oder: lose Gedanken zur atheistischen Überheblichkeit.
Über Atheisten ärgere ich mich häufig. Ich bin wahrscheinlich selbst einer - aber sie ergrimmen mich trotzdem. "Wahrscheinlich" schreibe ich, weil die Existenz oder Nicht-Existenz eines Gottes für mich zweitrangig ist. Gott gibt es nicht!, kann ich nicht behaupten; ich kann aber erklären, dass ich keinen brauche, keinen haben will, auch ohne einen Gott, ohne Religion, dafür mit Anleihen bei der Philosophie, meist ganz gut zurecht komme. Ich kann meine Gottlosigkeit nur auf mich begrenzen; ich will kein universelles Gebot herausfiltern, will Gott gibt es nicht! nicht als Parole über Felder und Flure rufen - nur weil es ihn für mich nicht gibt, heißt es ja nicht, dass es ihn für niemand geben soll. Agnostiker würde mich manche nennen - aber als solcher fühle ich mich nicht; ich bin ja nicht verunsichert, lasse mir auch nicht beide Optionen, Existenz oder Nicht-Existenz, offen; nein, es ist eindeutig: es gibt keinen Gott - für mich!
Und trotzdem sage ich mir paradoxerweise, dass es Gott gibt. Nicht den einen Gott vielleicht, jeder denkt sich gerade den Gott, den er leiden mag. Es gibt Gott! Nicht konkret, nicht stofflich sicherlich, sondern als Esprit, als Beseelung einer Person, als gute Absicht, in cerebralen Nervenfasern, als Gewissen letztlich - oft natürlich auch als böse, widerwärtige, als spießige Ausformung. Gott wie er ist, als innere Schau des Menschen, als Hilfskonstrukt für tugendhafteres Handeln, ist seiner menschlichen Herkunft gemäß eben auch das, was der Mensch zuweilen ist: ein ziemliches Miststück! Wenn jedoch Menschen ein Gott dabei behilflich ist, friedlicher und rücksichtsvoller und solidarischer mit ihren Mitmenschen, mit ihren Nächsten umzugehen, so freue ich mich, dass sie einen Gott besitzen. Ein transzendente Essenz sollte ja dazu dienen, all die Niedertracht, die Schikanen und Gehässigkeiten des alltäglichen irdischen Daseins zu kanalisieren, sie unter Kontrolle zu halten, zur Vernunft zu geleiten. Insofern ist der Versuch vieler neuzeitlicher Theologen, Glauben und Vernunft unter einen Hut bringen zu wollen - Kant tat es ja auch! -, gar kein Widerspruch. Auch wenn das, was man einen "vernünftigen Glauben" oder eine "glaubende Vernunft" taufen könnte, lediglich ein Optimum, ein Nonplusultra darstellt - denn der institutionalisierte und vorexerzierte, an feste Normen und Gebräuche geheftete Glaube an etwas Höheres, auch Religion oder Kirche genannt, verhinderte stets die Verquickung beider Pole.
Manchmal bin ich also auf Atheisten wütend. Sie frönen jener Ausschließlichkeit für ihr Es gibt keinen Gott!, die sie ansonsten bei den religiösen Zeloten verteufeln. Sie werden zu Missionaren ihres fast schon religiös betriebenen Nicht-Glaubens. Sie ergötzen sich an der Verbreitung ihrer Weltanschauung! Wo die einen jedermann ihren Gott überstülpen wollen, überschütten die anderen alle mit ihrem Nicht-Gott, ihrem Es gibt keinen Gott. Nicht dass ihnen das Glauben schwerfiele, die Rechtfertigung ihres atheistischen Weltbildes klingt oft banal, sie verurteilen in einstudierten Floskeln Kirche und Glaubenskriege und befürwortet einen freien Sonntagvormittag - man glaubt nicht, weil es bequemer ist, weil man keine Lust dazu hat, etwas tiefer in das natürliche menschliche Bedürfnis nach Glauben hineinzuschnuppern, in die Vereinbarkeit der conditio humana mit der Transzendenz. Nicht-glauben-wollen ist die bevorzugte Variante, Nicht-glauben können ist eher rar. Es ist ja so einfach ohne absolute, unantastbare, transzendente Moralvorstellungen zu leben - aus dieser Form des "Atheismus" entsprangen Großkotze und Narzisse. Man sagt das Zwanzigste Jahrhundert sei die Ära des Atheismus gewesen, Hitler und Stalin die Erscheinungsformen der Gottlosigkeit. Für mich ist das Unsinn, auch mit einem Gott wären sie gewesen, was sie waren; vielleicht hatten sie keinen Gott, aber einer Religion folgten sie und ihre Paladine dennoch. Sie hatten sich religiöses Brimborium erschaffen, ihre Weltanschauung war ihr Fels in der Brandung, man schuf sich Ideale und Werte, Katechismen und Gebote, die es erlaubten, ruhigen Gewissens Blut zu vergießen; für ihre profanen Götzen musste man töten. Wenn das