Sie weigern sich partout arm zu sagen. Das sind die Schliche, wie man systematisch, das meint: innerhalb des Systems, vor der Realität flüchtet. Wie die letzthin in den Medien durchgenommene Schulstudie ebendort sprachlich abgehandelt wurde, verrät genug über den Charakter eines Systems, das sich weigert die Armut als gegeben und als abwürgende Kraft für eine gesamte Gesellschaftsschicht anzuerkennen.
Man konnte letzte Woche verfolgen, wie in Radio-Nachrichten und Teletexten, wie im Fernsehen und auf Webportalen, die genannte Schulstudie zu einer der Hauptgegenstände der Berichterstattung inszeniert wurde. Der Tenor und die verwendeten Phrasen waren überall beinahe identisch. Zentrale Erkenntnis der Studie war demnach, dass wohlhabende Grundschüler besser abschnitten als bildungsferne - das ist tatsächlich Orginalton gewesen. Es gab zwar auch andere Einsichten, aber schieben wir die jetzt mal beiseite, denn letztlich laufen sie auf dasselbe hinaus. Dass man nämlich wohlhabend und bildungsfern sozusagen als Antonyme konfrontierte, das erlaubte doch schon tiefe Einblicke. Das Gegenteil von wohlhabend ist nicht bildungsfern - besitzlos oder finanzschwach wären treffliche Worte gewesen; Synonyme für arm. Keines davon fiel jedoch.
Das darf als die sture Haltung der Studien- und Wahrheitsmacher und ihrer Berichterstatter angesehen werden, die tunlichst darauf achten, die Armut nicht zu sehr zu strapazieren. Sie soll nicht genannt werden, damit sie nicht zu sehr ins Blickfeld rutscht, damit sie inexistent bleibt. Arme Kinder sind daher als bildungsfern zu kennzeichnen, das vernebelt die Realität und tut so, als habe diese Gesellschaft keine massiven Probleme mit verstärkter Herausbildung von Schichten, die verarmen.
Natürlich stimmt auch, dass man die Armut hin und wieder kolportiert. Immer dann, wenn Studien zu Reichtum und Armut bemüht werden, nennt man die Armut auch. Aber dort bleibt sie abstrakt, als Zahlenspiel bestehen, als Durchschnittseinkommen und als durchschnittlich nicht erzieltes Einkommen. Dort sind Leute auch nicht arm, sie leben in Armut - das klingt wiederum ein Stückchen abstrakter und auch so, als hätte man die Wahl gehabt. Sprachlich kann man so gesehen nämlich in Armut oder in Miami leben - in etwas zu leben riecht nach Alternative, die derjenige, der in Armut lebt, ganz sicher nicht hat.
Dort aber, wo das Armsein als Auslöser diverser Benachteiligungen figurativ wird, vermeidet man die Nennung der Armut, weicht man ihr begrifflich aus. Als abstrakte Messgröße bei Armutsberichten bekommt sie zwar einen Namen, jedoch erhält sie kein Gesicht. Entwerfen aber konkrete Studien zu konkreten Themengebieten ein Bild davon, wie Armut anschaulich und greifbar wirkt, wie sie hineinstrahlt in den Alltag, wie sie benachteiligt, diskriminiert und schädigt, wie sie frustriert und Resignation begünstigt, wie sie Wege abschneidet und theoretischen Gleichheiten Hohn spottet - wenn also die Konkretion dinglich darlegt, dass Armut in allen Lebenslagen ein Begleiter ist, der die Gleichheitsansprüche unterwandert und Partizipation einschränkt, dann tauft man sie um, macht sie unverdächtig. Dann ist Armut nicht mehr das Gegenteil von Wohlhabenheit, dann wird Bildungsferne gesagt, wenngleich letztere eher ein Symptom der Armut ist als der Gegenspieler.
Denn Schulstudien, so viel man sie auch wegen ihrer Erhebungskriterien tadeln kann, konkretisieren jene Armut, die in Armutsberichten relativ vage bleiben. Sie zeigen die Auswirkungen von Armut, die fehlenden Mittel für Nachhilfe, die fehlende Zeit von working poor-Eltern, die nicht selten an zwei Arbeitsplätzen arbeiten, die mangelnde Kraft von Alleinerziehenden, das Gefühl von Alleingelassenheit arbeitsloser Familien. All das hat die Studie nachgezeichnet, man nannte es nur Bildungsferne, damit die Armut nicht zu sehr ins Blickfeld rutscht.
Man kann auch im Mainstream von Armut sprechen - das ist schon wahr. Nur da darf sie als Begriff, nicht aber als Auswirkung dienen. Das würde brüskieren, beunruhigen, müsste ja geradezu zum Umdenken anstimmen. Oder anders gesagt: Es würde die zum Denken anregen, die sich sonst darüber wenig Gedanken machen.
Daher beschreibt man die Schulstudie wie dargelegt, daher sind neben Bildungsferne auch Migrationshintergründe wesentlich zu machen. Aber in letzter Instanz, wenn man all diese Begrifflichkeiten auf ihren letzten Nenner herunterbricht, dann bleibt da die Armut als Faktor ungleicher Schülerleistungen. Denn ein Zufall, dass wohlhabende Eltern bessere Schüler hervorbringen, ist es nicht - und eine Auslegung nach Prädestinationsart, wonach Geld und Klugheit übereinstimmen, mag etwas für calvinistische Sektierer sein, kein Erklärungsansatz aber, der sich soziologischer Ansprüche verpflichtet. Nein, das ist kein Zufall, dass Geld besser abschneidet - und es ist noch weniger Zufall, dass man die Armut hier nicht beim Namen nennen will.