Mit Vierzig fühle ich mich nicht anders. Nur seltsam.

Mit Vierzig fühle ich mich nicht anders. Nur seltsam.

Vierzig - das waren für mich früher alte Leute. Tatsächlich. Es gab zwar auch ein paar coole Erwachsene, die ein wenig lockerer rüberkamen, bei denen man als junge Erwachsene Verständnis und Toleranz spürte... doch im Großen und Ganzen kamen mir die über 30-Jährigen schon langweilig, spießig, bequem und rechthaberisch vor.

Und nun habe ich die magische Zahl erreicht. Vierzig.

Seit drei Tagen bewege ich mich sozusagen auf das Ende meines Lebens zu. Ich erwische mich beim Sinnieren über den Sinn des Lebens und durchforste meine Erinnerungen auf der Reise durch meine Vergangenheit.
Gerade, wenn ich auf sehr junge Menschen treffe, dann merke ich, dass ich aus einer anderen Zeit komme.

Kennst du keine alten Disney-Filme?

Das fragte mich kürzlich eine junge Frau aus meinem entfernteren Bekanntenkreis.
Also ehrlich gesagt, kenne ich wirklich keine. Gut, Arielle die Meerjungfrau habe ich mit fFreunden im Kino geschaut. Da stand das alte Kino noch, es war kurz nach der Wende.

Ihr wisst schon, die Dirty-Dancing-Zeit. Da übten wir nachmittags bei lautstarker Musik den Tanz in der Garage oder auf dem Hof - auf einem Dorf fiel das gleich auf - und brachten unsere Eltern damit zur Verzweiflung.
Selbstverständlich versuchten wir uns auch in Lambada und zogen dementsprechend recht kurze Röcke oder Hosen an. Das war die neue Zeit, ich gerade einmal 12 Jahre alt.

„Scho-ran-dissi-foi"

Wir verstanden kein Wort. egal. Es war eine sehr aufregende Zeit ohne irgendwelche Regeln und Grenzen. Die DDR war so gut wie aufgelöst, sämtliche Sittsamkeiten wurden über Bord geworfen. In der Bravo gab es genug Vorlagen, wie cool Löcher in den Jeanshosen waren und so saugte unsere Generation alles auf, was aus dem unendlich schönen neuen Land kam. Nein, außer Arielle die Meejungfrau kannte ich keine Disney-Filme. Ich schaute später noch König der Löwen mit meinem kleinen Bruder, jedoch das rockte nicht. Danach waren mir Trickfilme zu langweilig.
Wie sollte ich das alles der jungen Frau erklären?
Hätte sie das nur ansatzweise verstanden?
Wir hatten zu der Zeit noch nicht einmal einen Farbfernseher, geschweige denn einen Videorekorder.
Und Kaoma mit Lambada oder die Dirty-Dancing-Musik gab es auf Kassetten. Dazu benötigte ich erst einmal einen Kassettenrecorder, der dann auch nicht lange auf sich warten ließ.
Dann wackelten wir mit dem Hintern und kombinierten diese ganzen Latin-Lover-Tänze.
Wenn wir nicht gerade Baywatch schauten. 😉

Mein großer Bruder war natürlich entsetzt.

Seinen Kassettenrecorder hatte zur Jugendweihe mit 14 geschenkt bekommen und das war etwas ganz Großes. Dafür musste schon einiges an DDR-Mark hingelegt werden. Er mit seinen einundzwanzig Jahren verstand das alles nicht. Plötzlich gab es für die kleine pubertierende Schwester Dinge, die es früher nicht gab. So etwas ist für die Großen immer ungerecht. Bei meinem jüngeren Bruder und mir war der Ubnterschied noch gravierender. Das ist jedoch wie immer einen neuen Artikel wert.
Ich fühlte mich jedenfalls frei und vollkommen ohne Regeln und Grenzen. Ein luftleerer Raum, ohne irgendwelche Werte, so ging es wahrscheinlich sehr vielen Kindern in meinem Alter.
Doch zurück zu den Disney-Filmen: Ich überlege die ganze Zeit, ob ich vielleicht doch welche kenne und es nur vergessen habe.