Zwanzigste Jahrhundert überhaupt wirklich vollkommen unidealistische Gestalten erzeugt haben soll, dann nicht die Hitlers und Stalins, dann schon eher solche wie jene young urban professionals, kurz Yuppies genannt, die vollkommen entspiritualisiert waren, keinerlei Zuneigung zu universellen Idealen kannten, Moral für austauschbar hielten, für eine geistige Haltung, die je nach Kassenlage und Nutzen veränderbar sei. Dieser Menschenschlag, der in beinahe jeden Hollywoodfilm der Achtzigerjahre abgebildet wird, mal als Erfolgsmensch, mal als menschliche Hülle ohne liebenswerten Inhalt, sitzt heute in Vorständen und Aufsichtsräten, belagert Vorgesetztenposten und Vorarbeiterstellen, hat sogar bis in die Arbeiterschaft hineingestrahlt. Diese Geisteshaltung der Yuppies zeichnet sich durch absolute Diesseitsauschließlichkeit aus, leugnet Moral als nicht generalisierbare Spielerei einiger Romantiker, als hemmendes Kriterium für den menschlichen Fortschritt. Allzu viele atheistisch gesonnene Menschen kommen aus diesem Milieu; sie haderten nie mit Gott, nie mit der Religion, weil sie ihn oder sie für ungerecht erachteten - sie legten den Glauben nur ab (oder ihn sich nie zu), weil es weniger zeitaufwändig ist, weil die materielle Erlebniswelt keine Zeitvergeudung zulässt. Es sind Bequemlichkeitsatheisten, die den Gläubigen arrogant vor Augen halten, wie rückständig sie doch seien, weil sie immer noch an einem Märchen klammern, weil sie weiterhin einem Phantom nachbeten.
Und nun zurück zu Gott? Sicher nicht! Die Säkularisierung, die eine entspiritualisierte Gesellschaft zurückließ, hat natürlich unglaubliche Vorzüge - wir sind freier, wir leben gerechter dadurch; der Bigotterie und Frömmelei ist weitestgehend der Garaus gemacht, eine absolute, auf Gott zurückzuführende Wertetyrannis gibt es kaum noch - man kann heute Ideale hinterfragen - klammern wir mal das "Ideal Arbeit" aus! - und muß sich Sätze wie Das ist eben so! oder So war es immer! nicht stumm hinnehmen. Aber dort, wo moralische Imperative standen, steht heute nichts mehr: wir müssen betrübt feststellen, dass alle Aufklärung, dass die Philosophie nicht in dieses Vakuum hat hineinstoßen können. Die Wissenschaft richtet sich zuweilen dort ein und wälzt Ethik zu Biologismus, befördert einen unsagbar kalten Nihilismus, der Ethik bestenfalls als die Endsumme genetischer Wirkungsweisen wahrnimmt. Michel Houellebecq, sicher nicht verdächtig, besonders gottergeben zu sein, thematisiert das zuweilen in seinen Büchern: der Mensch des Mittelalters hatte Anhaltspunkte für ein "anständiges Leben", er bekam Kodizes mit der Muttermilch eingeflößt. Das geschah selbstverständlich nicht immer in edler Absicht, geschah durch Angst und kirchlichen Druck. Aber als die Kirche ihr gesellschaftliches Primat aufgeben musste, haben es profanere Schulen verpasst, in der leerstehenden ethischen Nische heimisch zu werden; kapitalistische Prozesse, die Menschen nach wertvoll und wertlos schieden, unterstützten die ethische Vakanz oder nutzten die moralischen Aspekte der Religion, um die Ausbeutung auch noch übersinnlich zu rechtfertigen. Houellebecq erkennt ganz richtig, dass die spirituelle Krise eine Krise der Moral ist.
Mir geht es nicht um Kirche, nicht um Religion, wenn ich hier den Glauben meiner Mitmenschen verteidigen möchte; es ist der Glaube einzelner Menschen an ein höheres Wesen, was mich zu ihren Verteidiger macht - undogmatischer Umgang mit einer Gottesgestalt, die geartet sein kann wie sie will: christlich, moslemisch, spinozistisch, das heißt: naturalistisch. Was moderne Atheisten aber beweisen: es braucht keinen Gott um intolerant zu sein - auch ohne ihn geht es radikal zu, pflegt man Unverständnis und Einseitigkeit; was letztlich unterstreicht: nicht der Glaube macht inhuman - blinde Dogmatik tut das; nicht der Gläubige an sich ist Eiferer - der Mensch an sich neigt dazu, wenn er seine Weltsicht überhöht und Andersdenkende, Andersglaubende praktischerweise über einen Kamm schert. Dieser unsägliche Radikalismus, alles spöttisch abzutun, was nach Gott riecht, Menschen auszulachen, weil sie als letzte Instanz immer noch einen großen Puppenspieler vermuten, er ist eine universelle Erscheinung allen Dogmatismus'.
