Mit der Bahn zur Sehnsucht

Mit der Bahn zur Sehnsucht

Die Tradition findet auch diesmal kein Ende. Die Deutsche Bahn weigert sich weiterhin der Pünktlichkeit und bestätigt ihr Image auf den langen Strecken der Gleise, die uns Studenten, Schüler, Pendelnde oder Reisende zu unseren Zielen führen soll.

Diesmal ist es jedoch nicht wie bei der Hinfahrt zur Uni-Stadt Heidelberg, da hatte ich das Vergnügen eine zusätzliche Stunde in der Bahn zu verbringen. Nein, die Rückfahrt in die schönste Hafenstadt war mit nur 10 Minuten Verspätung deutlich kürzer. Doch jeder auswärtige Student weiß ganz genau von welchen 10 Minuten die Rede ist. Da zählt jede Minute, die uns vom schmerzlichen Verlangen nach dem Ersehnten trennt. Eigentlich beginnt doch alles mit der Sehnsucht. Sie ist der Anfang, oder doch eher das Ende? Ich befinde mich im Teufelskreis, verschönert:  in einem sich zirkulierenden System.

Mit dem Anfahren des Zuges realisiere ich endlich, dass das erste Semester heil überstanden ist. Gott sei Dank. Die folgenden dämmern derweil in der Ferne. Nun habe ich genug Zeit über Gott, Heidelberg, die Bahn und meine Sehnsucht nachzudenken. Apropos Sehnsucht… Wonach sehnen sich die Studenten in den Semesterferien eigentlich? Was bewegt sie? Aus welchem Grund verbringen sie ein Leben mit Koffer an irgendwelchen Bahnhöfen und immer wieder verspäteten oder gar gestrichenen Zügen?

Über die Offensichtlichkeit ist nicht hinwegzusehen. Es ist nichts Anderes, als die nackte Sehnsucht. Sehnsucht nach… Geborgenheit, Familie, Heimat, Zuneigung, Vertrauen, etc.. Alle Schönheit ist aus Sehnsucht gemacht und wird wieder zu Sehnsucht. Genau wie der Mensch: Er wird aus Erde gemacht und wird wieder zu Erde. Sie ist es, der wir hinterherjagen. Bis zur Sehnsucht. Oder ab der Sehnsucht. Sie wohnt in uns allen, hat ihren gesonderten Platz und verweilt dort bis zum ewigen Frieden. Ab und zu meldet sie sich, vor allem zum Ende des Semesters. Mitten im Prüfungsstress, damit es auch schön dornig und diffizil wird. Diese Spanne küre ich zur Woche von Anfällen der Sehnsucht. Der Zeitpunkt ist für uns so bitter destruktiv und für sich doch so perfekt im Timing. Wie oft merken wir, dass Sehnsucht uns an die wichtigen Dinge im Leben erinnert? An all unsere Banalitäten und Leerläufe, die wir durchleben. Dabei sollten wir die Sehnsucht zu unserem Ziel machen. Nicht die Erfüllung nährt unsere Seele. Es ist einzig und allein die Sehnsucht. Sie verdient, wie alles andere, die Chance den Schmerz abzulegen und nur des Herzens Verlangen zu sein. Am Ende ist ein Mensch alles müde, nur des Herzens Verlangen und der Seele Wanderung nicht, sagte Mevlâna Dschalal ad-Din Rumi. Wie Recht er doch hat. Die unzerstörbare Erinnerung an eine weit zurückliegende Begegnung mit dem Vollkommenen, das ist Sehnsucht. Die Begegnung an eine uranfängliche Geborgenheit im Wahren und Schönen. Sehnsucht ist so unfassbar und doch greifend nah. Manchmal verschwindet sie in ihrem unauslöschlichem Traum und lässt sich aus den Augen, Gedanken und Gefühlen verlieren. Aber dann kommt der Zeitpunkt, an dem sie sich zum kommenden Paradies aufsprudelt. Das sind die Momente der Glückseeligkeit, wenn die Prüfungen doch nicht dazwischen wären oder die Bahnfahrten, die so endlos lang und zeitraubend vorkommen.

Nächster Halt: Hannover. Trotz meiner Antipathie gegenüber der Bahn fährt sie mich immer näher an mein Ziel. Ich versuche meine Gedanken zu fassen und einzuordnen. Sehnsucht. Ich spüre sie. Ganz sanft streichelt sie mir übers Herz. Es ist wie eine frische Brise, die leicht über das Gesicht hinwegweht und das Eintreffen der kommenden Jahreszeit ankündigt. Ob ich mit meinem Koffer am Hamburger Hauptbahnhof die Sehnsucht schnappen kann? Ich hoffe nicht! Wie soll denn andernfalls meine Rückfahrt aussehen? In Banalität und Leerlauf? Nein, ich möchte meiner Sehnsucht folgen. Sie soll mein Schatten sein, über den ich nicht springen kann. An einigen Tagen soll sie mich verfolgen und an anderen ich sie. So wie jetzt. Wenn ich meine Hand nach ihr ausstrecken würde, würde sie verschwinden, das weiß ich. Ich tue es nicht. Mit Absicht, um ihr weiterhin folgen zu können.

Die letzten fünf Stunden und sechsundvierzig Minuten sind in einwandfreie Gedanken verschmolzen, wobei die zusätzlichen zehn Minuten keinen Stützpunkt in meiner Fantasie finden und somit die verspätete Bahn verraten. Aber was sind denn schon zählige zehn Minuten im Vergleich zu lebenslanger Sehnsucht? Zweifellos dasselbe, denn Endstation ist immer Sehnsucht.


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