“Müssen” wir wirklich?

“Müssen” wir wirklich?Haben Sie auch den Wunsch, dass Sie Ihr tägliches Leben selbst-bestimmt gestalten können, sich nicht von anderen abhängig machen und nicht ständig nur auf die Ereignisse um sich herum reagieren müssen. Und obwohl wir diesen Wunsch in uns tragen, erlauben wir uns sehr häufig, dass der Tag als fremdbestimmt und damit als von anderen getrieben erlebt wird. Die Anderen können dabei die Umstände (politische Situation, Krankheit, unerwartetes Ereignis), der Chef, die Mitarbeiter oder Kollegen, der Partner oder die Kinder sein. Häufig sehen wir uns, als den Umständen ausgeliefert und befinden uns dann in einer Haltung, in der wir auf diese Umstände oder Personen reagieren “müssen”. Es bleibt uns ja keine andere Wahl.

Ich möchte Sie zu einem Selbstversuch einladen. Beobachten Sie die nächsten 24 Stunden, wie oft Sie oder andere im Gespräch das Wort “muss” benutzen. Sie werden überrascht sein, wie oft wir andere oder die Umstände für unser Handeln und damit auch für unsere täglichen Entscheidungen verantwortlich machen. Immer wieder scheint es so zu sein, dass uns nichts anderes übrig bleibt als in der einen oder anderen Form zu reagieren.

  • Ich muss Überstunden machen
  • Ich muss das Konzept schreiben
  • Ich muss diesen Termin wahrnehmen
  • Ich muss freundlich/höflich sein
  • Ich muss unsere Kinder vom Kindergarten oder der Schule abholen
  • Ich muss noch ein Geburtstagsgeschenk kaufen
  • Ich muss ….

Möglicherweise kennen Sie das Sprichwort: “Es gibt nichts das wir tun müssen, außer zu sterben”. Ich kann mit diesem Sprichwort nicht sehr viel anfangen, obwohl es sicherlich gut dazu dienen kann, eine Diskussion über das Konzept des “Müssens” zu starten. Fallen Ihnen auch gleich viele Beispiele ein, bei denen das Sprichwort nicht stimmen kann? Wenn es so einfach wäre, würden Sie sich sicherlich schon lange einen selbst-bestimmten Tag, ohne all die äußeren Einflüsse gönnen. Es scheint für die meisten unter uns nicht so einfach zu sein, sonst würden wir es doch schon lange tun. Wie geht es Ihnen dabei?

Daher möchte ich nun die Übung erweitern: Warum müssen wir etwas tun? Nutzen Sie doch die Gelegenheit und schreiben für sich einige (3-5) Sätze auf, bei denen Sie etwas tun müssen und ergänzen Sie diese noch um die Begründung. Das könnte so aussehen:

  • Ich muss Überstunden machen, weil ich sonst das Kundenprojekt nicht rechtzeitig abschließen werde
  • Ich muss das Konzept schreiben, weil das Angebot morgen beim Kunden erwartet wird
  • Ich muss diesen Termin wahrnehmen, weil ich es dem Geschäftspartner schon vor 2 Monaten versprochen habe
  • Ich muss höflich sein, weil mein Chef das von mir erwartet
  • Ich muss meine Kinder abholen, weil sie sonst allein vor der Schule warten
  • Ich muss dass Geburtstagsgeschenk kaufen, weil ich morgen auf der Feier eingeladen bin
  • Ich muss ….

Ich bin der Meinung, dass hört sich das alles sehr nach Zwang, Verpflichtung und auch Widerwillen an? Das sind in dieser Form doch keine freien Entscheidungen, oder? Sehr oft nutzen wir diese Formulierung ohne darüber nachzudenken, weil wir es so gewohnt sind. Allerdings führt diese Gewohnheit dazu, dass wir uns in diesem Moment nicht so fühlen, als wenn wir freiwillig eine Entscheidung treffen. Für unser Erleben macht es keinen Unterschied, ob wir das nur aus Gewohnheit so formulieren, oder möglicherweise sogar darunter leiden. Prüfen Sie für sich, ob durch diese Wahrnehmung und Ausdrucksweise ein Gefühl von Kraft, Motivation und Entscheidungsfreiheit entstehen kann.

Die einfachste Form daran etwas zu ändern, klingt für manche wie Augenwischerei und ist dennoch sehr hilfreich. Drehen Sie die o.g. Sätze einfach um und formulieren Sie diese wie folgt:

  • Meine Kinder würden alleine vor der Schule warten, deshalb hole ich sie rechtzeitig ab
  • Ich bin morgen auf eine Feier eingeladen, deshalb kaufe ich noch ein Geburtstagsgeschenk
  • Der Abgabetermin für das Angebot ist morgen, deshalb werde ich heute das Konzept schreiben

Wie fühlt sich diese Formulierung für Sie an? Erkennen Sie einen Unterschied? Erzeugen Sie so schon ein anderes Erleben, allein durch diese kleine Veränderung?