Mein Gott, wenn ich Sorgen oder Ängste habe, spreche ich doch auch leise vor mich hin; Bitte laß es nicht wahr sein!, säusle ich schon mal - dann frage ich mich hernach oft, wem das gegolten habe. "Mein Gott!" schrieb ich vorhin absichtlich: auch diese Floskel rutscht mir zuweilen raus, auch wenn ich für mich gar keinen Gott habe. Wenn ich flehe und bitte, wenn ich mir denke oder flüstere, Laß dies oder jenes nicht geschehen!, bin ich dann ein Mensch, der immer noch einem Gott untertänig ist? Die Antwort, die ich mir dann gebe, scheint mir eindeutig: der Mensch hat das natürliche Bedürfnis nach Transzendenz, dass sich Menschen einen Gott bewahren ist keine schlechte oder antiquierte Gewohnheit, es ist menschlich und wahrscheinlich nie aus den Menschen zu tilgen. Helmuth Plessner eilt mir mit seinen drei anthropologischen Grundgesetzen zur Hilfe. Das erste Gesetz nennt sich "natürliche Künstlichkeit"; es besagt, dass der Mensch "den Umweg über künstliche Dinge" nehmen muß. Weil ihn die Natur nicht geborgen hält, lebt er von Natur aus künstlich, muß er von Natur aus eine Kultur gestalten. Die "vermittelte Unmittelbarkeit" ist das zweite Gesetz; es legt dar, dass der Mensch auf die Unmittelbarkeit des Vorgegebenen angewiesen ist, aber durch eigenes Erkennen und Gestalten vermittelt er das Vorgegebene an seine menschliche Welt. Das dritte und für die Thematik des religiösen Glaubens bedeutendste Gesetz ist der "utopische Standort"; es besagt, dass der Mensch durch dieses Abstandnehmen von dieser Unmittelbarkeit zur Welt, seiner Nichtigkeit erst bewusst wird. Daher hält er Ausschau nach einem festen Grund, nach einem absoluten Weltmotiv - nach Gott. Hierbei handelt es sich um den "apriorischen, mit der menschlichen Lebensform an sich gegebenen Kern, den Kern aller Religiosität", wie Plessner es formuliert.
Der moderne Atheismus weist die Einsicht von sich, dass Menschen von Natur aus transzendente Bedürfnisse haben. Er steht mit beiden Beinen auf dem Boden - was nicht falsch ist, was aber aus Mangel an ethischem Surrogat häufig in materieller Seelenheilprogrammatik verendet. Er nennt Gott eine Illusion - was er auch sein könnte; aber wenn Menschen sich einen Gott denken können, so gibt es ihn für diese Menschen auch. Führt das zu missionarischem Eifer, Separatismus oder gar Krieg: dann darf es keine Toleranz geben; gelingt es diesem Gott aber - und das geschieht häufig! -, Menschen zu Nächstenliebe und Anteilnahme zu ermutigen: dann kann ein Atheist doch kein Problem mit Menschen haben, die sich einen Gott erhalten haben.
Warum ich mir öffentlich Gedanken zum Atheismus mache? Weil er mich, wie erläutert, oft enttäuscht - nicht er, sondern diejenigen, die ihn vertreten. Das ist es ja gerade: sie vertreten ihn, als sei er etwas wie eine Bewegung, als sei er eine atheistische Kirche; sie werden zu Vertretern dieser privaten Sache. Und noch was treibt mich dazu: die öffentliche Debatte der letzten Wochen. An dieser hat man nämlich ermessen können, wie es um atheistische Sichtweisen bestellt ist. Was den Muslimen hierzulande wiederfahre sei zwar schon grob, aber Solidarität mit Menschen, die einen Gott haben, wollte man nicht so recht walten lassen. Unter atheistischen Argusaugen, die den stieren Blick missionarischer Zeloten aufweisen, gibt es keine Differenzierung. Alles was Menschen unter Gottesbürde tun, ist für die Mehrzahl der Atheisten unglaublich rückständiges Verhalten, plumpe Dummheit, unnatürliche Altmode, eine gestrige Marotte, die man ganz schnell liquidieren sollte. Die Toleranz, die man Gläubigen abspricht, kennt man selbst nicht. Da scheinen Berge an Weisheit mit Löffeln in sich geschaufelt worden zu sein.
