze, wenn ich gelegentlich zuhause arbeite, ist gegen Ende der Woche mit Notizblöcken, Schmierzetteln, Stiften, Büroklammern, Ausdrucken und Ordnern übersät. Unterdessen wachsen im Badezimmer die Wäscheberge auf bedrohliche Höhen an. Eines Tages kippt wohl einer dieser Textilhaufen um, blockiert die Tür und wir werden für immer von den sanitären Anlagen abgeschnitten sein.
Dieses unschöne Szenario gilt es aus hygienischen, visuellen und olfaktorischen Gründen zu vermeiden. Mein stark ausgeprägter sparsamer Umgang mit unseren finanziellen Ressourcen – von kritischen Beobachtern auch als Geiz bezeichnet – verhindert jedoch die Beschäftigung einer professionellen Reinigungskraft. Somit steht der Samstagvormittag bei uns für gewöhnlich ganz im Zeichen des Großputzes. Ziel ist es, die Wohnung in einen sozial akzeptierten reinlichen Zustand zu versetzen, damit wir spontan vorbeikommendem Besuch nicht erklären müssen, bei uns sei eingebrochen worden und aus kriminaltechnischen Gründen der Spurensicherung sei es uns nicht erlaubt, das entstandene Chaos zu beseitigen.
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Die Hausarbeit ist bei uns, wie in modernen Gesellschaften üblich, durch arbeitsteilige Spezialisierung und funktionale Differenzierung gekennzeichnet. Dies bringt Effizienzgewinne und außerdem können die Freundin und ich jeweils die Aufgaben übernehmen, die uns am meisten liegen. Beziehungsweise die wir am wenigsten verabscheuen.
So obliegt mir beispielsweise das Staubsaugen. Eine Haushaltstätigkeit, die tendenziell Männern übernehmen, erlaubt sie doch die Verwendung eines technischen Geräts, das Lärm macht und das man hinter sich herzieht. Letzteres suggeriert Führungsstärke, so dass sich Männer einreden können, es handelt sich beim Staubsaugen gar nicht um Hausarbeit, sondern um eine Tätigkeit des gehobenen Managements – allerdings bedauerlicherweise ohne die Möglichkeit des Wegdelegierens.
Die Freundin, die eine ausgeprägte Abneigung gegen das Saugen hegt, übernimmt dagegen das Feudeln der Wohnung. Dies kommt mir sehr entgegen, da mir das ständige Auswringen des feuchten, verkeimten Wischlappens höchst zuwider ist.
Das Ein- und Ausräumen der Geschirrspülmaschine liegt wiederum in meinem Verantwortungsbereich. Meine auf praktischer Erfahrung und Routine basierende Spülmaschinen-Expertise bin ich stets bereit, mit der Freundin zu teilen. Allerdings nimmt sie meine wertvollen Ratschläge und hilfreichen Tipps, wie man optimale, Raum sparende Ergebnisse beim Einräumen der Maschine erzielt, mit inakzeptabel wenig Enthusiasmus und Begeisterung auf. Mein Fortbildungsseminar „Wie falte ich Kartons, damit sie möglichst wenig Platz in der Papiertonne einnehmen“ stößt bei ihr übrigens auch nur auf sehr geringes Interesse.
Das Geheimnis einer funktionierenden Partnerschaft? Die Spülmaschine heimlich umräumen!
— Familienbetrieb (@Betriebsfamilie) 15. Februar 2015
Die Freundin ist indessen für das Waschen, Aufhängen und Zusammenlegen der Wäsche zuständig. Früher habe ich ihr dabei bereitwillig meine Hilfe angeboten, was aber auf wenig Dankbarkeit der Freundin stieß. Dazu müssen Sie wissen, dass die Freundin ein hoch komplexes System der farblichen Anordnung der Wäscheklammern auf der Leine entwickelt hat. Auch nach mehr als 18 erfüllten Jahren unserer stets harmonischen Partnerschaft habe ich dieses System nicht durchschaut. Demzufolge befestige ich die Klammern stets in falscher farblichen Reihenfolge, so dass sich die Freundin gezwungen sieht, die Wäscheklammern neu zu sortieren.
