Namenloses Treiben

Namenloses TreibenMarion Brasch „Ab jetzt ist Ruhe“ (S. Fischer) 
„Die interessantesten Geschichten findet man sowieso immer da, wo man sie nicht erwartet, hatte er gesagt. Das ist wie im Leben. Also ließ ich mich treiben.“
Das ‚treiben lassen‘ ist ein stetig wiederkehrendes Motiv in Marion Braschs autobiografischem Roman, sie tut es gern und oft – durch den Tag, eine Stadt, eine Jahreszeit, sie treibt genussvoll durch die schönen, antriebs- und lustlos durch die tristen Zeiten ihres Alltags und der Leser nimmt einen großen Schluck Melancholie, schwingt sich auf’s Erinnerungsvehikel und treibt mit. Mit „Ab jetzt ist Ruhe“ ist der gebürtigen Ostberlinerin ein warmherziges, nicht selten anrührendes Buch gelungen, ein dokumentarisches Familienstück, eine Zeitreise, welche die großen, die weltbewegenden Dinge ihrer Vita seltsam klein und die kleinen, ganz persönlichen Momente perspektivisch vergrößert erscheinen lässt.
Und würde nicht der Name der Autorin auf dem Einband stehen, man täte sich schwer, die Geschichten mit Personen zu verknüpfen, sie selbst belässt sie größtenteils unbenannt, vage umschrieben. Ob sie nur mit diesem Hilfsmittel imstande war, die intimen, teilweise doch recht tragischen Lebenslinien ihrer Familie nachzuzeichnen – man kann es nur vermuten: Obschon alles Menschen, die untrennbar mit den ostdeutschen Zeitläuften verwoben sind, diese sogar entscheidend mitbestimmten, sie bleiben „der Sänger mit dem Schnauzbart“, der „blinde Moderator“, der „Dichter mit der weiten Stirn“, der „Vorsitzende“. Auch ihr Vater, ihre Brüder - kein Horst, kein Thomas, kein Peter und kein Klaus, Marion Brasch ordnet sie allein dem Alter nach, nur der älteste und bekannteste kommt manchmal ohne Attribut zu Wort, als „mein Bruder“ erscheint er auch als derjenige unter den drei Geschwistern, zu dem sie das widersprüchlichste Verhältnis zu haben schien.
Was es an Namen nicht hat, das hat es an liebevollen Details, an wundersamen Begebenheiten, an Gedankengängen und Einsichten. Dass sie sich selbst des Öfteren als das mäßig talentierte und am wenigsten interessanteste Mitglied der Familie Brasch herausstreicht, überrascht weder noch stört es, denn auch wenn sie sich als Tochter und Schwester zuweilen selbst bemitleidet, so bleibt Marion Brasch dabei doch humorvoll und gleichermaßen bescheiden – sie ist, nicht nur als Überlebende, ohnehin wohl die einzige unter den möglichen Kandidaten, die diese Geschichte hätte so zu Papier bringen können.
Trotzdem wird auch dieses Buch in seinem ganzen Spektrum nicht jedem Leser zugänglich sein. Mag die Einsicht in das bewegte Leben der Künstlerfamilie, in die gesellschaftlichen wie privaten Verwerfungen, Zwänge und Verirrungen für einen gesamtdeutschen Kulturkreis Relevanz haben, die leise romantische, nie verklärende, dennoch verschwörerische Begleitmelodie der Erzählung wird denen verborgen bleiben, die zur Zeit nicht vor Ort, also in anderen Umständen verhaftet waren – man muss das nicht bedauern, es heißt ja schließlich, auch andere Mütter hätten schöne Töchter. Wer Glück hat, dem bleibt am Ende neben viel Wehmut und ein wenig Sehnsucht die wohltuende Erinnerung an eine längst vergangene, irgendwie immer auch gemeinsame Zeit.
Anmerkung: Nach dem Stöbern in alten Briefen aus dem geliebten Sender DT64, Schreibmaschinenseiten, eng beschrieben mit Manuskripten und Songlisten, die dankbare Erkenntnis, dass man der Autorin und ihren Mitstreitern darüber hinaus noch die Bekanntschaft mit Velvet Underground, Nico und Nick Cave mit seiner Birthday Party verdankt, damals in Karl-Marx-Stadt anno 1988. www.marionbrasch.com

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