Es ist ja nicht so, dass ich mich mit Gott gemein machen wollte; dass ich den Katholizismus zum Beispiel oder den Islam besonders attraktiv finde: das nie und nimmer! Aber mir gefällt es nicht, dass man Menschen mit Gottesbezug, ob sie rege am Gemeindeleben teilnehmen oder nicht, in die Ecke altmodischer Blödheit stellt. Führt deren Gottesbezug dazu, Schwule als Aussatz der Gesellschaft zu formen, dann schweige ich nicht ehrfürchtig; Wirtshaustheologie ist unerträglich. Da kann der Atheist freilich nicht ignorant sein, da muß er sich wehren. Aber er muß ignorant sein, wenn es um religiöse Praktiken geht, die man jedoch an seinem Mitmenschen respektieren muß. Ich schreibe absichtlich "ignorant", weil es für jemanden, der eher philosophisch denn theologisch geschult, eher profan statt sakral besaitet ist, schwer ist, offenen Auges religiösen Tand zu tolerieren. Erst neulich bestritt ich den Tag der offenen Moscheen; ich wollte ein solches Gebetshaus von innen bewundern, die Ornamente betrachten. Man bat die Besucher, sie mögen die Schuhe ausziehen, was ich natürlich tat. Aber die Erklärung, die verstimmte mich: wir tun das, meinte eine junge Muslima, weil unser Prophet das so tat. Das ist alles, fragte ich mich still. Nur weil der Prophet das tat? Diese Erklärung war mir zu dünn. Tun, weil einer mal etwas tat - dergleichen Argumentation befriedigt mich, erschließt sich mir nicht. Ich wunderte mich leise, mir stand kein kritisches Wort zu: man sollte Respekt haben, auch wenn es einen nicht zusagt - zumal wenn man Gast ist. Schnell trat ich dann den Heimweg an, noch bevor ein Rundgang und die Fragestunde folgte. Da war mir klar, dass Toleranz manchmal auch Ignoranz sein muß, weil man es anders vielleicht nicht ertragen kann. Jedem seinen Glauben, aber ich muß ja nicht dabei sein; schön, wenn Leute Erfüllung durch Religion erhalten, wenn sie zu besseren Menschen werden, wenn sie dort Trost und Kraft finden - aber ich muß ja nicht daneben stehen und eine Kerze halten. Da ist Ignoranz die bessere Toleranz!
Noch vor einigen Jahren hätte ich diese Besonnenheit arrogant belächelt; ich war sehr wohl der Ansicht, man müsse ein Botschafter des Nicht-Glaubens sein. Das Kruzifix beschmutzen, Mohammad karikieren: richtig so!, hätte ich gerufen. Nur für was? Ist es das wert? Dass ich meine Einsicht geändert habe, mag zu einem guten Teil auch Resignation sein: einen gläubigen Menschen bekehrt man nicht mit seiner leeren Lehre, in der kein Gott vorkommt - so eine Inhaltslosigkeit macht vielen Angst. Gelangen Gespräche in diese thematischen Gefilde, ziehe ich mich zurück; es erscheint mir unsinnig darüber zu debattieren. Das bisschen Dreifünftelbildung, das sich müde in mir regt, ist wohl der andere Teil meiner Einsicht. Der Mensch besitzt eine religiöse Natur, man kann sie nicht einfach abschalten, genetisch behandeln oder durch Sinngebungssurrogate auffüllen; man kann zwar in die wundersamen Tiefen des Konsums abtauchen und seinem Leben Sinn verordnen, der sich zwischen Rabatten und Schnäppchen erstreckt, aber irgendwann ist man auf sich zurückgeworfen und dann steht man vor seiner eigenen Nichtigkeit und landet im transzendenten Tummelbecken: was heute wahrscheinlich eher in der Esoterik als in der Kirche endet, weil erstere es besser versteht, Konsum und Transzendenz zu vereinen - dann bekommt die Sinnleere des Konsums ein spirituelles Kolorit und eine Weile fühlt man sich aufgehoben...
Ich will keinen Gott haben müssen; aber in einer vollkommen sinnentleerten und wertefreien Gesellschaft will ich auch nicht leben. Sollten Menschen einen Gott brauchen, um Sinn und Werte zu finden: nur zu! Glaubt! Machen wir uns doch nichts vor: ob eine Gesellschaft nun völlig religiös ist oder vollkommen frei von höheren Wesen, die Ethik verordnen - es ändert sich wenig. Hie Wertediktatur, dort Diktatur des Nihilismus. Ein Mittelweg wäre notwendig, mehr Gelassenheit auf allen Seiten...