Es ist eine dieser kleinen Marotten, die man am Anfang einer Beziehung niedlich findet und in späteren Jahren nicht thematisiert, um den häuslichen Frieden zu wahren und zu vermeiden, dass die Kinder mit nur einem Elternteil aufwachsen müssen. Womöglich aus diesem Grunde hat mich die Freundin schon länger nicht mehr darauf angesprochen, dass ich … Ja, was eigentlich?
Eigentlich wollte ich an dieser Stelle eine kleine liebenswerte Schrulle meinerseits anführen, habe aber nach längerem überlegen festgestellt, keine zu haben. Und glauben Sie der Freundin nicht, sollte sie das Gegenteil behaupten. Immerhin handelt es sich um eine Person, die ihre Wäscheklammern nach Farben sortiert. So jemanden verfügt als Zeugin der Anklage nur über begrenzte Glaubwürdigkeit.
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Aber zurück in die deprimierende Großputz-Gegenwart. Ziehe missmutig mit dem Staubsauger im Schlepptau von Zimmer zu Zimmer, wo ich meine Arbeit mit einer Mischung aus Gründlichkeit und Schnelligkeit verrichte (das Mischungsverhältnis liegt bei ungefähr 20 zu 80). Meine Stimmung ist ungefähr so gut wie bei Oliver Kahn, wenn er ein Tor verschuldet hat. Nur, dass ich keinen Gegenspieler habe, dem ich in den Hals beißen könnte.
Die Freundin putzt derweil im Badezimmer unter Abspielen sehr lauter Musik die Becken. Ab und an dringen Satzfetzen wie „Zahnpastatube zudrehen“, „Mund fusselig reden“ und „wie eine Alleinerziehende mit drei Kindern“ durch die geschlossene Tür. Es scheint ratsam, ihre Gesellschaft zu meiden.
Damit die Eltern nicht alleine schlechte Laune haben, suche ich die Kinder auf, um sie anzuhalten, ihre Zimmer aufzuräumen. Gehe als erstes zum Sohn. Der lümmelt unter seinem Hochbett herum und spielt mit glasigen Augen und roten Wangen FIFA15 auf seinem Nintendo. Der Verwüstungsgrad seines Zimmers lässt darauf schließen, dass hier kürzlich die Tolkienschen Schlacht um Helms Klamm stattgefunden hat. Als der Sohn heute beim Frühstück verkündete, er wäre gerne Messie, dachte ich noch, er wolle dem argentinischen Fußballstar nacheifern. Angesichts des Zustands seines Zimmers habe ich seine Äußerung möglicherweise falsch interpretiert und er brachte lediglich seine fast schon pathologische Vorliebe für Unordnung und Chaos zum Ausdruck.
Betrete das Zimmer und rutsche auf einigen strategisch direkt hinter der Türschwelle platzierten Glasmurmeln aus. Verhindere in letzter Sekunde slapstickhaft einen spektakulären Sturz, bei dem ich mir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Genick gebrochen hätte. Knurre den Sohn an, ob er mit dieser letalen Stolperfalle beabsichtige, frühzeitig an sein Erbe zu gelangen. Der Sohn sieht sich nicht imstande, mir eine Antwort zu geben, da er so vertieft in sein Spiel ist.
Ordne väterlich-streng an, der Nintendo sei unverzüglich auszuschalten, sonst könne er sich auf unbestimmte Zeit von dem Gerät verabschieden. Außerdem sähe sein Zimmer aus wie ein Schweinestall und er solle es gefälligst aufräumen. Bei dieser in seinen Augen unzumutbaren und an Kindesmisshandlung grenzenden Aufforderung verfinstert sich der Blick des Sohns und eine Zornesfalte von der Tiefe des San-Andreas-Grabens bildet sich auf seiner Stirn.
