Mein tapferes Mädchen

Mein tapferes Mädchen

Bild copyright by Thommy Weiss / pixelio.de

Der Montag, an dem Bianca ins Krankenhaus musste, war gekommen. Zuerst brachte ich Marco in die KiTa, dann fuhr ich mit Bianca ins Ölgäle, so nennen wir Stuttgarter liebevoll unser Kinderkrankenhaus.
Dort erfolgte die stationäre Aufnahme mit einer allgemeinen Untersuchung und einer Blutabnahme, die meine kleine Tochter tapfer über sich ergehen ließ, ohne zu klagen.
Dann wurde sie auf die Neurologie auf ihr Zimmer gebracht. Es war ein 4-Bett-Zimmer. 2 Betten waren bereits belegt.
An dieser Stelle möchte ich meinen Respekt für die Menschen zum Ausdruck bringen, die in einem Krankenhaus arbeiten, ganz besonders jedoch für die Menschen, die mit kranken Kindern arbeiten.
Auf einer Kinder-Neurologie sieht man schlimme Schicksale, die die kleinen Patienten mit einer Bravour ertragen, die bewunderungswürdig ist. Nicht jeder Mensch ist dafür geschaffen, mit diesem Leid tagtäglich umzugehen, umso mehr ziehe ich meinen Hut vor den Ärzten und dem Pflegepersonal. Es ist eine besondere Leistung, die diese Menschen erbringen. Das Leid dieser Kinder wäre ohne sie noch viel größer. Sie haben unseren Respekt und unsere Dankbarkeit mehr als verdient.
Auf Biancas Zimmer lagen bereits zwei Mädchen im Alter von 6 und 7 Jahren. Das eine Mädchen hatte während der Geburt zuwenig Sauerstoff bekommen und war nun ein absoluter Pflegefall. Sie konnte nicht sprechen, sich nicht bewegen, nicht sitzen. Sie konnte nicht alleine essen, nicht auf Toilette gehen. Sie lag einfach nur da und gab ab und zu Laute von sich. Es ging ihr nicht gut, sie hatte eine starke Bronchitis und das Abhusten des Schleimes war ihr unmöglich. Bei jedem Atemzug rasselte es in ihrer Brust und auf ihre Art jammerte sie sehr, wenn das Pflegepersonal den Schleim absaugte. Sie wurde mit einer Magensonde durch die Nase ernährt. Auch das gefiel ihr nicht und die klagenden Laute, die sie von sich gab, wenn man ihr über die Sonde püriertes Essen verabreichte, werde ich wohl nie vergessen.
Ununterbrochen saßen die Eltern abwechselnd an ihrem Bett. Einerseits taten mir die Eltern so sehr leid, andererseits berührte mich die Liebe sehr, die sie ihrer Tochter entgegenbrachten und die man spürte, wenn man sah, wie liebevoll sie mit ihrer schwerkranken Tochter umgingen. Unweigerlich fragte ich mich, woher diese Eltern die Kraft nahmen, mit diesem Schicksal umzugehen. Die Mutter erzählte mir, dass es der größte Schock ihres Lebens war, als sie nach der Geburt ihrer Tochter erfuhr, dass der Sauerstoffmangel während der Geburt zu einer Hirnschädigung geführt hatte und keiner ihr sagen konnte, wie ihre Tochter sich entwickeln würde und was sie für ein Leben haben würden. Doch dann siegte die tiefe Liebe zu ihrer Tochter. Sie kämpften um jeden noch so kleinen Fortschritt, den die Kleine machte, freuten sich über jede Regung ihrer Tochter die zeigte, dass sie sehr wohl wahrnahm, was um sie herum passierte, auch wenn sie nicht aktiv daran teilnehmen konnte. Jedes kleine Lächeln, jedes zärtliche Gurren der Kleinen war die Belohnung für die unglaubliche Geduld, Kraft, Ausdauer und Liebe, die diese bewundernswerten Eltern tagtäglich an den Tag legten. Und genau diese kleinen Momente waren der Tank, aus dem die Eltern ihre Kraft schöpften.
Im Bett daneben lag ein 6-jähriges Mädchen, dessen Schädel kahl rasiert war und man sah deutlich die Spuren einer OP. Sie war ein fröhliches Mädchen, immer zu Späßen aufgelegt. Ihre Sprache war nicht deutlich, sondern verschwommen und ihre Bewegungen mit Armen und Beinen waren spastisch. Auch konnte sie ihren Kopf nicht richtig halten, er rutschte ihr immer wieder auf den Brustkorb. Dann hob sie ihn wieder mit großer Anstrengung an. Die Anstrengung war ihr deutlich anzusehen.
