von Siegfried R. Krebs und Lysett Wagner
WEIMAR. (fgw) Guten Kinder- und Jugendbüchern ist eigen, daß sie von Menschen jeden Alters gelesen werden können. Dies trifft in ganz besonderem Maße auch auf Janne Tellers Buch “Nichts” zu. “Nichts”ist eine beklemmende Parabel über die uralte und doch ewig junge Frage nach dem Sinn des Lebens. Dieses dänische Jugendbuch liegt mittlerweile auch in deutscher Übersetzung vor.
Die Sommerferien sind beendet und für Pierre Anthon und seine Klassenkameraden beginnt das siebente Schuljahr. Dieser steht in der ersten Unterrichtsstunde unvermittelt auf und verläßt mit den Worten “Nichts bedeutet irgendetwas, dashalb lohnt es sich nicht, irgendwas zu tun.” (S. 9) den Unterricht und die Schule. Fortan verbringt er seine Zeit in einem Pflaumenbaum und wirft von dort seinen schockierten Mitschülern seine nihilistischen Lebenssichten an den Kopf.
Die Klasse beschließt nach einiger Zeit, ihm das Gegenteil zu beweisen und beginnt Dinge zu sammeln, die ihrer Meinung nach Bedeutung haben. In einem stillgelegten Sägewerk entsteht so ein “Berg aus Bedeutung”. Doch anfangs kommt außer Nebensächlichkeiten nichts zusammen, in einem Gespräch heißt es dazu: “…Und dann müssen wir erzählen, was Pierre Anthon sagt. Und das können wir nicht, denn die Erwachsenen wollen nicht hören, dass wir wissen, dass nicht wirklich etwas etwas zu bedeuten hat und dass alle nur so tun als ob.” (S. 17)
Irgendwann kommt die Idee auf, daß jeder Schüler etwas ihm ganz besonderes Wichtiges abgeben und auf den “Berg von Bedeutung” legen soll. Reihum ergeht nun ein das Forderungsrecht an einen anderen: Boxhandschuhe, ein neues Rennrad, die dänische Flagge. Doch das immer noch harmlose Spiel gerät langsam aus den Fugen: Vom koreanischstämmigen Mädchen wird die Adoptionsurkunde verlangt, vom Moslem sein Gebetsteppich… Die Atheistin muß ihr Teleskop hergeben. Je größer das Opfer, desto größer wäre dessen Bedeutung meinen die 14jährigen.
Zwischendurch bekommen sie auf ihren Schulwegen immer wieder von Pierre Anthon dessen Thesen zu hören: “Man geht in die Schule, um eine Arbeit zu bekommen, und man arbeitet, damit man freihaben kann. Warum nicht gleich von Anfang an freihaben?”, rief er und spuckte einen Pflaumenkern nach uns. (S.44)
Langsam, aber unaufhaltsam beginnt nun das Geschehen zu eskalieren. Die Forderungen an die Mitschüler werden immer absurder, grotesker und immer grausamer, menschenverachtender: Da wird der Sarg mit der Leiche eines jung verstorbenen Bruders ausgegraben und ein Hund soll getötet werden, der fromme Christ muß eine Christus-Statue aus der Kirche entwenden muß. Alles landet auf dem “Berg von Bedeutung”, doch das ist immer noch nicht genug… So muß Sofie ihre Unschuld opfern und als letztem aus der Klasse wird dem Gitarristen Johan der Zeigefinger abgehackt.
Doch dieser petzt seinen entsetzten Eltern das geschehen. Die Polizei sichert das Sägewerk, ein mediales Nachspiel beginnt. Dieses jedoch sensationslüstern, das Treiben der Kinder wird gnadenlos vermarktet… In der Schule bekommen die Schüler ihre Standpauke, doch Sofie (!) erwidert ihrem Klassenlehrer nur: “Die Bedeutung.” Sie nickte wie zu sich selbst. “Sie haben uns ja nichts darüber beigebracht. Also haben wir sie jetzt selbst gefunden.” (S.101)
Das internationale Medienspektakel erscheint allen in der Kleinstadt von Bedeutung, nur Pierre Anthon läßt sich nicht beeindrucken. Er verlacht seine ehemaligen Mitschüler, die solche Opfer bringen, um Bedeutung zu finden. Doch schließlich läßt er sich zu einem Besuch im Sägewerk verleiten… Und hier geschieht das Unfaßbare: Gemeinsam erschlagen die bisherigen Klassenkameraden Pierre Anthon. Und… Das Leben geht dennoch weiter…
Ja, welchen Sinn hat das Leben für junge Menschen, wenn ihnen die Gesellschaft, die Schule keine wirkliche und menschenwürdige Perspektive mehr bieten kann? Was für Menschen werden so herangezogen? Wirklich nur noch Egoisten, Opportunisten und Karrieristen, nur noch Zyniker? Menschen, die sich nur noch gegenseitig hassen und verletzen müssen? Damit es nicht so kommen möge, möge dieses Buch auch in Deutschland eine weite Verbreitung finden. Die Lektüre ist zwar auch für den erwachsenen Leser beklemmend, sie läßt nicht kalt, sie regt zu Nachdenklichkeit an. Jeder von uns ist gefordert, der nachfolgenden Generation Vorbild zu sein, ihr humanistische Werte zu vermitteln. Und hier ist nicht zuletzt auch der Staat gefordert, politische Rahmenbedingungen für eine menschliche Gesellschaft zu setzen.
Janne Teller wurde 1964 in Kopenhagen geboren und ist seit 1995 hauptberuflich Schriftstellerin. Die Originalausgabe von “Nichts” erschien im Jahre 2000 und wurde 2001 mit dem Kinderbuchpreis des dänischen Kulturministerims ausgezeichnet. Das Buch löste bei seinem Erscheinen kontroverse Diskussionen aus und war zeitweise sogar wegen Blasphemie verboten. Heute zählt es in Dänemark zur bevorzugten Schullektüre.
Janne Teller: NICHTS Was im Leben wichtig ist. Roman. Aus dem Dänischen von Sigrid Engeler. München 2010 (Carl Hanser). 144 S. 12,90 €, ISBN 978-3-446-23596-0
[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]