Über Atheisten ärgere ich mich häufig. Ich bin wahrscheinlich selbst einer - aber sie ergrimmen mich trotzdem. "Wahrscheinlich" schreibe ich, weil die Existenz oder Nicht-Existenz eines Gottes für mich zweitrangig ist. Gott gibt es nicht!, kann ich nicht behaupten; ich kann aber erklären, dass ich keinen brauche, keinen haben will, auch ohne einen Gott, ohne Religion, dafür mit Anleihen bei der Philosophie, meist ganz gut zurecht komme. Ich kann meine Gottlosigkeit nur auf mich begrenzen; ich will kein universelles Gebot herausfiltern, will Gott gibt es nicht! nicht als Parole über Felder und Flure rufen - nur weil es ihn für mich nicht gibt, heißt es ja nicht, dass es ihn für niemand geben soll. Agnostiker würde mich manche nennen - aber als solcher fühle ich mich nicht; ich bin ja nicht verunsichert, lasse mir auch nicht beide Optionen, Existenz oder Nicht-Existenz, offen; nein, es ist eindeutig: es gibt keinen Gott - für mich!
Und trotzdem sage ich mir paradoxerweise, dass es Gott gibt. Nicht den einen Gott vielleicht, jeder denkt sich gerade den Gott, den er leiden mag. Es gibt Gott! Nicht konkret, nicht stofflich sicherlich, sondern als Esprit, als Beseelung einer Person, als gute Absicht, in cerebralen Nervenfasern, als Gewissen letztlich - oft natürlich auch als böse, widerwärtige, als spießige Ausformung. Gott wie er ist, als innere Schau des Menschen, als Hilfskonstrukt für tugendhafteres Handeln, ist seiner menschlichen Herkunft gemäß eben auch das, was der Mensch zuweilen ist: ein ziemliches Miststück! Wenn jedoch Menschen ein Gott dabei behilflich ist, friedlicher und rücksichtsvoller und solidarischer mit ihren Mitmenschen, mit ihren Nächsten umzugehen, so freue ich mich, dass sie einen Gott besitzen. Ein transzendente Essenz sollte ja dazu dienen, all die Niedertracht, die Schikanen und Gehässigkeiten des alltäglichen irdischen Daseins zu kanalisieren, sie unter Kontrolle zu halten, zur Vernunft zu geleiten. Insofern ist der Versuch vieler neuzeitlicher Theologen, Glauben und Vernunft unter einen Hut bringen zu wollen - Kant tat es ja auch! -, gar kein Widerspruch. Auch wenn das, was man einen "vernünftigen Glauben" oder eine "glaubende Vernunft" taufen könnte, lediglich ein Optimum, ein Nonplusultra darstellt - denn der institutionalisierte und vorexerzierte, an feste Normen und Gebräuche geheftete Glaube an etwas Höheres, auch Religion oder Kirche genannt, verhinderte stets die Verquickung beider Pole.
Manchmal bin ich also auf Atheisten wütend. Sie frönen jener Ausschließlichkeit für ihr Es gibt keinen Gott!, die sie ansonsten bei den religiösen Zeloten verteufeln. Sie werden zu Missionaren ihres fast schon religiös betriebenen Nicht-Glaubens. Sie ergötzen sich an der Verbreitung ihrer Weltanschauung! Wo die einen jedermann ihren Gott überstülpen wollen, überschütten die anderen alle mit ihrem Nicht-Gott, ihrem Es gibt keinen Gott. Nicht dass ihnen das Glauben schwerfiele, die Rechtfertigung ihres atheistischen Weltbildes klingt oft banal, sie verurteilen in einstudierten Floskeln Kirche und Glaubenskriege und befürwortet einen freien Sonntagvormittag - man glaubt nicht, weil es bequemer ist, weil man keine Lust dazu hat, etwas tiefer in das natürliche menschliche Bedürfnis nach Glauben hineinzuschnuppern, in die Vereinbarkeit der conditio humana mit der Transzendenz. Nicht-glauben-wollen ist die bevorzugte Variante, Nicht-glauben können ist eher rar. Es ist ja so einfach ohne absolute, unantastbare, transzendente Moralvorstellungen zu leben - aus dieser Form des "Atheismus" entsprangen Großkotze und Narzisse. Man sagt das Zwanzigste Jahrhundert sei die Ära des Atheismus gewesen, Hitler und Stalin die Erscheinungsformen der Gottlosigkeit. Für mich ist das Unsinn, auch mit einem Gott wären sie gewesen, was sie waren; vielleicht hatten sie keinen Gott, aber einer Religion folgten sie und ihre Paladine dennoch. Sie hatten sich religiöses Brimborium erschaffen, ihre Weltanschauung war ihr Fels in der Brandung, man schuf sich Ideale und Werte, Katechismen und Gebote, die es erlaubten, ruhigen Gewissens Blut zu vergießen; für ihre profanen Götzen musste man töten. Wenn das Zwanzigste Jahrhundert überhaupt