Ihre Mutter erzählte mir, dass ihre Tochter bis vor ein paar Wochen ein ganz normales Mädchen gewesen war, das die erste Klasse einer Grundschule besuchte. Eines Tages ging sie wie gewöhnlich zur Schule. Etwas später bekam die Mutter einen Anruf, dass ihre Tochter in der Schule ohnmächtig zusammengebrochen wäre und man sie direkt ins Olgäle gebracht hätte. Man kann sich vorstellen, in welcher Panik die Mutter sofort ins Krankenhaus zu ihrer Tochter gefahren war. Dort erfuhr sie, dass die Kleine eine Gehirnblutung hatte und bereits im OP operiert wurde. Es waren die schrecklichsten Stunden im Leben dieser Mutter, als sie im Wartebereich bangte und hoffte, dass ihre 6-jährige Tochter diese gefährliche OP gut überstehen würde.
Das Mädchen überlebte und die Prognosen standen gut.
Doch wenige Tage danach entstand eine neue Gehirnblutung und sie musste nochmals operiert werden. Von dieser zweiten Gehirnblutung rührten die neurologischen Ausfälle und das Sprachzentrum war ebenfalls betroffen, daher die verschwommene Sprache. Außerdem war ihr Kurzzeitgedächtnis sehr in Mitleidenschaft gezogen worden.
Auch bei diesem Schicksal sah ich staunend, wie stark die Eltern waren und wie stark auch das kleine Mädchen war. Täglich machte sie ihre Bewegungs- und Sprachübungen mit den Therapeuten ohne zu murren. Und immer verbreitete sie Spaß dabei, immer lachte sie. Sie war so voller Lebensfreude, das steckte richtig an.
Einmal aßen sie und Bianca gemeinsam am Tisch zu Mittag. Plötzlich fiel ihr der Kopf mitten in den Teller mit Kartoffelpüree und Erbsen.  Erschrocken saßen Bianca und ich da und reagierten erst gar nicht. Auch die Mutter reagierte nicht. Sie wartete ganz gezielt ab, wie sich ihre Tochter aus dieser misslichen Situation befreien würde. Die hob mit großer Anstrengung den Kopf... und lachte lauthals. Sie lachte und lachte und sagte:"Ich sehe bestimmt total lustig aus mit dem Kartoffelpüree im Gesicht!" Da mussten auch wir mitlachen, wir lachten Tränen. So selbstverständlich ging die Kleine mit ihrem Schicksal um, sie konnte sogar darüber lachen.
Mit ihren 6 Jahren hatte uns dieses Mädchen vorgelebt, wie man das Beste aus einer Situation macht, auch wenn sie noch so schwer ist. Was für ein tolles Kind!
Auch wenn dieser Krankenhausaufenthalt für Bianca belastend und erschütternd war, so hatte er auch etwas Gutes. Sie hatte intensiven Kontakt mit behinderten Kindern und ging mit ihnen ganz automatisch mit der Selbstverständlichkeit um, die sich alle Eltern behinderter Kinder von ihren Mitmenschen wünschen und die sie sich bis heute bewahrt hat.
Im Vergleich zu diesen Schicksalen war Biancas Erkrankung weitaus weniger schwerwiegend. Trotzdem sorgte ich mich sehr um sie. Jeden Tag wurde sie mit einem Taxi in die Augenklinik gefahren. Dort wurde ihr erkranktes Auge untersucht und der Verlauf der Krankheit beobachtet. Die Ärzte wussten nicht, an was Bianca erkrankt war. Man machte eine Computertomografie, weil man einen Tumor ausschließen wollte. Und die Ärzte untersuchten ihr Nervenwasser, das man mit einer Liquorpunktion am Rücken gewann. Dies war ein sehr schmerzhafter Eingriff, bei dem ich nicht dabei sein durfte, da musste mein tapferes Mädchen ganz alleine durch. Auch Bianca war ein starkes Mädchen. Sie hatte zwar Tränen in den Augen, als ich sie nach der Untersuchung wieder bei mir  hatte und sie flüsterte:"Mama, das hat so weh getan!", aber sie beklagte sich nicht weiter und war einfach nur froh, dass sie es hinter sich hatte.
Diese Untersuchung wurde gemacht, weil der Verdacht auf Multiple Sklerose bestand. Diese Krankheit kündigt sich oft durch eine Sehnervenentzündung an. Allerdings sprach bei Bianca dagegen, dass sie noch keine 12 Jahre alt war. Normalerweise macht sich diese Krankheit frühestens ab dem 12. Lebensjahr bemerkbar.
Ein möglicher Tumor, Multiple Sklerose... diese möglichen Ursachen machten mich wahnsinnig. Ich litt sehr mit meiner kleinen Tochter mit.
