Muckefuck, Kaffee sei Dank! (Teil I)

Die politische und wirtschaftliche Konflikte der unterschiedlichen Kulturen und Systemen, die zu den Kaffeeverboten drängten, waren nicht der einzige Grund, warum die Märkte plötzlich ein explosionsartiges Verlangen nach Kaffeealternativen erlebten. Es ist auch dem Kaffee selbst zuzuschreiben, dass Alternativen entstanden. Das Verlangen nach Kaffee selbst und die Geburt eines neuen Geschmacks waren auch wesentlicher Grund, warum Alternativen, oder besser gesagt, Konkurrenz geschafft werden mussten. Was den Wirkstoff Koffein betrifft, mit Tee, die Konkurrenz war längst da, aber im Geschmack ließ Kaffee die Völker weltweit was ganz Neues erleben. Ein Getränk, der im Mund, Körper und Geist ein noch nie dagewesenes Erlebnis bot. Und alles, was Verlangen verursacht, alles was gut ankommt, braucht und bekommt Konkurrenz.  Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, Neues zu suchen und Umwege, sowie Verkürzungen zu wagen, um die schlichte Gewissheit zu erlangen, dass neben das, was bereits existiert, verborgene Schätze und Möglichkeiten auf das Licht warten. So ist es nur natürlich, dass wir heute viel mehr von Kaffee haben, als nur Kaffee.  

Muckefuck, Kaffee sei Dank! (Teil I)

Postum Werbung vor 100 Jahren

 

Mein erster Kaffee war kein Kaffee. Aus religiösen Gründen gab es bei uns daheim nie einen Tropfen des Getränks, obwohl um uns herum viele ihn tranken und wenn wir im Auto unterwegs waren, war es üblich Straßen entlang zu fahren und sehen wie Männer auf große Terrassen mit großen Holzkehrer den Kaffee bei der Trocknung immer wieder drehten. In der Nase kannte ich den Kaffeegeruch deutlich, im Mund kannte ich nur „Caro“ oder „Pero“. Um 1890 hatte die Firma Kathreiner  (1829-1998) einen eigenen Malzkaffee entwickelt, Caro Landkaffee genannt, und führte später einen weiteren Malzkaffee hinzu unter den Namen „Pfarrer Kneipp“. In einer blauen Verpackung präsentiert wurde dieser eine der ersten Markenartikeln Deutschlands.  

Caro Landkaffee wird heute aus dem „unveränderten Rezept“ von Nestlé produziert, übernommen von der Firma Kathreiner, die 1998 Insolvenz anmeldete. Diese renommierte Mischung besteht aus Gerste, Malz, Zichorie und Roggen. Produkte, die man oft mit Kaffeesurrogate in Verbindung bringt, doch nur wenige von vielen.  

Bucheckern – gelten als die Früchte der Rotbuche, die erst mit vierzig bis sechzig Jahren erste Früchte tragen. Ihr Geschmack ist nüssig und schmeckt gut in rohen, sowie in gerösteten Zustand. Für einen stärkeren Pesto-Geschmack kann man durch diese Eckern Pinienkerne ersetzen. Aus den Bucheckern lässt sich auch ein feines Öl herstellen, das mit dem altern nicht ranzig wird. Eine dünne Haut, die sie umgibt, beinhaltet den Giftstoff Fagin, der negative Wirkungen haben kann Dies passiert aber in der Regel nur beim übermäßigen Verzehr und der Effekt lässt sich gänzlich durch das Rösten vermeiden.  

Chicorée / Zichorie – der Begriff trägt unterschiedliche Bedeutungen unter Lebensmitteln. Auf der einen Seite steht die Cichorium intybus Linneaus var. foliosum Hegi, die Pflanze, die uns den Chicorée (Radicchio bzw. Salatzichorie) liefert, sowie die Cichorium endivia Linneaus Arten, die unterschiedliche Endiviensorten hergeben. Auf der anderen Seite steht das Cichorium intiybus L. var. sativum Lam. et DC., deren Form sehr an Möhren erinnert und welches Wurzelwerk prominent für die Produktion von Kaffee-Ersatz ist. Es geht demnach um Chicorée als Gemüse und Wurzelzichorie als Kaffee-Ersatzmittel. Die Herstellung von Getränken durch Röstung und sonstige Verarbeitung von Wurzeln und Samen geschieht vermutlich seit vielen tausenden von Jahren, aber erst durch die Kaffeeverbote und Konflikte mit dem exotischen Trunk stieg den Bedarf nach Chicorée, Getreide und weitere Produkte, hauptsächlich für diesen Zweck. Noch höherer Bedarf entstand dann während der beiden Weltkriege.  

