Mutig

Ich habe doch glatt den einjährigen Geburtstag meines Blogs verpasst. Streng genommen lag es daran, dass sich meine gesamte technische Ausstattung nach und nach zerlegt hat, einschließlich meinem DSL-Anschluß. Ich habe es aber erstaunlich selten bedauert, nichts schreiben zu können. Genau genommen fällt mir zu den meisten Vorkommnissen auch einfach nichts mehr ein, vor allem nichts, das meinem Lebensmotto entspricht - wenn es Dich krank macht, lach es aus. Wie man es auch dreht und wendet dieser Tage, ich kann es einfach nicht mehr lustig finden.

Dabei könnte ich ja eigentlich ganz zufrieden sein: Das meiste von dem, was gerade durch die Schlagzeilen geistert, habe ich so mehr oder weniger vorausgesagt. Bloß habe ich echt maßlos übertrieben beim Schwarzmalen, dachte ich damals. Zum Beispiel, was die Unfähigkeit dieser Regierung angeht. Nach vier Jahren großer Koalition war ich wirklich davon überzeugt, allen Streit und Stillstand erlebt zu haben, denn ein Kabinett in seine Amtszeit packen kann; diese Überzeugung hielt keine drei Monate. Und ich schrieb schon in meinem allerersten Artikel hier vor über einem Jahr, wie man über dieses Versagen hinwegtäuschen würde: Mit einer Integrationsdebatte. Aber irgendwie hätte ich nicht damit gerechnet, dass es derart gut funktioniert. Nicht in den Umfragen, komischerweise, aber an anderer Stelle.

Wann haben Sie denn das letzte Mal über die Gesundheitsreform gesprochen? Oder was genau halten Sie eigentlich von den jüngsten Plänen für eine Steuerreform, also vor allem die kommenden Steuersenkungen, die Verwandlung von 80.000 Paragraphen in ein Steuerrecht, das diesen Namen verdient? Haben Sie garnix mehr von gehört in letzter Zeit? Na sowas. Aber die großen Schritte, mit denen die Koalition in sozial- und bildungspolitisch ihr Konzept verwirklicht, beeindruckend, oder? Ja, stimmt, ich weiß auch nicht, was ich damit meinen könnte. Aber die Bundeswehrreform ist ja wohl eine Revolution... zumindest, was die schönen Fotos unseres schönen Ministers angeht, ansonsten weiß man ja garnix... ja, ist ja auch alles total unwichtig. Wer braucht schon Politik, wenn er sich stattdessen an der Frage berauschen kann, ob der Islam zu Deutschland gehört. Oder sich die Köpfe heissreden kann über einen gewissen Bahnhof in der schwäbischen Provinz, der angeblich über Wohl und Wehe der wirtschaftlichen Zukunft entscheidet. Sicher, das Ding klingt wie ein Schildbürgerstreich, aber warum brennt die Hütte erst jetzt, wo die finanziellen Schäden, die durch zahlreiche Vertragsbrüche entstehen würden, ebenfalls vom Bürger bezahlt werden würden...? Ja, Sie hatten sicherlich was besseres zu tun, die hundertundelfte Kopftuchdebatte, die zwanzigste Neuaufführung der Kampfhundebatte... und natürlich Pornoverbrecher, auch immer eine gute Adresse, Stefanie von Guttenberg jagt Kinderschänder, das ist ja auch von globaler Bedeutung wie jede RTL2-Serie.

Und nächstes Jahr kommen dann wieder die ganzen Statistiken- über unsere Bildungsmisere, über unsere Geburtenmisere, über den miesen Zustand unseres Gesundheitswesens, über den nahenden Zusammenbruch der Rente, zusammen mit der Feststellung, dass Wachstum ohne vorherige Verluste schwerer zu generieren ist als im Moment - vor allem bei Abwesenheit jeglicher Wirtschaftspolitik - und dann geht es wieder von vorne los. Wie seit 20 Jahren. Dann werden wir erstmal über unsere faulen Arbeitslosen diskutieren, irgendeinen Schwachmat aus der Buschowsky-Sarrazin-Fraktion wird sich schon dafür finden, dann werden wir wieder über kriminelle Jugendliche reden, dann wieder über den bösen Islam, und wo wir gerade dabei sind, über die Terrorbedrohung. Zwischendurch werden wir ein paar wilde Wahlergebnisse fabrizieren, vielleicht sogar grüne Ministerpräsidenten, und das wird natürlich überhaupt nichts ändern.

Vielleicht schaffen wir es sogar, dass die Merkel hinschmeisst und beschwören damit den entgültigen Schrecken herauf: Guttenberg als Kanzler. Ich hätte da mittlerweile Lust drauf. In einer Zeit, in der wirklich nichts mehr von Wert passiert, nicht mal mehr etwas von Wert angekündigt wird, muss man seine Befriedigung finden, wo sie sich bietet, und den Mann in die angemessene Bedeutungslosigkeit abstürzen zu sehen, wäre es mir wert.

Ich habe in meinem ersten Artikel hier damals Unverständnis darüber geäußert, warum die großen Wahrheitensagen, insbesondere Sarrazin, eigentlich als "mutig" tituliert werden. Sehen Sie, das frage ich mich heute mehr als je zuvor, aber zumindest Ihnen, dem Wähler, muß ich eindeutig Mut bescheinigen. Sie haben es geschafft, die Wirtschaftskrise zu vergessen, obwohl da draussen eifrig an der nächsten gebaut wird, es ist ja schließlich nichts unternommen wurden, um das zu unterbinden. Sie applaudieren Leuten, die suggerieren, wenn Integranten mehr Saumagen essen würden, wäre unsere bildungs- und sozialpolitische Misere ebenso gegessen wir unser völlig ruinierter Haushalt.  Sie führen Debatten über Königshäuser und Kinderschänder mehr oder weniger im gleichen Atemzug. Gleichzeitig sind weniger von Ihnen aktiv in der Politik tätig als jemals zuvor. Das ist wirklich mutig. Es ist sogar geradezu dekadent. Spätrömisch, so gesehen.


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