Ökonomisierte Generation

Mißfelder sieht sich bestätigt. Nachdem Gesundheitsminister Bahr seinem Namen rhetorisch alle Ehre machte, Menschen mit Knie- und Hüftleiden auf die Bahre legen will, statt ihnen mittels operativen Eingriffs Mobilität zurückzugeben, läuft nun der JU-Direktor in der Rolle des einst vertriebenen Propheten auf. Er habe es doch gesagt. Schon vor zehn Jahren. Auf Kosten der Solidargemeinschaft, meinte er damals, sollte man künftighin keine künstlichen Hüftgelenke bei alten Menschen mehr einpassen. Das sei nicht unmenschlich, sondern nicht weniger als schlichte ökonomische Vernunft und Notwendigkeit.
Beide, Bahr wie Mißfelder, entstammen meiner Generation. Beide sind Kinder der mittleren oder späten Siebzigerjahre. Fürwahr ist diese Generation nicht durchweg misanthrop aufgestellt. Jetzt gerät sie aber immer mehr in Verantwortung, die Mittdreißiger bekommen Posten und Pöstchen und es zeigt sich, dass bahrsche oder mißfeldersche Charakterzüge gar nicht so selten sind. Erschreckend ist dabei weniger die Unmenschlichkeit - für schlimmer halte ich es, dass diese Unmenschlichkeit mit einer Art von Vernunft vorgetragen wird, dass man ihr schon fast zustimmt, wenn man nicht aufpasst und nochmals durchdenkt.

Mag sein, dass meine Generation seit Anbeginn neoliberal geschliffen wurde. Ich habe das als Kind freilich nicht gemerkt. Aber rückblickend: dieser Schliff fand statt. Man lehrte uns etwas von der Alterspyramide als Optimum einer Gesellschaft, als Notwendigkeit für die umlagenfinanzierte Rente. Dass diese Erscheinung mit einem breiten Segment bei den Kindern, sich verjüngend bei den Jugendlichen, bis hin zu einem schmalen Segment bei den Senioren, die typische Staffelung in Entwicklungsländern mit hoher Kinder- und Jugendsterblichkeit, in der die Lebenserwartung generell niedrig liegt, ist, erfuhr ich erst später. Gleiches geschah, als man uns in der Schule das Jahrhundertprojekt Main-Donau-Kanal, damals noch aufgebauscht unter dem Namen Rhein-Main-Donau-Kanal, vorstellte und als Innovation verkaufte. Später erst wurde mir sichtbar, dass da jemand gezielt verdummte, um das Milliardengrab als Chance für die Zukunft darzustellen.
Meine Generation wurde ins Fahrwasser der neoliberalen Weltauffassung geworfen. Bei vielen hat es gefruchtet. Nicht alle sind wie Bahr oder Mißfelder - aber doch nicht zu wenige. Und wie gesagt, besonders schlimm ist es, dass sich mancher Mittdreißiger, wenn er sich heute politisch oder gesellschaftlich äußert, es mit ökonomischer Verve tut, mit vernünftiger Miene und dem Eindruck, so menschlich bleiben zu wollen, wie es die Sachzwänge erlauben - mehr jedoch nicht, denn Menschlichkeit ohne ökonomische Grundlage ist Träumerei und Romantik.
Es ist eine durch und durch ökonomisierte Generation, die nun an die Pötte treibt. Eine, die sich biologistisch absichert, die erklärt bekam, dass das Abwägen, dass Kosten-Nutzen-Analysen aus der natürlichen Selektion stammen - die Evolution sei nämlich der Fortschritt gemessen an Nutzen und den dazugehörigen Investitionen. Was kostet und nicht nützt, wird abgestoßen. Blanker Unsinn, der nicht verifizierbar ist und der nicht erklärt, warum es in der Natur Dinge gibt, die keinen Nutzen haben und die dennoch von der Evolution nicht ausgemerzt wurden. Man denke nur mal an die männliche Brustwarze, die doch keine Funktion hat und dennoch existent ist. Blanker Unsinn, der die Denke meiner Generation moralisch unantastbar machen soll.
Die Denke hinter Bahr und Mißfelder, etwas was sie aber nie laut sagen würden, ist doch auch, dass wir in einem unnatürlichen Stadium leben. Der Mensch sei biologisch gar nicht für neunzig Erdenjahre gemacht - warum also künstlich, medizinisch aufwerten, was so unnormal ist? Precht schreibt in seinem Buch "Liebe: Ein unordentliches Gefühl", dass für die Biologisten, die evolutionären Psychologen, wie sie richtig heißen, die Steinzeit das wirkliche Zeitalter des Menschen sei. Sie siedeln jede menschliche Regung, jeden Affekt, den wir heute besitzen, in der Steinzeit an. Der Biologismus macht die Steinzeit zum Kriterium - und der Mensch ist qua Steinzeit nicht für ein langes Leben gemacht. Daher sollte er gar nicht so alt werden. Medizin ist demnach nicht natürlich, sie ist künstlich.