Das in Wurzelzichorie erhaltene Inulin schmeckt süßlich und wirkt für die Darmflora, sowie das Verdauungs- und Immunsystems unterstützend. In Italien verwendet man Wurzelzichorie als Gemüse und im Salat.  

 

Muckefuck, Kaffee sei Dank! (Teil I)
Caro (Kathreiner AG)

  

Muckefuck, Kaffee sei Dank! (Teil I)

Postum (1895, Battle Creek, MI, USA)

 

 Dattelnkerne – die Kerne ausgesuchter Dattelnsorten und Provenienzen werden getrocknet, geröstet und gemahlen. Aus dieser einzelnen Zutat wird auch Kaffee-Ersatz zubereitet. Genauso wie es üblich bei Kerne der Kaffeekirschen ist, gewinnen die Datteln Kerne, sowie jegliche Getreide und andere Produkte erst durch das Rösten ihren besonderen Geschmack. Bei manchen Rezepten werden die Dattelnkerne mit Kardamom angereichert.  

Dinkel – diese war die Wahl, für eine Dame, die die ganze Furore um den Kaffee gar nicht mitbekam. Die deutsche Mystikerin Hildegard von Bingen (1098-1179) beschäftigte sich ausführlich, vorbildlich und ihrer Zeit wesentlich voraus mit Kräutern und der Heilkunde. Für sie galt, dass eines jeden Lebensmittel ein Heilmittel darstelle und hierbei hob sie den Nutz der Dinkel besonders hervor. Die natürliche Heilkräfte oder „Subtilität“ jedem Lebensmitteln muss geachtet werden, meinte sie als eins ihrer sechs „Lebensregeln“. Keine sonstige Getreidesorte ist reicher an Vitaminen, Spurenelemente und Aminosäuren. So wirkt ein Dinkel-Heißgetränk als Medizin. 

(Eicheln)  

Feigen – Feigen, die ebenfalls getrocknet und geröstet werden, um als Kaffee-Ersatz zu dienen, bieten einen kräftigen Bittergeschmack durch den hohen Zuckergehalt.  

Gerste – um die 19. Jahrhundertwende standen in vielen Bauernhöfen in der Eifel neben Brunnenwasser große Kaffeekannen mit Gerstenkaffee. Die Gerste wurde großenteils selbst angebaut und manchmal mit Roggen und Zichorie gemischt. Durch das Beimengen von gerösteten Futterrüben versuchte man den Kaffeegeschmack näher zu kommen. Das Rösten mit Butter oder Schweineschmalz kam auch vor.  

“Caffé d’orzo”  ist der Muckefuck der Italiener. Es bedeutet Gerste und es ist ein gängiger Produkt in den Cafés Italiens. Orzo bezeichnet aber ebenfalls die kleine reisähnliche Pasta, die aus Gerste hergestellt wird.  

(Hagebutte, Kartoffel, Kastanien, Kichererbsen, Löwenzahn)  

Lupine – die Lupinus Linnaeus gehört mit den Erdnüssen, Erbsen, und Kichererbsen zur Familie der Hülsenfrüchtler. Im früheren Ägypten und Griechenland gehörten sie zur Grundnahrung. Diese Pflanzen verfügen über Bakterien in ihren Wurzeln, die es ihr ermöglichen, den Stickstoff der Luft in Protein umzuwandeln und bereichern somit den Boden, wo sie wachsen. Aus diesem Grund ist der Eiweißgehalt bei diesen und anderen Hülsenfrüchten so hoch. Zu den Nachteilen gehört, dass Lupinen-Produkte, u.a. durch den hohen Proteingehalt, nicht selten allergische Reaktionen hervorrufen.  

Die Lupinenkerne werden auf unterschiedlicher Weise verwendet. Sie werden mit Salz geröstet und als Naschprodukt produziert. Aus den Kernen wird auch Lupinenmilch, sowie Lupinenmehl gewonnen. Seit ein paar Jahren experimentiert man mit Lupineneis und das Mehl wird oft für Gebäck verwendet.  Oder man röstet diese und macht daraus eine Brühe, die als „Kaffee-Ersatz“ getrunken wird. Ferner – wie auch mit Soja – werden sie für die Herstellung von „vegetarische Burger und Wurst“ verwendet. Und nun weiß ich ein wenig mehr darüber, was ich in meiner vegetarischen Kindheit wirklich aß.  