Mit Vierzig vergisst du wahrscheinlich die ersten Dinge

Ich liebe und hasse den Blick in meine Vergangenheit. Es tut mir vieles wahnsinnig weh, ich habe sehr schmerzliche Erfahrungen. Aber es gibt auch viele Dinge, die ich auf keinen Fall missen will.
Am einschneidendsten war für mich die Wendezeit und alles, was damit zu tun hatte.
Doch ich fühlte auch die unbändige Sehnsucht in mir, andere Menschen, Kulturen, Städte, Länder und Sprachen zu erkunden. Ich wollte einfach raus aus diesem Ost-Wahnsinn, mich hielt wirklich nichts, aber auch gar nichts in dem Dorf, in dem ich einen Teil meiner Kindheit verbracht hatte.
Als Zugezogene habe ich mich dort sehr lange sehr fremd gefühlt.
Zwar hatte ich Freunde gefunden, doch zu DDR-Zeiten musste ich immer vorsichtig sein.

Es fiel mir schwer, jemandem zu vertrauen.

Meine Mutter hat einen katholischen Hintergrund und die gesamte Verwandtschaft mütterlicherseits kommt aus dem Eichsfeld. Eine ganz andere Welt, dieses Eichsfeld.
Dort gingen die Leute ganz offen mit ihrem Glauben um. Sie veranstalteten sogar Prozessionen mit Blümchen streuen in der Kirche und zogen durchs Dorf.
Doch ich musste diese Vorfreude und alle Erlebnisse, wenn ich bei der Oma war, für mich behalten und durfte sie keinem erzählen. Außer unserem Pfarrer einen Ort weiter.
Zu groß war die Angst vor staatlicher Sanktionierung.
Mehr zu meiner inneren Zerrissenheit kannst du auch hier lesen.

Als die Wende kam, wendete ich mich von der Kirche ab, das ist auch ein Phänomen.

Doch ich empfand für mich den Zusammenhalt der Katholiken zu DDR-Zeiten tatsächlich stärker und später war ich als absolute Idealistin darüber enttäuscht, wie die Christen im Alltag leben und wirken.
Wahrscheinlich wird man in der Diaspora (reigiöse Gemeinschaften in der Fremde) auch viel strenger erzogen. Das besagte Eichsfeld war da dann doch lockerer.
Dort unterhielten sich Freundinnen von mir im Bus über Jungs und Beischlaf.
Ich kam mir doppelt veralbert und wahnsinnig altmodisch vor.
Einmal weil Ossis ja eh schon altmodisch zu sein schienen und einmal weil ich wahrsscheinlich als einzige pubertierende Kaholikin im Osten dachte, ich darf nicht öffentlich über „so etwas" reden.
Das gehört sich schließlich nicht. Und dann geht es in einem Bus voller gackernder pubertierender Mädels mitten im katholischen Eichsfeld um nicht Anderes, als Kondome und das erste Mal.

Ja so war das. Und kaum jemand weiss diese Dinge von mir.

Jetzt blogge ich sie hier. Mit Vierzig weiß ich, was ich will und was nicht. Ich weiss, wo ich Nein sagen muss und kann und wo ich zurückstecke.
Ich habe gelernt, Teams zu führen und weiss, was harte Arbeit bedeutet.
Was es außerdem heißt, seine Träume niemals aufzugeben, sondern an sich selbst und seine Stärke zu glauben. Und an seine Fähigkeiten. Egal, was andere sagen.
Die können viel reden.

Mit Vierzig fühle ich mich nicht alt, aber gereift. Gestärkt, geradlinig und wirklich sehr zufrieden.
Nicht eine Erfahrung meines Lebens mag ich missen.
Ihr werdet noch ganz viel über die Erkenntnisse lesen und mich besser kennenlernen. Mich und die vielen Facetten des Lebens - vor allem in der DDR, den neuen Bundesländern und natürlich die meines ganz individuellen Lebenslaufes.

Unsere siebenjährige Tochter sagte kürzlich jedenfalls zu mir: Mama, du bist doch total verrückt. Das finde ich schön.

Ich grüße euch herzlich,

Mit Vierzig fühle ich mich nicht anders. Nur seltsam.

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Astrid

<p>Philanthropische Bloggerin Ü 30 ausm Osten, sozialkritisch, parteiunabhängig, menschlich, lebenslustig, zeitnah. Lebenspartnerschaft mit Mann, Kind, 🐶 und 😺</p>


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