Gleichzeitig signalisieren seine nach vorne sackenden Schultern, dass sämtlicher Lebensmut aus ihm gewichen ist. So muss Sisyphos ausgesehen haben, als ihm eröffnet wurde, er müsse Zeit seines Lebens immer wieder und wieder den vermaledeiten Felsbrocken den Berg hinaufwälzen. Ein ganz passender Vergleich, ist das Aufräumen eines Kinderzimmers doch von vergleichbarer Erfolglosigkeit gekennzeichnet. Beim Sohn liegt die Halbwertszeit seines aufgeräumten Zimmers beispielsweise allenfalls bei wenigen Stunden, wenn nicht gar Minuten.
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Möchte als gerechter Vater den Unmut unter den Kindern fair verteilen und begebe mich ins Zimmer der Tochter, um sie an ihre Hausarbeitspflichten zu erinnern. Sie fläzt sich gerade auf ihrem Sitzsack und schaut auf ihrem Handy YouTube-Videos.
Ihr Zimmer erweckt den Eindruck, als habe hier ein lokal isolierter Tornado gewütet. Bücher liegen kreuz und quer in den Regalen, Schulhefte sind unter die Heizung gerutscht, ihre Violine liegt suizidal darauf wartend, dass jemand auf sie tritt, auf dem Boden, schmutzige Klamotten sind im ganzen Raum verstreut und auf der Fensterbank vegetiert eine halb mumifizierte Banane traurig vor sich hin. Bin versucht, den Zustand des Zimmers unserer Erstgeborenen mit der sprichwörtlichen Unordnung unter dem Hempelschen Sofa zu vergleichen, aber damit täte ich den guten Hempels doch arg unrecht.
Fordere die Tochter in strengem Tonfall, der bei der Pipi-Langstrumpf-Erzieherin Fräulein Prysselius sicherlich auf Wohlgefallen träfe, auf, ihr Zimmer in Ordnung zu bringen. Die Tochter lamentiert, sie müsse die ganze Woche über zur Schule gehen, Hausaufgaben machen, für Klassenarbeiten lernen, Geige üben und noch so viel mehr tun, da wäre es ja wohl nicht zu viel verlangt, am Wochenende ein wenig zu chillen. Ihre Schilderungen erwecken den Eindruck, wir ließen sie von Montag bis Freitag schwerste Kinderarbeit im Untertagebau verrichten.
Lasse mich aber auf keine Diskussionen ein, sondern erkläre ihr, in einem ordentlichen Zimmer könne man doch viel besser chillen. Mit Augen rollendem Blick bedeutet mir die Tochter, dass sie mich für einen kleinbürgerlichen Spießer mit tradierten Ordnungs- und Reinlichkeitsvorstellungen hält. Verstärke diesen Eindruck, indem ich ihr auftrage, sie solle gefälligst auch ihren Schreibtisch aufräumen. Dieser sei so unordentlich, dass es überhaupt nicht möglich sei, an ihm zu arbeiten. Die Tochter entgegnet patzig, anstatt sie ständig zu drangsalieren, solle ich lieber unseren eigenen Schreibtisch aufräumen. Der sähe viel schlimmer aus.
Nehme ihre Antwort mit ambivalenten Gefühlen auf. Einerseits spricht ihre Äußerung für eine überdurchschnittliche scharfsinnige Auffassungsgabe und es erfüllt mich mit Stolz, dass die Tochter aus dem vorteilhaften elterlichen Genpool aus den Vollen geschöpft hat und dadurch zu solch messerscharfen Beobachtungen in der Lage ist. Denn objektiv betrachtet, haben wir in den letzten Wochen unsere Ablage tatsächlich etwas vernachlässigt, so dass der Schreibtisch vom Idealzustand eines ordentlichen Arbeitsplatzes, der ohnehin nur in realitätsfernen Paralleluniversen existiert, geringfügig abweicht.
Andererseits zeugt die Entgegnung der Tochter von mangelndem Respekt gegenüber der väterlichen Autorität und wirft die Frage auf, ob wir unsere eher liberale Erziehung nicht überdenken sollten. Unglücklicherweise verhindert unsere atheistische Einstellung darüber hinaus, dass ich die Tochter mahnend an das vierte Gebot erinnern kann, nach dem sie ihre Eltern, also die Freundin und mich, zu ehren hat, und kann ihr bei Missachtung dieser göttlichen Verfügung noch nicht einmal mit Unannehmlichkeiten im Fegefeuer drohen.