Dass die Medizin somit auch Teil der Kultur ist, die für den Menschen die Fortführung der Biologie mit anderen Mitteln ist, gerät dabei außer Sicht. Bahr und Mißfelder sind Propheten einer Lehre, die die Kultur einschränken will - Kultur nur für solche, die es wert sind, mit ihr geadelt zu werden.
Man sollte ja nicht meinen, diese Generation sei eine, die so viel schlechter, so viel böser sei, wie es andere vor ihr waren. Aber sie erinnert manchmal so fatal an jene Vernunftsgenerationen, die zwischen Blüte des Sozialdarwinismus und Aufkommen des Faschismus, die Gesellschaften prägten, dass man sich fürchten muß. Das waren damals Generationen, die nichts Böses im Schilde führten, sich in ihrer ökonomisch-biologistischen Vernunft suhlten und zu Wegbereitern einer neuen Zeit wurden. Sie geben sich auch heute wieder anständig und vielleicht meinen sie es mehr oder minder sogar anständig. Trotzdem säen sie Missgunst, innere Spaltung, Desintegration und entfachen, vereinfacht gesagt, einen Krieg der Starken gegen die Schwachen. Es ist eine einseitige, eine einfältige Weltsicht, die diesem Handeln und Sprechen zugrunde liegt.
Keiner von diesen beiden Typen spricht so, weil er die Welt verschlechtern will. Davon bin ich überzeugt. Der unbedingte Wille, diese Gesellschaft so zu gestalten, dass kulturelle und ökonomische, soziale und medizinische Teilhabe für alle gewährleistet ist, treibt sie freilich auch nicht an. Sie meinen es nicht gut - aber auch nicht schlecht. Sie weisen sich als Realisten aus. Bahr und Mißfelder sind prominente Prototypen für diese Generation, die um die ausgehenden Siebzigerjahre herum geboren wurde. Andere sitzen heute an weniger prestigeträchtigen Stellen und verbreiten ein ganz ähnliches Weltbild. Klischee ist dabei der Angestellte der Bundesagentur für Arbeit, der Arbeitsvermittler, etwas veraltet gesprochen. Schlecht meint es der vermutlich auch nicht - aber mitfühlen kann er nicht, denn das ökonomisch eingepflanzte, biologisch abgesicherte Weltbild ist dafür nicht konzipiert.
Eine versaute Generation sind wir. Nicht alle. Aber tendenziell schon. Im Deutschland Kohls, in dem wir aufwuchsen, war nicht alles so schlecht aufgestellt, wie es heute durchaus der Fall ist. Der Sozialstaat brauchte eine rot-grüne Rosskur, um diskreditiert zu werden. Das haben Bahr und Missfelder als Anfang- und Mittzwanziger erlebt und sich vermutlich dann radikalisiert. Als Konservativer und Marktliberaler hatte man schließlich einen Ruf zu verlieren - und wenn schon die "Progressiven" so konservativ und marktliberal waren damals im Schröderianismus, dann musste man noch einen Gang zulegen. An der Radikalisierung der vulgärökonomischen Weltanschauung, die uns heute zusetzt, sind nicht die Konservativen und Marktliberalen schuld - die Schröderzeit ist es. Sie hat diese Generation, deren Kern bereits neoliberal angekokelt war, gänzlich versaut.
Im Fahrwasser der schröderianischen Reformitis, bei der es wenig Herz für die Hilfebedürftigen gab, konnte man mit Aussagen, wie eben jene berühmte des Mißfelder, glänzen und punkten. Das gehört seither zum guten Ton - statt Kritik gibt es dann Anerkennung und Lob für den Mut, bittere Wahrheiten auch zu sagen. Sarrazin und sein spinnerhafter Biologismus war vordem sicherlich auch denkbar - aber dieser Hang, den Diffamierungen von Randgruppen auch noch gönnerhaft zu gratulieren, der ist in der Radikalisierung des Sozialdarwinismus jener Jahre zu suchen.
Meine Generation besteht nicht aus Faschisten. Einige nur, die zählen nicht, weil die auch vom Verfassungsschutz sein könnten und auch kaum ins Gewicht fallen. Aber faschistoid ist sie allemal. Nicht mutig, nicht offen - ganz versteckt, sich mit Vernunft bedeckend, mit Sachzwängen herausredend. Nochmals sei erwähnt, nicht alle sind so. Aber die, die an die Öffentlichkeit drängen, die sind es wohl. Meine Generation kommt nun an die Schalthebel - und wird keine Lösungen entwerfen, sondern zum Teil des Problems werden.
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