Martin Burckhardt: Score

Gratzen RadarturmMartin Burckhardts Zukunftsroman “Score” fängt mit einem Paukenschlag an: In der Firma Nollet muss Damian Christie, ein Angestellter, einen anderen Angestellten namens Castoriadis befragen, warum dessen „Score“, also seine gesellschaftliche Wertigkeit, in den letzten Tagen plötzlich so tief gefallen sei. Doch der Mann stiert nur vor sich hin, bittet um ein Glas Wasser, stürzt es hinunter, und wenige Minuten später treten ihm aus den Augen und aus allen Poren Blutstropfen und er sinkt tot zu Boden.

Eigentlich sollte Damian den Vorfall möglichst rasch vergessen, damit keine posttraumatischen Störungen auftreten, befindet die Firma, daher soll er eine Vergessenspille schlucken. Doch Damian, der bisher bedingungslos an die Firma geglaubt hat, beschleichen Zweifel und er nimmt die Pille nicht.

Das Szenario: typische Dystopie

Was ist da los? Nach und nach erfährt der Leser die Situation, in der der Roman spielt: Man schreibt das Jahr 2039, Hauptschauplatz ist Berlin, wo sich die Firma Nollet angesiedelt hat, die mit ihrer Idee, alle Menschen glücklich zu machen, indem man sie dauerhaft in eine Art Computerspiel versetzt, alle jene Teile der Welt beherrscht, die dem „ECO-System“ angehören. Das sind Städte und Gegenden, in denen alles computerisiert läuft und von Nollet gesteuert wird. Der größere Teil der Welt, auch Deutschlands, ist allerdings draußen und heißt „Zone“, dort leben die Menschen in primitiver Anarchie, ohne funktionierendes Rechtssystem und ohne die Annehmlichkeiten der Nollet-Zivilisation. Die Idee, die Welt in zwei diametral entgegengesetzte Lager zu teilen, ist nicht gerade originell, sondern schon fast ein Topos von dystopischen Zukunftsromanen. Gerade habe ich Martin Walkers Roman „Germany 2064“ gelesen, wo das auch so ist.

Damit das ECO-System reibungslos funktioniert, müssen Menschen, die abweichlerische Tendenzen zeigen, entweder kuriert oder ausgeschaltet werden. Dazu ist der Geheimdienst von Nollet da, der alles und jeden vollautomatisch überwacht und gegebenenfalls bestraft. Eine mögliche Strafe ist der Abzug von Gutpunkten vom persönlichen Score der betroffenen Person.

Offiziell gilt das Computerprogramm, das diesen Score reguliert, als absolut sicher, daher vertrauen ihm die Menschen so sehr, dass die Score-Punkte zu einer Art Währung geworden sind. Wenn man von jemandem etwas will oder kauft, sinkt der Score, wenn man zu jemandem nett ist, steigt er wieder. Schon ein begehrlicher Blick auf eine Frau führt, sofern er nicht willkommen ist, zu einer Abbuchung.

Damit das Computerprogramm den Score gerecht vergeben kann, registriert es alles, was die Menschen denken, tun und fühlen. Diese Daten sind in einem ebenso manipulationssicheren „Lifestream“ gespeichert – glaubt man.

Damian, der Mitglied der „Social Design Planning Group“ von Nollet ist, kann von Berufs wegen die Lifestreams anderer Menschen bei Bedarf ansehen.

Eigentlich unmögliche Manipulationen

Als er sich den Lifestream des verstorbenen Castoriadis noch einmal ganz genau durchsieht, entdeckt er, dass dieser manipuliert wurde und nun eine geheime „Botschaft“ eincodiert hat, das Wort „Assassin“. Wenn der Lifestream gehackt ist, ist es auch kein Wunder, dass auch Castoriadis’ Score manipuliert wurde, weshalb er so ins Bodenlose gefallen ist.

Als Damian dies klar wird, kann er es aber der Firma nicht mehr mitteilen, denn er wurde für einige Zeit zur Erholung vom Dienst suspendiert und kann nun nicht mehr ins Büro und hat keinen Datenzugang mehr.

Es entwickelt sich nun nach und nach ein Schreckensszenario rund um Damian: Er wird verfolgt, bedroht, von Nollet-Feinden vereinnahmt und dazu gezwungen, der Firma zu schaden.

Ein weiterer Handlungsstrang dreht sich um das Vorhaben Nollets, die Menschen zumindest virtuell unsterblich zu machen, indem man von ihnen eine Art Avatar erzeugt. Vorgeführt wird das an dem elektronischen „Nachbild“ des Firmengründers Cheng.

Nach dessen Tod ist nun Khan der Chef von Nollet. Er ist ein Alphatyp ersten Ranges: wuchtige Gestalt, unglaubliche Willenskraft, aber auch berserkerhafte Wutausbrüche. Khan steht über dem Gesetz des ECO-Systems, unterhält gute Kontakte zur „Zone“, offenbar in zweierlei Absicht: um dort Leute für dubiose Vorhaben von Nollet rekrutieren zu können und andererseits die Menschen in der „Zone“ nach und nach für das ECO-System zu gewinnen.