Erkläre der Tochter stattdessen, ihr Schreibtisch und unser Schreibtisch seien nicht vergleichbar. Ignoriere ihre aufmüpfige Nachfrage, warum dies bitteschön so sei, und um sie zusätzlich zum Aufräumen zu motivieren, kassiere ich ihr Handy ein. Gehe danach in unser Schlafzimmer, wo ich mir einen Überblick über die Schreibtischsituation verschaffe.
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Es ist noch viel schlimmer als befürchtet – und es sei Ihnen versichert, meine Befürchtungen waren bereits groß. Auf dem Tisch türmen sich Berge von Rechnungen, Papieren, unerledigter Korrespondenz, amtlichen Mitteilungen und Kontoauszügen. Daneben stapeln sich Hefter, Ordner und Schmierpapier, zwischen denen sich alte Batterien, neue Batterien, funktionsuntüchtiges Elektrogerät, verschiedene Tüten mit Puzzleteilen – bitte fragen Sie nicht, warum – und einige leere Schuhkartons – auch hier bitte ich, von neugierigen Nachfragen abzusehen. Ganz oben auf der papiernen und unrätigen Schreibtischskulptur balancieren einige alte Kinderzeichnungen, deren Erstellungsdatum darauf hindeutet, dass die letzte Ablage nicht einige Woche, sondern Monate zurückliegt – ungefähr 42 Monate, um genau zu sein.
Am effektivsten ließe sich der Tisch wohl mit einem leistungsstarken Flammenwerfer aufräumen. Könnte alternativ das ganze Zeug in den diversen Wertstofftonnen im Hinterhof entsorgen, so dass es wenigstens dem Recycling-Kreislauf und damit einer neuen Bestimmung zugeführt wird.
Schlurfe aber zunächst erstmal unmotiviert in die Küche – denn der Volksmund liegt nicht vollkommen falsch, wenn er davon spricht, dass gut Ding Weile haben will –, um einen Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen. Dabei fällt mein Blick auf das ‚Zitat des Tages‘, das die letzte Seite schmückt. Ein äußerst kluger Spruch Albert Einsteins: „Genies beherrschen das Chaos, nur Dumme halten Ordnung.“
Wo der gute Albert Recht hat, hat er Recht. Und wer bin ich, dass ich es wagte, einem Physik-Nobelpreisträger zu widersprechen. Eile sofort im Laufschritt durch die Wohnung und herrsche Freundin, Tochter und Sohn an, sie sollen unverzüglich ihre Aufräum- und Putztätigkeiten einstellen.
Erkläre der verdutzten Freundin, wir dürften unter keinen Umständen durch eine ordentliche Wohnung den Eindruck erwecken, wir und vor allem unser Nachwuchs seien kognitiv einfach strukturiert und intellektuell minderbegabt. Sie schaut mich kurz fragend an, denn die starke Verkürzung meiner von Einstein inspirierten Kausalkette scheint etwas schwer nachvollziehbar zu sein. Aber eigentlich ist ihr das auch egal, denn sie lässt sich nicht zweimal auffordern, das Putzen zu unterlassen.
Schlage vor, dass wir stattdessen ein Eis essen gehen. Dies trifft auf allgemein große Zustimmung der anderen Familienmitglieder und erhöht meine heute doch stark in Mitleidenschaft gezogenen Popularitätswerte bei Tochter und Sohn. Es gibt jedoch ein kleines Problem. Ich habe meinen Geldbeutel verlegt. Er befindet sich irgendwo in der Wohnung, aber ich kann ihn nicht finden. Möglicherweise bin ich im Einsteinschen Sinne doch nicht so ein großes Genie, dass ich unser Durcheinander beherrsche. Oder Einstein war einfach ein schlampiger Chaot, der kein Bock auf Aufräumen hatte.