Mein Wahlaufruf: Wer schweigt, stimmt zu!

Am Sonntag sind wieder einmal Bundestagswahlen. Eine Freundin sagte mir, sie wisse gar nicht, wen sie wählen solle. Eine Verwandte erklärte, sie werde die AFD wählen, weil diese sich von der CDU abgespalten habe und man der Kanzlerin damit schaden könne. Ein anderer Freund nutzte den Wahl-o-maten als Entscheidungshilfe und war vollkommen schockiert, als er die meisten Übereinstimmungen mit der NPD hatte. Auf Twitter behaupten unglaublich viele Menschen, die Wahl sei ohnehin nur eine Farce, und wer wählen gehe, unterwerfe sich auch noch dem Spiel von Politik und Wirtschaft, mit dem sie uns zum Affen machen wollten. Und viele Resignierte schließlich meinen, dass die Wahl ohnehin nichts ändere und nur eine Zeitverschwendung sei. Für mich aber gilt immer noch der alte Satz: “Wer schweigt, stimmt zu.”

Die Wahl ist, so sagte es ZDF-Redakteur Theo Koll vor ein paar Tagen, das Hochamt der Demokratie. Sie ist der Moment, in dem die Bürger theoretisch den größten Einfluss haben. Hier entscheiden sie über den Kurs der Politik für die nächsten 4 Jahre. Doch für viele ist das nur noch graue Theorie. Sie haben längst erkannt, dass ein Wechsel von der CDU zur SPD für ihre persönliche Lebenswirklichkeit nicht viel bringt. Die SPD war es schließlich, die die Hedgefonds ins Land holte und die sogenannte Agenda 2010 durchsetzte, eine Maßnahme, die man eher einer CDU-FDP-Regierrung zugetraut hätte. Außerdem wird man von allen Regierungen bespitzelt und belogen, und alle Parteien sinnen nur auf Machtgewinn und Machterhalt und beugen sich dem Diktat der Wirtschaft, heißt es.

Aber ist das wirklich so?

Deutschland ist ein Land, in dem es fast so viele Meinungen gibt wie Einwohner. 28 Parteien nehmen an den Wahlen zum deutschen Bundestag teil. 23 davon waren noch nie im Parlament, stellten noch nie eine Regierung und haben sich nicht an Entscheidungen beteiligt, die den Bürgern so bitter aufstoßen. Wir beschränken uns im Geiste, wenn wir unser Augenmerk nur auf die 4 Parteien richten, die seit je her die Regierrungen im Bund stellen. Und wir legen unsere Macht als Bürger freiwillig aus der Hand, wenn wir über Alternativen gar nicht erst nachdenken.

Der Kandidat der Linkspartei in Marburg berichtete von einem schockierenden Vorfall: Auf einer Veranstaltung hatte er lautstark die Parole verkündet: “Weg mit Hartz IV!” Daraufhin fragte ihn ein erboster Bürger: “Und wovon sollen wir leben, wenn ihr uns auch noch die letzte Existenzgrundlage entzieht?” Ihm kam gar nicht in den Sinn, dass die Linke sich gegen das Sanktionsregime und für *mehr* existenzsicherndes Grundeinkommen einsetzen könnte. Er begriff nicht, dass es auch andere Meinungen gibt, dass sich auch Menschen für die Belange der gesellschaftlich Schwachen einsetzen. Längst nicht jeder folgt dem Spruch von Franz Müntefering, der vor 9 Jahren sagte: “Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.”

Wenn man sich von der geistigen Blockade befreit, gibt es plötzlich auch bei der Bundestagswahl viel mehr Entscheidungsmöglichkeiten. Das bedeutet allerdings auch mehr Verantwortung. Es reicht nicht, aus Wut die Schuld bei den Ausländern zu suchen und die traditionelle Familie zu beschwören, dann landet man bei der verfassungsfeindlichen NPD. Auch ist es nicht genug, den Euro für alle Übel dieser Welt verantwortlich zu machen und der Regierung unbedingt eins ausswischen zu wollen, dann landet man bei der ebenfalls rechts angesiedelten AFD, die allerdings durchaus bereit wäre, mit der CDU, aus der sie kam, zu koalieren.

