Montañita

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Der obszöne Gestank zivilisatorischer Verheißungen ist meine Bergluft – der Pilger in meinem Kopf liegt betrunken im Straßengraben. In drei Stunden beginnt der Morgen des Heiligen Abend. Und nur die Uhr erinnert daran. Und wenn die Erde vor 24 Stunden entstanden ist, ist der Mensch zwei vor Zwölf geboren. Großmutter würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, könnte sie mit meinem Augen sehen. Nichts bewegt mich wie das Paradies Natur – aber ich bin zu verdorben: Berlin, die Hure, ist meine große Schwester.

Das Wort Hour in Happy-Hour wird hier irrtümlicher Weise mit „Nacht“ übersetzt. Aus den Boxen klirren billiger Elektro, Geplärr amerikanischer Aufziehpuppen und Liebesschwüre liebeskranker Höhlenmenschen. Aus dem Westen geflohene mit Dreadlocks, Rastazöpfen, in weiter bunter Kleidung, verkaufen Armbänder, Halsketten, Ohrringe; Einheimische verhökern Pommes mit Chorizos, Bananen, Mangos, die besten Cocktails der Stadt oder die beste Party der Stadt, welche in Wirklichkeit ein sich – fast verzweifelt – um den Tourismus drängendes Dorf ist. Langhaarige mit Vollbärten spielen Didgeridoo und Trommel. Am Nachbartisch bewegen Ecuadorianer Schachfiguren aus Glas. Sobald sie im Augenwinkel junge Frauen sehen, werden sie laut, ostentativ in ihren Gebärden und Worten. Herr im Himmel! Schick ‘ne Kuh vom Himmel, damit sie ihn reinstecken können. Mein Tischnachbar, ein liebesverlorener Hurenbock. Wir trinken Wodka mit Maracuja. Das Wasser perlt hinab. Die Wellen brechen.

Zwei Monate bin ich hier, in Südamerika. Vieles Erlebte scheint weit weg, fast wie Ahnungen an Träume, schemenhaft wie Kindertage, die erste Liebe, dunkel wie der erste Schmerz, die erste Schlägerei, abstrakt, unverständlich wie die erste Verzweiflung. Die reichlichen Momenten suggerieren schneller zu altern, da ich unablässig mit bisherigen Erfahrungen von Zeit vergleiche: Wie viele Wochen, Monate oder Jahre hätte es in der gewohntem Umgebung gebraucht, um die Erinnerungen so mannigfaltig und dicht zu gestalten? Und doch, Reisen hält jung! Ich habe Menschen in dem Alter meiner Eltern gesehen, und ihre Augen waren lebendiger, strahlender, als die mancher meiner Freunde. Der Valeur ihrer Geschichten ähnelte dem, neugieriger, in Worten sich überschlagender, Kinder. Und sie waren von seltener Genügsamkeit, Bescheidenheit, Glück – fern ab von all dem, was viele von uns, von sich selbst abbringt. Das Leben ist voll von Geschichten, Wundern, Philosophien, Anschauungen, Wegen, Möglichkeiten, Heimat – ist es in diesem Zusammenhang nicht erstaunlich, dass dieses Wort keinen Plural hat? Gleiches gilt für das Wort Credo … Mein Tischnachbar ist längst in mich gegangen. Das zweite Glas ist leer, ein fast geschmolzener Eiswürfel liegt noch drinnen.

Trommler haben zu spielen begonnen. Ein glatzköpfige Frau jongliert mit Fackeln. Johlen. Ein Ring aus Menschen beginnt sich um sie zu bilden. Die Kneipen leeren sich. Klatschende Hände. Ich gehe Richtung Strand. Himmel und Pazifik sind schwarz. Nur die schäumenden Wellen verraten das Meer. Eine Perlenschnur aus Cocktail-Ständen – buchstäblich: Reih in Reih, voneinander nicht zu unterscheiden. Oder sind heute einfach kaum Touristen da: Wie verdient man hier Geld? Ich schrecke vier holländische Hühner auf der Stange auf. Sie sitzen an einem dieser mobilen Buden. Nach einigen Sätzen tragen alle nach und nach Lippenstift auf. Das macht die Worte nicht interessanter – vielleicht ist das Alter der Grund ihrer Koketterie. Wir landen schließlich in einer Disco, wo Artisten auftreten. Zunächst spielt eine Percussion-Gruppe, die nach einigen Stücken um ein Didgeridoo ergänzt wird. Ich muss ad hoc an elektronische Musik denken – mit dem Unterschied, dass ich in jenem rauen Klang den Menschen wiederfinde: Sein Atmen, seine das Fell streifenden Hände, sein Stampfen, seine absetzenden Lippen. Das Didgeridoo erinnert mich stellenweise vom Klang her an eine extrem verzerrte Gitarre. Faszinierend, bedenkt man, welches Alter diese Instrumente bereits haben und wie sehr sie moderner Musik ähneln. Anschließend wechseln sich Clowns, Jongleure und Tänzer ab. Einmal sogar werde auch ich auf die Bühne geschleift. Meine quasi nicht vorhandenen Spanischkenntnisse rauben dem Clown aber die Show. Der Rhythmus schlägt sich durch die Poren, erschüttert Mark und Knochen, Gedanken. Weihrauch schwängert den Raum, dringt in Nase und Augen. Die ersten Leute, manche nur mit Hosen bekleidet, beginnen zu tanzen. Ich breite meine Arme aus, wippe barfuß auf warmen Stein. Der Alkohol schwappt in meinem Kopf, schlägt Gedanken an den Schädel, an dem sie in Worte zerbrechen. Bunte Lichter dringen durch die Lider. Dunkle verschwitzte Leiber streifen, drücken, winden sich um mich. Die Melodie ummantelt die Sinne, macht mich taub für die Umwelt. Und ich renne durch einen Tunnel, der im Rhythmus zerbröckelt.

24. Dezember. Kater. In der oberen Ecke meines Fensters klebt ein Fetzen blauem Himmels. Ein älterer Mann – sonnengegerbtes Gesicht, tiefste Falten – sitzt mit weißem Rum und Pepsi auf einem Bordstein. Er pendelt murmelnd hin und her.

Mittags Telefonat mit zu hause. Allen scheint es gut zu gehen. Nur Mutter setzt das Haus mit Geheule unter Wasser.

Das Meer verdunkelt sich. Ich sitze mit Baptiste und Meik auf dem Balkon. Der Rum ist fürchterlich. Aber billig. Auf einer Baustelle haben die Arbeiter ganz oben Platz genommen. Sie schauen aufs Meer. Seeschwalben kreisen über der Bucht. Spatzen durchkreuzen ihre Bahnen. Im Aschenbecher häufen sich Stummel. Ein Eiswagen fährt bimmelnd umher. Meeresrauschen. Vor der Bäckerei parkt ein kleiner Lieferwagen. Sie verladen Gasflaschen. Dann dreht jemand den Zündschlüssel. James Brown krächzt. Zwei Jungs üben Skateboard. Männer, dunkel wie Bitterschokolade flanieren umher. Ein kleiner Junge sitzt in Windeln auf dem Gehsteig.



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