Khan ist Damians Gönner und lädt ihn ein, mit ihm in die Zone zu fahren. Damian unterhält außerdem eine nicht allzu innige Liebesbeziehung zu Khans Tochter Justine, die ein labiles, verwöhntes Wesen ist.

Der gemeinsame Aufenthalt in der Zone muss vorzeitig abgebrochen werden, da Khan mit einem Attentat gedroht wird.

Auch ein zweiter, allerdings von dem Nollet-Feind Munro erzwungene Besuch in der Zone endet schlimm: einer der mit Damian hinübergereist seienden Leute wird bei der Rückkehr von einer winzigen Drohne getötet.

Einer einzigen Person in der Firma traut Damian noch zu, dort für Recht und Ordnung sorgen zu können, das ist Carlotta di Broca, die er seit vielen Jahren kennt und der er absolut vertraut. Auch Khan vertraut ihr, was beiden zum Schluss zum Verhängnis wird. (Ich erzähle ausnahmsweise nicht, wie es weitergeht.)

Der redselige Heimroboter

Neben der Haupthandlung gibt es diverse weitere Handlungsstränge und Figuren. Ein nettes Beispiel ist Damians Home-Bot, ein Heimroboter, der als praktische, aber leider redselige Haushaltshilfe fungiert. Und schließlich von einem brutalen Eindringling kaputtgeschlagen wird, weil er den Mund nicht halten kann. Der Kerl schlägt übrigens gleich darauf auch den nach Hause kommenden Damian krankenhausreif, um ihn gefügig zu machen. Als er wieder halbwegs hergestellt ist, bestellt Damian dann einen neuen Homebot, der kurz darauf per Drohne geliefert wird und sich als nützlich, aber viel schweigsamer erweist.

Ehrgeiziger Erstlingsroman

Das Buch ist der ehrgeizige Erstlingsroman seines Autors, der eigentlich Verleger, Audio-Künstler, Essayist, Kulturtheoretiker und Programmierer ist, wie man aus seiner Vita erfährt. Vielleicht ist das der Grund, warum er mit philosophischem Ballast … Pardon: Gedankengut ziemlich überladen ist. Dabei ist der Grundgedanke, auf dem Nollets Geschäftsidee fußt, doch für einen Schiller-Fan attraktiv: „Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt“ (sinngemäß nach Schiller, „Die Erziehung des Menschengeschlechts“). Nollet macht gerade das möglich: Das ganze Leben ist ein Spiel.

Als Medientheoretiker denkt Burckhardt in diesem Roman weiter, was sich an Möglichkeiten der digitalen Welt heute schon abzeichnet. Zu allererst die totale Überwachung, der aber, das ist das Erstaunliche, die Menschen unreflektiert zustimmen, sozusagen unter dem Motto: Warum soll ich Google / Nollet nicht alle meine Daten zeigen, dann bekomme ich wenigstens Werbung bzw. Glücksangebote, die genau zu mir passen? Durch die totale Digitalisierung der Welt spielen sich natürlich auch die Verbrechen zu einem nicht geringen Teil – wenn man vom immer noch gängigen realen Mord mal absieht – im Cyberspace ab. 2039 ist es auch nicht anders als heute und früher: Das Glück ist nicht für alle, sondern nur für wenige, und der Rest der Menschheit muss darben.

Stilistische Eigenheit

Stilistisch hat der Roman eine Eigenheit, die das Lesen ein wenig erschwert: Burckhardt liebt Satzkonstruktionen wie: „Hatten sich diese Stimmen zu Anfang mit Gewalt und Terroranschlägen Gehör verschafft, so waren auch die ärgsten Kritiker weitgehend verstummt.“ (S. 37f) Das ist dank des „so“ noch leicht zu durchschauen. Burckhardt lässt das „so“ aber gern weg: „Fand jemand ein besondere Befriedigung darin, andere Menschen zu unterrichten, durchlief er die entsprechenden Levels und war ab einem bestimmten Grad tatsächlich als Lehrer einsetzbar.“ (S. 38) Oder: „Mochten die Bewegungen des Körpers auch selbstverliebt scheinen, begriff Damian schnell, dass sie allein ihm galten.“ (S. 39) Das sind Satzkonstruktionen, die im Normalfall in dieser Form eher selten, bei Burckhardt jedoch gehäuft auftreten (nicht nur auf den Seiten 37-39, wo ich jetzt willkürlich nach Beispielen gesucht habe und gleich fündig geworden bin).

Abgesehen davon ist Burckhardts Stil aber gut lesbar und lebendig.

Martin Burckhardt: Score. Roman. Knaus-Verlag, München, 2015. 351 Seiten.

Martin Burckhardt äußert sich in seinem Blog in einem Frage- und Antwort-Spiel zum Roman und zu dessen gedanklichen Hintergründen: http://burckhardt.ludicmedia.de/#blog_54b4f381c9c751342e505c32

Bild: Wolfgang Krisai: Überwachungsturm in Tschechien. Aquarell, 2008.


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