Ich möchte Sie dazu einladen, noch einen Schritt weiter zu gehen. Finden Sie heraus, warum SIE etwas tun. Dann könnten sich die Sätze so anhören:

  • Ich hole mein Kinder von der Schule, weil es mir wichtig ist, dass es nicht allein vor der Schule warten muss
  • Ich kaufe noch ein Geburtstagsgeschenk, weil es mir wichtig ist, dass ich der Person morgen eine Freude machen kann
  • Ich treffe morgen meinen Geschäftspartner, weil ich mich schon seit langem mit ihm verabredet habe und mir Verlässlichkeit wichtig ist
  • Ich werde heute Überstunden machen, weil es mir wichtig ist den Projekttermin einzuhalten

Was verändert sich nun für Sie? Erkennen Sie hinter Ihrem Handeln die für Sie wichtige Motivation (das Bedürfnis)?

Ihr Handeln kann aber auch ganz andere Begründungen hervorrufen. Wenn Sie noch etwas genauer hinsehen, dann könnten auch folgende Argumente auftauchen:

  • Ich werde heute Überstunden machen, weil es mir wichtig den Job zu behalten oder die Anerkennung vom Chef zu bekommen
  • Ich werde das Geschenk kaufen, weil ich nicht möchte, dass die Gastgeberin morgen enttäuscht ist, oder weil ich es erwarten würde, dass mir jemand etwas mitbringt
  • Ich werde morgen den Geschäftspartner treffen, weil es mir unangenehm wäre den Termin so kurzfristig abzusagen

Seien Sie ehrlich zu sich! Auch hinter diesen Formulierungen stecken wichtige Bedürfnisse. Sie können hier sehr schön das Seitenmodell nutzen und sagen: Ein Seite in Ihnen ist das wichtig. Denn Sie werden feststellen, dass es möglicherweise mehrere Seiten und damit mehrere Motive gibt. Manche, hinter denen Sie stehen (z.B. weil es mir wichtig ist ihr eine Freude zu machen) und andere, die sie vielleicht erst einmal nicht so gerne hören (z.B. weil ich Angst habe den Job zu verlieren). Aber auch diese sind anerkennenswert, da wir hier von dem Bedürfnis der Sicherheit und Existenzsicherung ausgehen können.

Manchen Menschen macht es auch Angst, die volle Verantwortung zu übernehmen. Nicht jeder freut sich darauf, die damit verbundene Freiheit zu erleben. Es kann wie eine übermenschliche Aufgabe erscheinen. Ist es da nicht viel einfacher, andere für die Entscheidung verantwortlich zu machen?  Wenn Sie diese Angst bei sich erkennen, dann gehen Sie kleine Schritte. Denn Die Angst zeigt Ihnen auch, wo möglicherweise eigene Grenzen sind, die respektiert werden wollen. Aber bleiben Sie dort nicht stehen.

Es gibt eine buddhistische Weisheit: “Es geht häufig nicht darum was wir tun, viel mehr jedoch, wie wir es tun”.

Entwickeln Sie die Achtsamkeit, zu bemerken, wenn Sie wieder einmal im “Muss” gelandet sind. Schaffen Sie Sich den notwendigen gedanklichen Freiraum. Treten Sie einen Schritt zurück und machen Sie die Übung wie oben beschrieben. Erkennen Sie Ihre eigene Motivation. Danach können Sie entscheiden, wie es weiter geht. Entweder Sie tun es, weil es Ihnen wichtig ist, oder – und diese Möglichkeit seht Ihnen immer offen – Sie sagen Nein und verändern etwas. Es ist mir bewusst, dass wir an manchen Umständen nichts ändern können (zumindest nicht auf die Schnelle). Das, was Sie aber ändern können, ist Ihre Sichtweise auf die Situation (wie in den Beispielen). Und das kann schon sehr viel verändern. Denn plötzlich sind Sie nicht mehr Opfer der Situation, sondern eine frei handelnde Person.

Wenn Sie diese Übung wiederholen, werden Sie möglicherweise erkennen, dass wir uns immer für etwas entscheiden. Wenn wir nichts verändern, entscheiden wir uns für “nichts verändern”. Wir unterliegen keinen “muss”, sondern entscheiden immer wieder aktiv oder passiv. Hinter dieser Sichtweise liegt sehr viel Kraft … Kraft Ihr Leben selbst-bestimmt zu gestalten, Gelassenheit und Zufriedenheit zu entwickeln sowie Ihr Umfeld entspannter zu erleben.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei, Ihre eigene Entscheidungsfreiheit zu schaffen.

Weiterhin eine achtsame Zeit, Ihr Olaf Karwisch


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