"Morning in America" in Philadelphia: die neue Mehrheitsgesellschaft

Parteitage in den USA haben hauptsächlich zwei Nutzen: Einigkeit zu demonstrieren und die Kernbotschaft der jeweiligen Partei, mit der sie ihren Kandidaten ins Rennen schickt, zu betonen. Der Parteitag der Republicans in Cleveland letzte Woche war eine feindliche Übernahme, ein Putsch von außerhalb: die Republicans wurden die Party of Trump. Die Konservativen wurden entweder zu Quislings oder gingen ins politische Exil. Wirklich einig ist die Partei daher kaum. Man kann aber nicht sagen, dass es keine Kernbotschaft gegeben hätte. Amerika, das ist die neue Meistererzählung der GOP, ist ein Dystopia, und nur ein einziger Mann kann es richten: Donald Trump, der praktischerweise in Hillary Clinton auch gleich die Hauptverantwortliche ausgemacht und zum Verbrecher abgestempelt hat. Den Zivilisationsbruch, den der Republikanerparteitag darstellte, habe ich beschrieben. Da in Hillary bei den Democrats das Establishment selbst die Kandidatin stellte, war kaum ein ähnliches Chaos zu erwarten wie in Cleveland. Die Democrats zeigten aber darüber hinaus eine überraschend deutliche Vision Amerikas, die sich krass von der der Republicans abhebt - und den Moment markiert, in dem die Democrats mit neuer Zuversicht den Anspruch verkünden, für die Mehrheitsgesellschaft in Amerika zu sprechen - ein Anspruch, den sie effektiv seit Richard Nixons "silent majority" von 1968 nicht mehr erhoben haben.
Natürlich war der DNC-Parteitag nicht ohne Probleme. Besonders am ersten Tag gab es hässliche Auseinandersetzungen mit einer lautstarken Minderheit von Bernie-Sanders-Unterstützern, die mit dem Mantra "Bernie or Bust" (Bernie oder Pleite) protestierten. Dabei überbrüllten sie eine Rede von DNC-Vorsitzenden Debbie Wasserman Schultz, was angesichts ihrer nicht gerade konfliktfreien Vergangenheit mit Bernie Sanders kaum verwundern dürfte (Clinton ergriff entsprechend die Konsequenz und zwang Wasserman Schultz bereits zu Beginn des Parteitags, statt wie geplant an seinem Ende, zum Rücktritt). Sehr unschön waren die Bilder von weißen Mittelklassedemonstrierenden, die mit "No TPP!"-Rufen schwarze Redner niederbrüllten, die von den Erfahrungen mit Polizeigewalt und Armut berichteten. Sanders' entschlossenes Eingreifen (per persönlicher SMS an alle Delegiertenführer) und vor allem Michelle Obamas und Elizabeth Warrens Reden schlossen dieses Kapitel aber schnell.
Die Rede von Michelle Obama war der erste rednerische Höhepunkt des Parteitags und setzte den Ton für den Rest. Wer auch immer die Rede geschrieben hat kann sich auf die Schulter klopfen; sie ist ein Musterbeispiel politischer Rhetorik, egal, ob man ihren Aussagen zustimmt. Besonders ein Satz stach zurecht heraus: "I wake up every morning in a house that was built by slaves. And I watch my daughters, two beautiful, intelligent black young women, playing with their dogs on the White House lawn." (Jeden Morgen wache ich in einem Haus auf, das von Sklaven erbaut wurde. Und ich beobachte meine Töchter, zwei wunderschöne, intelligente, schwarze junge Frauen, wie sie mit ihren Hunden auf dem Rasen des Weißen Hauses spielen.) Das ist die Vision von Obamas Amerika, auf den Punkt gebracht. Es ist eine bessere Zukunft für Minderheiten.
Genau diese Botschaft wurde auf dem Parteitag wieder und wieder in den Mittelpunkt gestellt. Schwarze Opfer von Polizeigewalt sprachen vor schwarzen Witwen ermordeter schwarzer Polizisten, Homosexuelle berichteten von ihren Erfahrungen, Latinos begeisterten sich für den American Dream. Es war ein Leitmotiv, das den gesamten Parteitag hindurch wieder und wieder in den Vordergrund gestellt wurde.
