Minus vierzig, minus dreißig. Und irgendwo dazwischen.

In dieser Temperaturspanne bewegt sich momentan das Leben in Irkutsk. Es hastet, um es präziser zu beschreiben. Es eilt von einem warmen und wärmenden Punkt zum nächsten. Die Schritte sind schneller als gewohnt, der Kopf geneigter, Mütze und Kapuze tiefer.

Es ist ein eigenartiges Gefühl. Verlässt man die Wärme, ist es, als liefe man gegen eine eiskalte Wand. Sie kriecht, die Kälte. Langsam, aber beständig bahnt sie sich ihren Weg durch unzählige Lagen an Kleidung. Und kommt schließlich auf der nackten Haut an. Die Finger werden klamm, die Oberschenkel taub, das Gesicht brennt. Es hat einen masochistischen Beigeschmack, sich dem auszusetzen. Doch es gefällt.

Die Uferpromede der Angara, der Gagarin-Boulevard, ist leer. Keine Menschenseele begegnet mir. Die Schöne lässt bei unter -30 Grad ihren Wasserdampf hunderte Meter weit in den stahlblauen Himmel steigen. Sie teilt die Stadt in zwei Hälften, getrennt durch eine breite weiß-graue Nebelwand. Selbst die Sonne kommt nicht dagegen an. Ich bewege mich in diffusem, fahlem Licht, ab und an jagt ein Nebelfetzen an mir vorbei. Der Wasserdampf, er legt sich über alles. Die Bäume, Häuser, Kirchen und Statuen sind weiß, bedeckt von einer dicken Schicht an Raureif.

Auch die Wartenden an den Bushaltestellen stoßen lange weiße Fahnen aus. Sie stieren auf die Straße, gegen die Fahrtrichtung. Unablässig kommen Busse, marschrutki und Straßenbahnen an und fahren wieder ab. Eisblumen zieren die Fenster an den Seiten. Der Wind schneidet mir ins Gesicht. Wie alle anderen halte ich mir die rechte Hand schützend vor Mund und Nase und gehe zügig weiter.

„Junger Mann!“, vernehme ich von der Seite. Ich drehe mich um und sehe einen älteren Herren, der, die Autotür geöffnet, auf mich deutet und mir zuruft: „Ihre Nasenspitze ist ganz weiß. Bewegen Sie sich schleunigst ins Warme!“ Ich, perplex ob der Situation, befühle meine Nase. Ich spüre nichts. „Vielen Dank, sehr freundlich!“, schreie ich zurück und ziehe mir augenblicklich meinen Schal bis auf Augenhöhe.

Einige Zeit später sitze ich in der marschrutka und fahre über die Alte Brücke durch die Nebelschwaden der Angara nach Hause. „Es ist schon ein wenig kalt heute, stimmt’s“, ruft eine betagte Dame neben mir dem Fahrer zu. „Stimmt“, antwortet er. „Aber so soll es doch sein“, fährt sie mit einem Lächeln im rot glühenden Gesicht fort, „es ist doch Winter.“ Der Fahrer nickt. „Heute Morgen habe ich 20 Minuten auf die marschrutka gewartet. Bei minus 37 Grad!“, führt sie den einseitigen Dialog fort. „Aber wissen Sie, so schlimm war es gar nicht!“ Wieder nickt der Fahrer. „Die Moskauer, ja, die Moskauer, die sollte man alle einmal nach Sibirien verpflanzen!“ Ihre Gesichtszüge wurden resoluter. „Uuuuuh, heute hat es minus 20 Grad! Schrecklich! Ein Albtraum!“, äfft sie und legt mit passender Mimik und Gestik noch einen Scheit nach. Die marschrutka lacht. Und ich drücke dem Fahrer zwölf Rubel in die Hand, steige aus und atme nach einem Lacher die frostige Luft ein.


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