wirklich vollkommen unidealistische Gestalten erzeugt haben soll, dann nicht die Hitlers und Stalins, dann schon eher solche wie jene young urban professionals, kurz Yuppies genannt, die vollkommen entspiritualisiert waren, keinerlei Zuneigung zu universellen Idealen kannten, Moral für austauschbar hielten, für eine geistige Haltung, die je nach Kassenlage und Nutzen veränderbar sei. Dieser Menschenschlag, der in beinahe jeden Hollywoodfilm der Achtzigerjahre abgebildet wird, mal als Erfolgsmensch, mal als menschliche Hülle ohne liebenswerten Inhalt, sitzt heute in Vorständen und Aufsichtsräten, belagert Vorgesetztenposten und Vorarbeiterstellen, hat sogar bis in die Arbeiterschaft hineingestrahlt. Diese Geisteshaltung der Yuppies zeichnet sich durch absolute Diesseitsauschließlichkeit aus, leugnet Moral als nicht generalisierbare Spielerei einiger Romantiker, als hemmendes Kriterium für den menschlichen Fortschritt. Allzu viele atheistisch gesonnene Menschen kommen aus diesem Milieu; sie haderten nie mit Gott, nie mit der Religion, weil sie ihn oder sie für ungerecht erachteten - sie legten den Glauben nur ab (oder ihn sich nie zu), weil es weniger zeitaufwändig ist, weil die materielle Erlebniswelt keine Zeitvergeudung zulässt. Es sind Bequemlichkeitsatheisten, die den Gläubigen arrogant vor Augen halten, wie rückständig sie doch seien, weil sie immer noch an einem Märchen klammern, weil sie weiterhin einem Phantom nachbeten.
Und nun zurück zu Gott? Sicher nicht! Die Säkularisierung, die eine entspiritualisierte Gesellschaft zurückließ, hat natürlich unglaubliche Vorzüge - wir sind freier, wir leben gerechter dadurch; der Bigotterie und Frömmelei ist weitestgehend der Garaus gemacht, eine absolute, auf Gott zurückzuführende Wertetyrannis gibt es kaum noch - man kann heute Ideale hinterfragen - klammern wir mal das "Ideal Arbeit" aus! - und muß sich Sätze wie Das ist eben so! oder So war es immer! nicht stumm hinnehmen. Aber dort, wo moralische Imperative standen, steht heute nichts mehr: wir müssen betrübt feststellen, dass alle Aufklärung, dass die Philosophie nicht in dieses Vakuum hat hineinstoßen können. Die Wissenschaft richtet sich zuweilen dort ein und wälzt Ethik zu Biologismus, befördert einen unsagbar kalten Nihilismus, der Ethik bestenfalls als die Endsumme genetischer Wirkungsweisen wahrnimmt. Michel Houellebecq, sicher nicht verdächtig, besonders gottergeben zu sein, thematisiert das zuweilen in seinen Büchern: der Mensch des Mittelalters hatte Anhaltspunkte für ein "anständiges Leben", er bekam Kodizes mit der Muttermilch eingeflößt. Das geschah selbstverständlich nicht immer in edler Absicht, geschah durch Angst und kirchlichen Druck. Aber als die Kirche ihr gesellschaftliches Primat aufgeben musste, haben es profanere Schulen verpasst, in der leerstehenden ethischen Nische heimisch zu werden; kapitalistische Prozesse, die Menschen nach wertvoll und wertlos schieden, unterstützten die ethische Vakanz oder nutzten die moralischen Aspekte der Religion, um die Ausbeutung auch noch übersinnlich zu rechtfertigen. Houellebecq erkennt ganz richtig, dass die spirituelle Krise eine Krise der Moral ist.
Mir geht es nicht um Kirche, nicht um Religion, wenn ich hier den Glauben meiner Mitmenschen verteidigen möchte; es ist der Glaube einzelner Menschen an ein höheres Wesen, was mich zu ihren Verteidiger macht - undogmatischer Umgang mit einer Gottesgestalt, die geartet sein kann wie sie will: christlich, moslemisch, spinozistisch, das heißt: naturalistisch. Was moderne Atheisten aber beweisen: es braucht keinen Gott um intolerant zu sein - auch ohne ihn geht es radikal zu, pflegt man Unverständnis und Einseitigkeit; was letztlich unterstreicht: nicht der Glaube macht inhuman - blinde Dogmatik tut das; nicht der Gläubige an sich ist Eiferer - der Mensch an sich neigt dazu, wenn er seine Weltsicht überhöht und Andersdenkende, Andersglaubende praktischerweise über einen Kamm schert. Dieser unsägliche Radikalismus, alles spöttisch abzutun, was nach Gott riecht, Menschen auszulachen, weil sie als letzte Instanz immer noch einen großen Puppenspieler vermuten, er ist eine universelle Erscheinung allen Dogmatismus'.