(Mais, Mandeln, Möhren, Roggen, Spargelsamen, Weintraubenkerne)  

Malz – durch das Einweichen und Ankeimen von Getreide wie Weizen, Gerste und Roggen wird ein Teil der vorhandenen Stärke im Malzzucker verwandelt. Durch Darren wird dieser Prozess abgebrochen und der Zucker anschließend geröstet. Mit einem bittersüßen Aroma wird versucht, den Kaffeegeschmack nachzuahmen.  

Jenseits jeglicher wirtschaftlichen Interessen und Kalkül, ob durch medizinische oder religionsbedingte Ansichten bewogen, mit Kaffee-Surrogate hat man Produkte geschaffen, die mit Kaffee nichts zu tun haben. Sie haben nichts mit den Kulturhintergründen gemeinsam, die den Kaffee überhaupt populär machten. Sie haben nichts mit der zentralen Absicht des Produktes, der bis heute wichtigste Aspekt bleibt, nämlich Geist und Körper zu erwecken. Und sie sind weder komplex genug in ihrem Wesen, noch in ihrem Geschmack. Die Wissenschaft zählt über 1000 Geschmacksstoffe – eine ungewöhnliche Komplexität. Den Geschmack künstlich zu reproduzieren scheint nicht möglich zu sein. Der Geschmack von KAFFEE ist es also, was Kaffee ausmacht. Vieles, was unter der Bezeichnung Muckefuck fällt, hat ihre eigene Berechtigung und verdient ersatzerscheinungsfreie Existenz. Allein die Rollen vieler dieser Produkte in der Welt der Medizin und Heilkunde, die zum Teil weiter zurück reichen, als unsere Kenntnis vom Kaffee, zeugen von eigenständiger Wichtigkeit. Schon zurzeit von Babylon und den alten Ägypter wurden unterschiedliche Getränke aus geröstetem Körner hergestellt.  

Es ist mir deshalb ein merkwürdiges Verkaufsargument, die Vorteile der Kaffee-Surrogate darin zu sehen, dass man – anders als beim Kaffee – „nach einem (Getreide-)Kaffee gut schlafen kann“ oder dass dieser magenfreundlicher wäre oder dass Dinkel-Kaffee ein „wahrhaft unverwechselbaren Geschmack“ hätte. In meinen Ohren klingen solche Aussagen als leere und unlogische Slogans, denn es entsteht kein Vorteil, wenn man schlafen kann, aber den Kaffeegeschmack nicht erlebt, den man sich wünscht. Man trinkt nicht Wein, weil er weniger Alkohol als Whiskey, Wodka oder Rum hat. Man trinkt nicht Bier, weil man die warme Temperatur des Rotweines nicht mag. Wein, Whiskey und Rum sind drei sehr unterschiedliche Universen, sowie die Kombinationen, die man aus den unterschiedlichen Getreide- und Gemüsezusammenstellungen produzieren könnte.  

Insofern handelte es sich damals nicht um Kaffee-Ersatz, sondern um Verzicht und Produkte zu beschaffen, die den Eindruck nicht aufkommen lassen, man ist gezwungen zu verzichten. Kaffee ist Kaffee und nach Öl zweitwichtigster Rohprodukt der Erde aus zwei Gründen: Er hält wach und er schmeckt nach Kaffee. Ein Kaffee-Ersatz ist nur das, was Kaffee ersetzen kann.  

Kaffee hat mit sich und mit den Wünsch-Konkurrenten viel Kapital umgesetzt. Doch nicht nur als Wirtschaftsfaktor ist er führend. Kaffee ist ein eigenständiges Geschmacksuniversum – ein konkurrenzloses. Dank der Kaffeekirsche kennen wir den Kaffeegeschmack und dank des Kaffees sind wir offenbar auf den Geschmack vielen weiteren Geschmäcker gekommen. Die Alchemie ist nicht auszuschöpfen und es ist nicht abzusehen, dass der Mensch in die Zukunft mit dem Verlangen aufhören wird, weitere Umwege und Verkürzungen zu wagen. Die Coffea Arabica und andere dieser Gattung werden noch weitere Wellen im Gang setzten. Ob ihre Blätter, ihre Früchte, das Fruchtfleisch oder ihre Samen, im gerösteten und nicht-gerösteten Zustand, eine Kaffeepflanze hat noch viel mehr zu bieten, als wir bereits kennen. Aber noch stecken wir im Prozess des Aufwachens.  

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Eingetragen unter:Alchemie, Kaffeegeschichte, Kaffeekultur

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