Mit dem Papst einer Meinung sein

Als der Stellvertreter Jesu Christi die Abgeordneten des Bundestages in süße Träume wiegte, sprach er auch davon, dass das Mehrheitsprinzip, das in der Demokratie einen "Großteil der rechtlich zu regelnden Materien" ausmacht, nicht immer Anwendung finden könne. Handelt es sich nämlich um Kriterien wie die "Würde des Menschen und der Menschheit", reicht das Mehrheitsprinzip nicht mehr aus. Das sei aber, so schob er pflichtschuldig nach, als wollte er den Abgeordneten damit philosophische Weisheit beglaubigen, offenkundig. Ob er sich da mal nicht täuscht?

Im Kapital "Mehrheiten", das sich in meinem Buch "Auf die faule Haut" findet, bringe ich zur Sprache, dass das Majoritätsprinzip oftmals kritisch ist. Ich verweise auf die Agenda 2010, die wesentliche Aspekte der menschlichen Würde beinhaltete, neu interpretierte oder schlicht verleugnete und die, hätte man sie zur freien Abstimmung überstellt, eine Mehrheit gefunMit dem Papst einer Meinung seinden hätte. Zu Zeiten, da Schröder eine Aufbruchstimmung erzeugte mit seinen großmäulig angesetzten Reformen, hätte die Agenda ein Fundament in der Bevölkerung gefunden - erst später wurde einer Mehrheit bewusst, dass es sich bei den Segnungen dieses Paketes, nur um eine neoliberale Grundsatzerklärung handelte. Was würde ferner geschehen, wenn in Zeiten, da xenophobe Aufwiegler den öffentlichen Diskurs diktieren, in die Runde gefragt würde, ob man denn aus Deutschland ausweisen solle oder nicht? Kriterien, die die menschliche Würde belangen, so konnte man ebendort lesen, seien nicht die Kompetenz der Masse. Schon gar nicht, wenn sie von den Medien im Denken und Fühlen angeleitet würden. Bereits vormals, in dem Text "Charmante Geste", der in meinem Buch "Unzugehörig" nachzublättern ist, führe ich jene Gedanken, die der Papst im Bundestag einwarf, auf konkretere Bahnen. Eine Gesellschaft, die sich den absoluten Mehrheitswillen unterwerfen würde, müsste sich zuerst von den publizistischen Rattenfängern befreien, um wirklich frei und unabhängig zu einer eigenen Meinung zu gelangen - tut sie es nicht, endet das in einem Fiasko.

Das Thema selbst soll jetzt nicht vertieft werden. Dazu schrieb ich bereits ausführlich, nachzulesen in besagten Büchern. Irritierend ist vielmehr, dass die Worte des Papstes Applaus ernteten. Dass er am Mehrheitsprinzip nestelt, es für per se nicht praktikabel hält in bestimmten Nischen, verbucht man unter Weisheit. Eine intellektuelle, bücherwürmige Weisheit vielleicht, aber deswegen doch nicht falsch, dennoch bedenkenswert. Es ist ja nicht so, dass Ratzinger alleine mit seinen Fingern in diesem allzu optimistischen Ansatz der Demokratie stierte, wie ich eben belegte. Spricht es allerdings er an, so schenkt man ihm Beifall, stilisiert es zum hohen Wort - das adelt auch alle anderen, die am Mehrheitsprinzip frevelten. Sagt es ein linker Publizist, so tut man es als weltferne Spinnerei ab - sagt es der oberste Katholik, so bescheinigt man, dass es abstrakt ist, aber doch unbedingt notwendig war, dass es endlich jemand ausspricht.

Es gibt mehrere Kisten voller Kritikpunkte, die man dem obersten Hirten der katholischen Kirche vor die Füße kippen kann. Aber in der Frage der Mehrheiten, die man manchmal für eine Art Heiligtum hält, muß man ihm beipflichten. Das kommt selten genug vor, dass man mit dem Papst einer Meinung sein kann. Wo wir aber schon wieder auseinandergehen, das ist die Diagnose. Er hält es für offenkundig, dass Mehrheiten nicht überall Anwendung finden können - er sagte das so, als wüssten die Abgeordneten das ganz genau. Die aber versuchen jede Reform, jede Kürzung, jeden Sozialabbau mit dem Rückhalt in der Wählerschaft, mit einer wirklichen oder erschwindelten Mehrheit also, zu rechtfertigen. Offenkundig ist denen also gar nichts! Und dass die Menschen- und Menschheitswürde nicht deshalb dem Mehrheitswillen zu entziehen sind, weil darin etwa ein Gott atme, halte ich wiederum für offenkundig. Es braucht keinen Gott, um die Menschenwürde für heilig zu erachten.


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