Mein Gott, wenn ich Sorgen oder Ängste habe, spreche ich doch auch leise vor mich hin; Bitte laß es nicht wahr sein!, säusle ich schon mal - dann frage ich mich hernach oft, wem das gegolten habe. "Mein Gott!" schrieb ich vorhin absichtlich: auch diese Floskel rutscht mir zuweilen raus, auch wenn ich für mich gar keinen Gott habe. Wenn ich flehe und bitte, wenn ich mir denke oder flüstere, Laß dies oder jenes nicht geschehen!, bin ich dann ein Mensch, der immer noch einem Gott untertänig ist? Die Antwort, die ich mir dann gebe, scheint mir eindeutig: der Mensch hat das natürliche Bedürfnis nach Transzendenz, dass sich Menschen einen Gott bewahren ist keine schlechte oder antiquierte Gewohnheit, es ist menschlich und wahrscheinlich nie aus den Menschen zu tilgen. Helmuth Plessner eilt mir mit seinen drei anthropologischen Grundgesetzen zur Hilfe. Das erste Gesetz nennt sich "natürliche Künstlichkeit"; es besagt, dass der Mensch "den Umweg über künstliche Dinge" nehmen muß. Weil ihn die Natur nicht geborgen hält, lebt er von Natur aus künstlich, muß er von Natur aus eine Kultur gestalten. Die "vermittelte Unmittelbarkeit" ist das zweite Gesetz; es legt dar, dass der Mensch auf die Unmittelbarkeit des Vorgegebenen angewiesen ist, aber durch eigenes Erkennen und Gestalten vermittelt er das Vorgegebene an seine menschliche Welt. Das dritte und für die Thematik des religiösen Glaubens bedeutendste Gesetz ist der "utopische Standort"; es besagt, dass der Mensch durch dieses Abstandnehmen von dieser Unmittelbarkeit zur Welt, seiner Nichtigkeit erst bewusst wird. Daher hält er Ausschau nach einem festen Grund, nach einem absoluten Weltmotiv - nach Gott. Hierbei handelt es sich um den "apriorischen, mit der menschlichen Lebensform an sich gegebenen Kern, den Kern aller Religiosität", wie Plessner es formuliert.
Der moderne Atheismus weist die Einsicht von sich, dass Menschen von Natur aus transzendente Bedürfnisse haben. Er steht mit beiden Beinen auf dem Boden - was nicht falsch ist, was aber aus Mangel an ethischem Surrogat häufig in materieller Seelenheilprogrammatik verendet. Er nennt Gott eine Illusion - was er auch sein könnte; aber wenn Menschen sich einen Gott denken können, so gibt es ihn für diese Menschen auch. Führt das zu missionarischem Eifer, Separatismus oder gar Krieg: dann darf es keine Toleranz geben; gelingt es diesem Gott aber - und das geschieht häufig! -, Menschen zu Nächstenliebe und Anteilnahme zu ermutigen: dann kann ein Atheist doch kein Problem mit Menschen haben, die sich einen Gott erhalten haben.
Warum ich mir öffentlich Gedanken zum Atheismus mache? Weil er mich, wie erläutert, oft enttäuscht - nicht er, sondern diejenigen, die ihn vertreten. Das ist es ja gerade: sie vertreten ihn, als sei er etwas wie eine Bewegung, als sei er eine atheistische Kirche; sie werden zu Vertretern dieser privaten Sache. Und noch was treibt mich dazu: die öffentliche Debatte der letzten Wochen. An dieser hat man nämlich ermessen können, wie es um atheistische Sichtweisen bestellt ist. Was den Muslimen hierzulande wiederfahre sei zwar schon grob, aber Solidarität mit Menschen, die einen Gott haben, wollte man nicht so recht walten lassen. Unter atheistischen Argusaugen, die den stieren Blick missionarischer Zeloten aufweisen, gibt es keine Differenzierung. Alles was Menschen unter Gottesbürde tun, ist für die Mehrzahl der Atheisten unglaublich rückständiges Verhalten, plumpe Dummheit, unnatürliche Altmode, eine gestrige Marotte, die man ganz schnell liquidieren sollte. Die Toleranz, die man Gläubigen abspricht, kennt man selbst nicht. Da scheinen Berge an Weisheit mit Löffeln in sich geschaufelt worden zu sein.