Auch konnte ich nachts nicht bei ihr bleiben,da war ja noch Marco, der mich auch brauchte. Also verabschiedete ich mich jeden Nachmittag schweren Herzens von ihr. Sie begleitete mich immer bis zum Fahrstuhl und verabschiedete sich mit Tränen in den Augen von mir. Aber sie beklagte sich nie. Sie wusste, am nächsten Tag war ich wieder bei ihr. Außerdem kamen meine Eltern sie jeden Abend nach Feierabend besuchen. So hatte sie noch etwas Abwechslung und Ablenkung durch ihre Großeltern.
Gott sei Dank konnten ein Tumor und die Multiple Sklerose als Ursache der Sehnervenentzündung ausgeschlossen werden. Nun sagten die Ärzte mir, dass sie eine Viruserkrankung als Ursache vermuteten. Welcher Virus und wie sich Bianca diesen Virus zugezogen haben könnte, das konnten mir die Ärzte nicht sagen. Sie ordneten eine hochdosierte Cortisonbehandlung an, um das Absterben der Zellen des enzündeten Sehnerves zu stoppen. Dies sei die einzige Möglichkeit, den Sehnerv zu retten, sagten sie.
Wer schon mal mit Cortison behandelt wurde, der weiss, was für Nebenwirkungen dieses Medikament haben kann. Mein kleines, hübsches Mädchen veränderte sich optisch schnell. Ihr schönes, langes und volles Haar wurde ganz dünn, glanzlos und strähnig. Ihr Gesicht schwemmte total auf, sie bekam das typische Mondgesicht, das Cortison verursachen kann. Und sie nahm rapide an Gewicht zu. Sie selbst litt unter ihrer Veränderung und war traurig darüber. Aber die Behandlung hatte den gewünschten Erfolg, ihr Sehnerv erholte sich zusehends, die Entzündung verschwand, die Schwellung ging zurück und ihre Sehkraft verbesserte sich tagtäglich. 6 Wochen musste sie das Cortison nehmen, dann wurde es ausgeschlichen. Und mit dem Ausschleichen normalisierte sich auch ihr Aussehen wieder.
10 Tage wurde sie stationär behandelt, die Wochen danach wurde Bianca ambulant betreut. Es folgten noch viele Kontrolluntersuchungen. Aber die nächsten 3 Jahre war sie geheilt. Dann erlitt sie einen Rückfall. Das bedeutete wieder Cortison, wieder unzählige Untersuchungen, diesmal aber nur ambulant. Auch das zweite Mal bekamen die Ärzte die Sehnervenentzündung wieder in den Griff, allerdings blieb diesmal eine Verschlechterung des Sehvermögens zurück. Bis heute ist Biancas Gesichtsfeld eingeschränkt, sie kann links nicht wahrnehmen, was sich neben ihr abspielt, es ist, wie wenn links von ihr immer eine schwarze Wand wäre, so beschreibt sie es selbst. Vermutlich ist das eine Vorstufe des Tunnelblicks, bei dem sich das gesehene Bild ja immer mehr verengt, ganz so, als würde man durch eine Röhre schauen.
Mit 16 Jahren erkrankte ihr linkes Auge ein drittes Mal. Diesmal gingen wir zu einem anderen Augenarzt. Der stellte exakt die gleiche Diagnose, jedoch seine Behandlungsmethode war eine ganz andere. Er sagte zu Bianca:"Selbstverständlich können wir wieder mit hochdosierten Cortisongaben den Sehnerv abschwellen lassen. Aber die Nebenwirkungen sind sehr belastend. Daher schlage ich folgendes vor: Du schonst Deine Augen, wann immer es geht. Das bedeutet, dass du nicht liest, so gut wie nicht fern siehst, immer für genügend Licht sorgst, niemals im Dunkeln oder im Dämmerlicht etwas machst. So oft es geht, die Augen schließt, damit diese sich erholen können. Und Du selbst legst Dich so oft wie möglich hin und ruhst Dich aus. Du kommst alle 2 Tage zur Untersuchung. Wenn ich richtig liege, dann wird die Entzündung zurück gehen. Sollte das wider Erwarten nicht der Fall sein, dann kannst Du immer noch Cortison einnehmen."
Ich war sehr erstaunt über diese sanfte Behandlungsmethode. Sicher, für ein 16-jähriges Mädchen waren die Auflagen eine große Einschränkung, aber Bianca war das tausend Mal lieber als die Nebenwirkungen des Cortisons zu ertragen. Und so folgte sie den Ratschlägen des Augenarztes... und wurde belohnt: nach ungefähr 2 Wochen war die Sehnervenentzündung komplett abgeklungen. Das ist jetzt 14 Jahre her. Seither hat Bianca nie wieder ein Rezidiv bekommen.

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