“Mowj-e Sabz” – The Green Wave

Quelle: WDR / © Dreamer Joint Venture
Quelle: WDR / © Dreamer Joint Venture

Seit einigen Tagen bin ich verärgert. Grund dafür ist ein Artikel, den Carl Melchers bei Jungle World veröffentlichte. Vorrangig geht es um den Film „The Green Wave“ von Ali Samadi Ahadi. Allerdings verlässt Melchers nach nur wenigen Zeilen das Genre und bietet uns seine eigene Meinung zu den Vorgängen in Iran und der Rolle der sozialen Netzwerke.

Das an sich wäre nicht mein Problem. Aber meiner Meinung nach hat sein Artikel große Schwächen.

Anders als er bin ich der Meinung, dass „Green Wave“ eben nicht den Anspruch erhebt, eine Dokumentation sein zu wollen. Sondern es ist ein Spielfilm, der sich quasi-dokumentarischer Stilmittel bedient. Es ist vor allem ein Film, der Emotionen wecken will beim Zuschauer. Und das gelingt ihm meiner Meinung nach sehr gut. Die eingestreuten Interviewpassagen unterstützen die „Botschaft“ des Filmes; sie sind aber nicht sein Hauptteil.

Ich muss allerdings hinzufügen, dass ich das allein aus der Kenntnis der kurzen (Fernseh)Fassung des Filmes schreiben kann. Die Kinoversion werde ich in einigen Tagen sehen.

Die politische Situation in Iran im Sommer 2009

Es fällt mir sehr schwer, einzuschätzen, ob Melchers Kritik richtig ist: er ist der Auffassung, dass der Film beim Zuschauer zu viel Wissen über die politische Situation in Iran voraussetzt. Er meint, dass erklärt werden müsste, wer zum Beispiel „der alte Mann mit dem Bart und der Nerdbrille“1 sei. Mir muss das nicht erklärt werden. Doch da bin ich mit Sicherheit eher die Ausnahme.

Ich denke aber: wen der Film emotional berührt (und das schafft er vermutlich bei jedem Zuschauer) wird sich gegebenenfalls auch mit den Hintergründen auseinandersetzen. Für das Miterleben des Schicksals der Hauptfiguren ist das jedoch unerheblich. Es spielt keine Rolle, zu wissen, wer Chatamie ist, wer Chomeini, um zu begreifen, dass der Film zeigt, dass ungeheures Unrecht an den Menschen geschieht. Es ist gleichgültig, wer Mussawi ist – wenn er es schaffte, die Jugend zu mobilisieren.

Warum der Autor es für „befremdlich“ hält, dass im Film unter anderem auch Mohsen Kadivar zu Wort kommt, erschließt sich mir nur schwer. Dass dieser Mann einer von den wenigen islamischen Reformern ist, verschweigt er.

Ich meine: wir müssen ihn und andere islamische Reformatoren nicht hofieren, wir müssen aber endlich anerkennen, dass er und Menschen, die denken wie er, für die islamische Welt unendlich viel wichtiger sind als jeder Ex-Muslim. Sie sind Stimmen, denen wir uns einfach nicht verschließen dürfen. Weder mit Gewalt noch mit Ablehnung wird es uns gelingen, islamische Demokraten von der Fairness unseres Angebotes zu überzeugen. Ist diesen linken Dickschädeln eine Zwangsdemokratisierung wie in Irak und Afghanistan lieber als mit den fortschrittlichen Denkern des Islam über die Demokratie innerhalb islamisch geprägter Kulturen zu reden?

Was mich ganz persönlich verärgert, ist, dass er diese seine Einschätzung gibt und am Beginn des Artikels über die iranische Journalistin Negin Behkam schreibt, die aber zu der Aussagen steht: ““Die jungen Menschen, die da für Mir Hossein Mussawi und gegen Mahmud Ahmadinedschad auf die Straßen gingen, wollten keine Revolution. Es ging ihnen um Reformen, um Zukunft und um ihre Menschenrechten”2. Ich kenne sie und ihre Auffassung und weiß daher, dass Frau Behkam davon ausgeht, dass dieses islamische Regime nicht durch Revolution gestürzt werden wird sondern durch einen inneren Zusammenbruch3 – einen, der auch vom Klerus ausgehen wird. Dazu gehört gerade und besonders auch der von Carl Melchers als “schiitische Kleriker” diskreditierte Mohsen Kadivar.

Die Reichweite sozialer Netze

Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn Carl Melchers die Rolle der sozialen Netze etwas auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Was aber definitiv falsch ist: wenn er schreibt, dass es nur knapp 5000 Leser der farsisprachigen Tweets gab – und damit die Wirkung der sozialen Netzwerke unbedeutend gewesen sei.
Viele Nachrichten wurden ins Englische übersetzt und der Hashtag #iranelection und #sog (sea of green) waren wochenlang unter den meistgelisteten bei Twitter. Über die Wirkung bei Facebook kann ich wenig sagen; ich hatte seinerzeit noch keinen FB-Account.
Doch Twitter trug neben persönlichen Gründen einen guten Teil dazu bei, dass ich mich mit der Thematik befasste (und dies noch heute mache).

Florian Rötzer schrieb bei Telepolis genau auch über diese Rolle der sozialen Netzwerke und kommt in seinem Artikel zu dem Ergebnis, dass diese zwar die Revolutionen nicht auslösen; aber unbestritten befeuerten. Und vor allem eine ganz wichtige Funktion hatten und haben: die Welt hört zu!
Niemand, kein Diktator dieser Welt ist mehr unbeobachtet. Selbst, wenn das Netz lahm gelegt wird. Gerade aktuell ist das sehr deutlich geworden: dass der Norden Afrikas brennt wissen wir vor allem über die sozialen Netzwerke. Was sich in den letzten Wochen in Iran abspielte ebenfalls.

Man kann ganz sicher nicht von einer “Twitterrevolution” sprechen, wenn wir über die Ereignisse im Sommer 2009 reden. Es waren nicht nur Twitterer, Blogger und Journalisten, die diese “Grüne Welle” trugen. Es waren Menschen. es war die Mehrheit des Volkes.
Aber erfahren, welchen verzweifelten Mut diese Menschen aufbrachten, hat die Welt und habe ich über diese sozialen Netzwerke.

Nic

  1. wobei mir erklärt werden müsste, was eine Nerdbrille ist
  2. Quelle: siehe hier
  3. Vgl. meinen Artikel dazu

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