Es ist ja nicht so, dass ich mich mit Gott gemein machen wollte; dass ich den Katholizismus zum Beispiel oder den Islam besonders attraktiv finde: das nie und nimmer! Aber mir gefällt es nicht, dass man Menschen mit Gottesbezug, ob sie rege am Gemeindeleben teilnehmen oder nicht, in die Ecke altmodischer Blödheit stellt. Führt deren Gottesbezug dazu, Schwule als Aussatz der Gesellschaft zu formen, dann schweige ich nicht ehrfürchtig; Wirtshaustheologie ist unerträglich. Da kann der Atheist freilich nicht ignorant sein, da muß er sich wehren. Aber er muß ignorant sein, wenn es um religiöse Praktiken geht, die man jedoch an seinem Mitmenschen respektieren muß. Ich schreibe absichtlich "ignorant", weil es für jemanden, der eher philosophisch denn theologisch geschult, eher profan statt sakral besaitet ist, schwer ist, offenen Auges religiösen Tand zu tolerieren. Erst neulich bestritt ich den Tag der offenen Moscheen; ich wollte ein solches Gebetshaus von innen bewundern, die Ornamente betrachten. Man bat die Besucher, sie mögen die Schuhe ausziehen, was ich natürlich tat. Aber die Erklärung, die verstimmte mich: wir tun das, meinte eine junge Muslima, weil unser Prophet das so tat. Das ist alles, fragte ich mich still. Nur weil der Prophet das tat? Diese Erklärung war mir zu dünn. Tun, weil einer mal etwas tat - dergleichen Argumentation befriedigt mich, erschließt sich mir nicht. Ich wunderte mich leise, mir stand kein kritisches Wort zu: man sollte Respekt haben, auch wenn es einen nicht zusagt - zumal wenn man Gast ist. Schnell trat ich dann den Heimweg an, noch bevor ein Rundgang und die Fragestunde folgte. Da war mir klar, dass Toleranz manchmal auch Ignoranz sein muß, weil man es anders vielleicht nicht ertragen kann. Jedem seinen Glauben, aber ich muß ja nicht dabei sein; schön, wenn Leute Erfüllung durch Religion erhalten, wenn sie zu besseren Menschen werden, wenn sie dort Trost und Kraft finden - aber ich muß ja nicht daneben stehen und eine Kerze halten. Da ist Ignoranz die bessere Toleranz!
Noch vor einigen Jahren hätte ich diese Besonnenheit arrogant belächelt; ich war sehr wohl der Ansicht, man müsse ein Botschafter des Nicht-Glaubens sein. Das Kruzifix beschmutzen, Mohammad karikieren: richtig so!, hätte ich gerufen. Nur für was? Ist es das wert? Dass ich meine Einsicht geändert habe, mag zu einem guten Teil auch Resignation sein: einen gläubigen Menschen bekehrt man nicht mit seiner leeren Lehre, in der kein Gott vorkommt - so eine Inhaltslosigkeit macht vielen Angst. Gelangen Gespräche in diese thematischen Gefilde, ziehe ich mich zurück; es erscheint mir unsinnig darüber zu debattieren. Das bisschen Dreifünftelbildung, das sich müde in mir regt, ist wohl der andere Teil meiner Einsicht. Der Mensch besitzt eine religiöse Natur, man kann sie nicht einfach abschalten, genetisch behandeln oder durch Sinngebungssurrogate auffüllen; man kann zwar in die wundersamen Tiefen des Konsums abtauchen und seinem Leben Sinn verordnen, der sich zwischen Rabatten und Schnäppchen erstreckt, aber irgendwann ist man auf sich zurückgeworfen und dann steht man vor seiner eigenen Nichtigkeit und landet im transzendenten Tummelbecken: was heute wahrscheinlich eher in der Esoterik als in der Kirche endet, weil erstere es besser versteht, Konsum und Transzendenz zu vereinen - dann bekommt die Sinnleere des Konsums ein spirituelles Kolorit und eine Weile fühlt man sich aufgehoben...
Ich will keinen Gott haben müssen; aber in einer vollkommen sinnentleerten und wertefreien Gesellschaft will ich auch nicht leben. Sollten Menschen einen Gott brauchen, um Sinn und Werte zu finden: nur zu! Glaubt! Machen wir uns doch nichts vor: ob eine Gesellschaft nun völlig religiös ist oder vollkommen frei von höheren Wesen, die Ethik verordnen - es ändert sich wenig. Hie Wertediktatur, dort Diktatur des Nihilismus. Ein Mittelweg wäre notwendig, mehr Gelassenheit auf allen Seiten...