Um der Demokratie, wie wir sie wollen, zur vollen Geltung zu verhelfen, sollte man sich die Zeit nehmen, sich mit den Zielen der unterschiedlichen Parteien tatsächlich auseinander zu setzen. Wenn man sich dabei von der Frage leiten lässt, wie eine bessere Gesellschaft aussehen soll, und nicht von der Frage, wer Schuld an der heutigen Misere hat, kann man durchaus eine wählbare Alternative finden. Ein gutes Hilfsmittel hierrbei ist der Wahl-o-mat der Bundeszentrale für politische Bildung. Man kann zu 38 Thesen Stellung nehmen, Parteien auswählen, über deren Nähe zur eigenen Meinung man sich informieren will, und die Thesen begrenzt gewichten. Der Wahl-o-mat nimmt einem die Wahlentscheidung nicht ab, aber wenn man ihn sachlich benutzt, kann er eine wertvolle Hilfe sein.

Beispiel Piratenpartei: Viele Menschen haben sich von den Piraten wieder abgewandt, weil die inneren Auseinandersetzungen und die langen Entscheidungswege sie abgeschreckt haben. Darum kennen sie das Wahlprogramm der Piraten nicht mehr. Über den Wahl-o-maten könnten sie erfahren, dass sie den programmatischen Aussagen der jungen Partei in Wahrheit vielleicht recht nahe stehen. Und sollte man eine Partei nicht wegen ihres Programms wählen? Ein durchaus langwieriger, schwieriger und kontroverser Entscheidungsprozess ist doch gerade das Wesen von Demokratie. Geschlossenheit von Anfang an führt zum Diktat von oben. Wir sollten endlich die Angst vor politischen Auseinandersetzungen und Entscheidungsfindungen verlieren.

Der Grund aber, warum am Ende meistens doch alles so bleibt, wie es ist, sind wir selbst. Wir trauen uns nicht. Nicht unserem persönlichen Empfinden, nicht unserem Sachverstand. Tausende und abertausende, in diesem Jahr vermutlich rund 10 Millionen Menschen, nehmen den Wahl-o-maten in Anspruch, um dann am Ende in der Wahlkabine doch kurz entschlossen ihr Kreuz bei der CDU, der FDP, der SPD oder den Grünen zu machen. Da weiß man scheinbar, was man hat und fühlt sich doch irgendwie sicherer. Aber Demokratie ist ein Wagnis. Unsere Macht liegt im Wechsel, nicht in der Erstarrung. Wir sind es selbst, die immer und immer wieder dieselben Ergebnisse produzieren, die es nicht schaffen, die korrupten politischen Eliten abzulösen. Dabei hätten wir die Möglichkeiten durchaus. Noch werden sie uns bereit gehalten, noch sind wir in der Lage, etwas für eine bessere Zukunft zu tun. Wir müssen nur aufhören, in den bisherigen, eingefahrenen Bahnen zu denken. Ich weiß selbst, wie schwer das ist, meine Familie kam aus der SPD, und auch ich habe ihr lange über den Moment hinaus die Treue gehalten, zu dem das Programm der Partei dies gerechtfertigt hätte. Die Ohnmacht aber, die wir fühlen, die besteht in unseren Köpfen.

Darum bitte ich Sie alle: Gehen Sie am 22. September wählen. Wer nicht wählen geht, verwirft seine Einflussmöglichkeiten. Nichtwähler sind egal, sie verändern kein Wahlergebnis, sie haben keine Lobby. Sie verlieren sogar das moralische Recht, sich über das Wahlergebnis zu beschweren. “Wer hat gewollt, dass du nach der Weise entmündigter Greise nur heimlich und leise das Unrecht verfluchst”, fragt sich die niederländische Band Bots und fährt fort: “Denn schweigst du nur immer, wird alles noch schlimmer. Siehst nie einen Schimmer vom Recht, das du suchst.” Nichtwähler verzichten freiwillig auf ihre Rechte, oder wie Bots es ausdrücken: “Denn für den, der nichts tut, der nur schweigt so wie du, kann die Welt wie sie ist auch so bleiben.” Und ihr Aufruf zu mehr Engagement endet mit den Worten, die auch ich Ihnen gern ins Gedächtnis rufen möchte: “Wer schweigt, stimmt zu!”

Hier geht’s zum Wahl-o-maten!

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