Mein Wahlaufruf für die Bundestagswahl

Für den Ohrfunk habe ich heute folgenden Wahlaufruf veröffentlicht.

Am Sonntag sind wieder einmal Bundestagswahlen. Seit Wochen und Monaten können wir uns die mehr oder weniger inhaltslosen Plakate und Werbespots vieler Parteien ansehen. Eigentlich könnten wir uns auch Wahlprogramme durchlesen, doch der Durchschnittswähler macht sich die Mühe nicht. Für ihn sind die meisten Parteien, die heute im Bundestag sind, ununterscheidbar geworden. Viele haben das Gefühl, dass die Politiker in ihrem ganz persönlichen Leben ohnehin keine Rolle mehr spielen, und verzichten ganz auf den Wahlakt.

Doch ich möchte Ihnen allen dringend ans Herz legen, von ihrem Wahlrecht gebrauch zu machen. Die Wahl ist das sogenannte Hochamt der Demokratie, sie ist der Augenblick, in dem wir Bürgerinnen und Bürger tatsächlich unmittelbar und für jeden Sichtbar ausdrücken können, wie wir die Arbeit der letzten 4 Jahre bewerten. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, wer nun tatsächlich eine Mehrheit erhält oder sich total von allen Anderen unterscheidet. Durch die Wahl zeigen wir Interesse daran, dass das System funktioniert. Und abgesehen von einigen Dingen, die auf der Hand liegen, und die wir auch gern kritisieren können, funktioniert das System: Der Müll wird abgeholt, in der Regel wird der Lohn oder die staatliche Ersatzleistung pünktlich bezahlt, vor Gericht kann man Recht bekommen, die Preise sind für die meisten bezahlbar, wir haben Strom, Wasser, Heizung und in der Regel ein Dach über dem Kopf. Telefonverbindungen funktionieren, die Post wird zugestellt, Bahn und öffentlicher Nahverkehr arbeiten. Im Großen und Ganzen funktioniert das System.

Doch wenn wir kein Interesse mehr daran haben, dann verschachern sie die Autobahnen an Geldhaie, kümmern sie sich nicht mehr um Schulen, geben sie die Mieten frei, privatisieren sie das Wasser. Wenn wir kein Interesse mehr an dem System haben, keine Vorstellung mehr davon, wie wir es haben wollen, dann verrottet es wie ein schlecht gepflegter Spielplatz oder eine nicht gewartete Straße. Bei einer Wahl können wir das Steuer nicht herumreißen, sondern wir können ganz langsam einen neuen Kurs einschlagen, zum Beispiel einen Kurs, der dazu führt, dass man zumindest versucht, die Klimakatastrophe beherrschbar zu halten.

Doch dazu ist es notwendig, dass wir selbst mit anpacken. Wahlen sind hier nur ein erster Schritt, sie zeigen lediglich an, dass wir das Geschehen beobachten, dass wir es zur Kenntnis nehmen, dass wir aufmerksam sind und die Absicht haben, diesem Geschehen eine Richtung zu geben, dass wir teilnehmen an der Welt. Die eigentliche Arbeit wartet nach der Wahl auf uns, und zwar innerhalb von Parteien, in Bürgerinitiativen, Verbänden und Vereinen, auf Demonstrationen, bei Anhörungen, Petitionen und Protesten. Dort müssen wir zeigen, dass wir nicht locker lassen, dass uns das Leben des Nachbarn nicht egal ist, und auch nicht das Leben der kommenden Generationen. Doch es beginnt mit zwei Kreuzen auf dem Wahlzettel.

Und ich möchte persönlich noch einen weiteren Grund nennen, warum ich wählen gehen werde: Seit 65 Jahren, seit die sogenannte sozialistische Reichspartei verboten wurde, gibt es im deutschen Bundestag keine nationalsozialistische Partei mehr. Wir wussten und wissen alle, dass in Zeiten wirtschaftlicher Not die Nazis erstarkten, und dass sie uns zuerst mit verbalem Hass, mit Ausgrenzung, mit Lügen, und dann mit einem Krieg und einer beispiellosen Mordmaschine in den Untergang stürzten. Auch damals hatten sich viele von der Demokratie abgewandt und so den Nazis den Weg frei gemacht. Ich gehe am Sonntag auch deshalb zur Wahl, damit der eindrucksvolle Rekord dieser 65 Jahre verlängert wird. Die Medien und die Umfragen behaupten schon jetzt, dass ich keinen Erfolg haben werde, aber das ist erst in zweiter Linie wichtig. Ich habe meine Meinung gesagt, ich bin gegangen, niemand kann mir später vorwerfen, geschwiegen zu haben, als wieder Menschen beschimpft und verhöhnt wurden, als wieder Hass gesät wurde. Ich mag verlieren, das ist Teil des demokratischen Prozesses, aber ich habe es wenigstens versucht. Und wenn viele so denken, dann verlieren wir auch nicht. Steigern wir den Rekord: Machen wir aus 65 Jahren 69 Jahre ohne Nazis im Bundestag.

Bitte, gehen Sie wählen, es kostet nicht viel, aber es nützt ungemein. Sie werden die Macht fühlen, einfach nur, weil Sie es getan haben. Sie haben das Ruder nicht herumgerissen, aber mit an den Schrauben der Zukunft gedreht. Es kostet Sie nur einen Gang zu Ihrem Wahllokal und zwei Kreuze. Zwei Kreuze übrigens, für die viele viele Menschen auf der Welt ihr Leben geben würden, um sie ihren Völkern zu ermöglichen. Schmeißen Sie dieses kostbare Gut nicht weg und gehen Sie wählen.

Vielen herzlichen Dank.

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