In der jungen Welt gibt es heute einen bemerkenswerten Artikel zu lesen, der mit Ausbeutung 2.0 überschrieben ist. Darin wird beschrieben, wie der neue Internet-Kapitalismus funktioniert. Ich bin ja ohnehin immer wieder erstaunt, wie hartnäckig die Menschen daran glauben wollen, dass das Internet prinzipiell eine gute Sache ist. Klar, es ist tatsächlich für vieles gut – wenn mich beispielsweise daran erinnere, wie viel Zeit ich früher in Bibliotheken verbracht habe, um für Hausarbeiten und Referate zu recherchieren! Und dann gab es oft nicht mal aktuelle Fachliteratur, weil schon damals die Mittel für Neuanschaffungen massiv zusammengestrichen wurden.
Heute tippe ich einfach ein paar Suchbegriffe in eine Suchmaschine und habe Zugriff auf eine fantastische Vielfalt aktueller Quellen – das ist schon toll. Ich muss mich nicht mehr ärgern, wenn bestimmte Sachen im großen Brockhaus nicht drin stehen, ich kann mich jederzeit über alles informieren, ich kann Musik hören, die es im Plattenladen an der Ecke nie gegeben hätte und Sendungen ansehen, die ich früher verpasst hätte, wenn mir gerade nicht nach Fernsehen gewesen wäre – Internet ist super, keine Frage. Aber trotzdem ist nicht alles gut. Genau wie alle anderen großen Errungenschaften und Erfindungen der Menschheit, die durch den Prozess der Kapitalverwertung gegen und nicht für die Menschen verwendet werden, wird auch das Internet benutzt, um neue Sachzwänge zu schaffen, die den Lohnabhängigen das Leben schwer machen: Die totale Verfügbarkeit von allem, die das Internet ermöglicht, führt eben auch dazu, dass Arbeitskraft weltweit auf Abruf zur Verfügung steht. Und das ist nun mal gar nicht schön.
Ich kenne beispielsweise Menschen, die vor ein paar Jahren von der Programmierung anspruchsvoller Internetseiten für zahlungskräftige Kunden ziemlich gut gelebt haben. Inzwischen konkurrieren die aber mit irgendwelchen Indern, Chinesen oder Russen, die aus inzwischen reichlich vorhandenen Webseiten-Baukästen für ein paar Euro ebenfalls brauchbare Internetauftritte zusammen zimmern. Nichts gegen die Inder, Chinesen oder Russen, im Gegenteil, man kann es ihnen nicht verdenken! Die müssen ja auch irgendwie leben. Über internationale Internet-Shops, die so ziemlich alles deutlich billiger als im Laden anbieten, braucht man gar nicht zu reden. Die machen den Ladenbesitzern und ihren Mitarbeitern hierzulande auch das Leben schwer. Das Internet ist eben nicht nur ein anarchischer Freiraum, in dem es unglaublich schwer ist, kapitalistische Eigentumsverhältnisse durchzusetzen – daran beißen sich ja Inhalte-Anbieter und Urheber derzeit die Zähne aus. Es ist (so ist das mit der Dialektik; das Internet ist dialektisch wie nur was) gleichzeitig auch ein kapitalistisches Parallel-Universum, wie Frank Schirrmacher so treffend festgestellt hat.
Das Internet hat eine bis dahin unvorstellbare Dynamik bei der Globalisierung von Produktionsprozessen und Verwertungsketten ermöglicht, die wiederum eine unglaubliche Rationalisierung in Gang gesetzt hat – mit den Auswirkungen schlagen sich die Lohnabhängigen aller Länder herum. Das ist ein Teil der weltweiten Krise. Die Konkurrenz hat sich drastisch verschärft und damit auch die Ausbeutung. Durch die Dezentralisierung, die Flexibilisierung der Produktion werden Kernbelegschaften in so ziemlich allen Industriezweigen abgeschmolzen und statt dessen billige und sehr viel flexiblere Leiharbeiter eingesetzt – Deutschland hat da in Europa eine gewisse Vorbildfunktion. In anderen Regionen der Welt kennen die meisten Menschen aber gar nichts anderes als die prekäre Existenz als Tagelöhner.
Eine moderne, westliche Form der Tagelöhnerexistenz ist das Crowdsourcing. Beim Crowdsourcing wird eine früher einmal innerhalb eines Unternehmens ausgeführte Tätigkeit an eine Gruppe (Crowd) ausgelagert, die den Job nun auf Abruf übernimmt. Der Witz daran ist, dass es sich dabei in der Regel um Tagelöhner handelt, die diesen Job dann projektbezogen und in Konkurrenz zu anderen verrichten müssen. Die Sicherheit und Vorzüge der Festanstellung enthält man ihnen systematisch vor, sie arbeiten auf Abruf, und wenn sie nicht gebraucht werden, verdienen sie auch nichts. IBM-Personalchef Tim Ringo hat in einem Gespräch mit der Fachzeitschrift Personnel Today sehr gut erklärt, wie Crowdsourcing geht: “Es gäbe keine Gebäudekosten, keine Renten und keine Kosten für das Gesundheitswesen, was enorme Einsparungen bedeutet”. Kapitalismus ist schon geil – für die Kapitalisten. Die anderen müssen jetzt um Billigjobs by call konkurrieren. Das Internet ist eben auch eine Wunderwaffe des Kapitalismus. Daran ändern auch ein paar Piraten nichts.