Interessant war aber auch die Auswahl der Sprecher und ihre Präsentation auf der Bühne. Die Democrats bedienten sich ungeniert einer Sprache des Patriotismus und des Optimismus, die bisher eigentlich immer den Republicans vorbehalten gewesen war und beschwörten ein aufs andere Mal die wahre Größe Amerikas. Dieser Schwerpunkt auf dem Parteitag war nur möglich, weil Trump dieses Feld vollständig geräumt hat, um ein dystopisches Bild der Vereinigten Staaten zu zeichnen. Es ist sicher kein Zufall, dass Hillary Clinton in ihrer Rede davon sprach, dass Trump den "Morning in America" in ein "Midnight in America" verwandelt habe. Der berühmte Spot Ronald Reagans verkörperte wie kein zweiter das Gefühl, das die Republicans von sich und ihrer Politik zeichnen wollten. Die Democrats beanspruchen nun für sich, die Erben von Roosevelt UND Reagan zu sein. Dazu passen die religiösen Untertöne, die den Parteitag durchzogen (Jamelle Bouie beschrieb den Parteitag als "infused with the spirit of black church"). Trump hat auch dieses Feld geräumt, und während die Evangelikalen weiterhin jeden Kandidaten der Republicans unterstützen (mit Ausnahme relativ kleiner Abtrünniger, die aber auch nicht Clinton wählen), hat Clinton zum Stand des Parteitags bereits einen Zugewinn von über 20% bei Katholiken erzielt.
Die Democrats waren lange die Partei des "Me, too" gewesen: Wenn die Republicans ihre Gläubigkeit und ihren Patriotismus hervorstrichen, konnten die Democrats stets nur aus der Defensive heraus erklären, ja auch gläubig und patriotisch zu sein. In Philadelphia versuchten sie nun, das Vakuum auf der Rechten selbst auszufüllen und die Deutungshoheit über diese Begriffe nach über vier Jahrzehnten wieder an sich zu reißen. Dabei ist dieser Versuch eindeutig nicht die direkte Übernahme der republikanischen Spielart: die Religiosität ist offener, weniger von calvinistischen Idealen geprägt als die der Republicans. Ihr Patriotismus beschwört die Einigkeit eines bunten Amerikas. So fanden sich wie früher aus republikanischen Parteitagen viele Soldaten und Polizisten. Doch diese Botschaften wurden immer in den Kerngedanken von Vielfalt eingebunden. Am deutlichsten wurde dies wohl in der Rede von Khizr Khan, dem Vater eines gefallenen muslimischen Soldaten, der Trump direkt als unpatriotisch angriff: "You sacrificed nothing and no one!" (Sie haben nichts und niemanden geopfert) Trump, wenig überraschend, griff Khan für seinen muslimischen Glauben an und erklärte, seine harte Arbeit als CEO sei durchaus mit dem Opfer von Khans Tod vergleichbar. Die Tiefen von Trumps moralischem Abgrund sind immer aufs Neue überraschend. Auch die "großen" Namen unter den Sprechern - Barack Obama, Bill Clinton, Joe Biden, Elizabeth Warren - unterstützten diese Botschaft. Sie zeichneten ein optimistisches Bild der Zukunft, von einem bunten und einigen Amerika, das zusammenhält, und betonten die mannigfaltigen Schwächen Trumps.
Es dürfte kaum überraschen, dass der Parteitag der Democrats eine deutlich diszipliniertere Geschichte war als das Chaos bei den Republicans, und dass er in der Lage war, ein deutliches Narrativ zu zeichnen, für was die Democrats stehen. Und das ist eben deutlich mehr als nur ein "wählt nicht Trump", und das wird sich in den kommenden drei Monaten noch mehrmals zeigen. Die Republicans haben letztlich nur das Argument für sich, dass Trump einer der ihren ist. Marco Rubio begründete seine Unterstützung Trumps erst jüngst wieder damit, dass man keinesfalls die Nominierung eines Supreme Court Richters aus der Hand geben dürfe. Als Begründung, einen Präsidenten zu wählen, ist das aber eigentlich eine Bankrotterklärung. Die Umfragewerte Clintons stiegen nach dem Parteitag denn auch; sie liegt nun zwischen sechs und zehn Prozent vor Trump.
Das branding der Democrats aus dem Parteitag aber ist auch jenseits der direkten Konsequenzen für die Wahl interessant. Ich habe bereits oben ausgeführt, dass die Democrats damit das Odium des "Me, too" abschütteln. Es ist aber wichtig, dass sie nicht einfach versuchen, das bisherige branding der Republicans für sich zu kooptieren. Stattdessen stellen sie es in den Kontext ihres eigenen Selbstverständnisses; sie reklamieren den Mantel der Mehrheitsgesellschaft für sich, die für über 40 Jahre von den Republicans beansprucht wurde. It's morning again in America.

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