Farid, Nachfahre nomadisierender Beduinen in Libyen, hat das Meer nie gesehen. Nie ist er durch seine erfrischenden Wellen getaucht. Doch in seiner Phantasie sieht er es oft vor sich … sternenübersät wie der Mantel eines Paschas. Blau wie die blaue Mauer der toten Stadt. Er hat die versteinerten Muscheln gesucht, die vor Jahrmillionen verschüttet wurden, als das Meer in die Wüste kam. Hat den Eidechsenfischen nachgespürt, die unterm Sand schwimmen. Er hat den Salzsee gesehen und den Bittersee und die silbrigen Dromedare, die sich wie ramponierte Schiffe vorwärtsbewegen. Er wohnt in einer der letzten Sahara-Oasen (S. 7). Als sein Vater von Rebellen getötet wird, fliehen seine Mutter Jamila und Farid mit dem letzten Geld, das sie besitzen, zum Meer. Dort erwartet sie ein Schlepperschiff mit einem GPS, welches sie an die Küste Italiens bringen soll …
Jenseits der Mittelmeerküste lebt Vito, ein italienischer Junge, der gern Kunst studieren möchte. Seine Großmutter Santa war als Kind von Genua nach Libyen gelangt, wo deren Eltern 1938 unter Mussolinis Herrschaft Land und ein gutes Leben angeboten worden war. Auch Großvater Antonio kam als Kind mit dem Schiff von Sizilien nach Tripolis. In ländlichen Gegenden angesiedelt, freundeten ihre Familien sich schnell mit den Arabern und einem Leben in der Wüste an. Sie haben das italienisch-orientalische Leben jenseits des Meeres sehr geliebt. Als 1969 König Idris gestürzt und Gaddafi Präsident wurde, waren die Italiener in Libyen nicht mehr gewünscht und wurden 1970 schließlich vertrieben. Die kleine Familie muss fliehen, zurück über das Meer und in die alte Heimat Sizilien. Vitos Mama Angelina vermisst Tripolis, das Caffè Gambrinus und die Feste im Circolo Italia. Elf Jahre lang war sie eine Araberin gewesen, eine Tripolina, eine aus Tripolitanien. Was soll sie hier in diesem schmutzigen Hafenviertel, wo keiner sie kennt, wo sie keine Freunde hat? Oft schaut sie einfach aufs Meer hinaus –
Nur Wind und Wellen, die wie wütende Bestien an den Felsen hochspringen, sie heben eine Pranke und schäumen, dann ziehen sie sich zurück. Vito mag das Meer bei Sturm. Als kleiner Junge sprang er hinein und ließ sich kräftig ohrfeigen. Seine Mutter Angelina schrie sich die Lunge aus dem Leib. Er sah sie ganz klein, zappelnd wie eine Sarazenenpuppe. Sie und ihr Kleid, das gegen ihre Beine schlug, waren ein Nichts. Das Meer war stärker. Anlauf nehmen, schnell über die Welle springen, wie auf Seife hinabgleiten und sich dann verschlingen lassen, hinunterstoßen in den wütenden Schlund des Abgrunds … das Meer in der Nase, im Bauch (S. 37).
Zwei Jungen auf je einer Seite des Mittelmeers, deren Schicksale völlig verschieden sind, die keine gemeinsame Sprache sprechen. Und doch gibt es etwas, das sie verbindet. Beide vereint ein unstillbarer Hunger nach Freiheit, nach Glück, nach Geborgenheit. Mazzantini erzählt in farbigen und starken Bildern von diesen zwei Jungen, die einem beim Lesen schnell ans Herz wachsen. In ganz knapper Sprache zaubert sie Bilder von großer Schönheit und Kraft, beschreibt sie die Schicksale zweier kleiner Familien und erzählt auch von der kraftvollen und verzichtenden Liebe einer Mutter. Auf den tosenden Wellen sind wir ganz dicht bei der zwanzigjährigen Jamila, die ihrem Sohn Farid Schlaflieder singt, den Klang der Zukra imitierend –
Die Welt ist ein trauriger Ort. Doch Mazzantini hat dieser Tristesse eine kleine, tief berührende Geschichte hinzugefügt, die mir ein zaghaftes Lächeln entlockt. Das Meer am Morgen ist so ein Buch, das mein Regal nie verlassen wird. Ich bin unendlich dankbar für Geschichten, wie diese. Und hier sitze ich nun in meiner kleinen schönen Wohnung in Kreuzberg, wo vor dem Fenster grün und üppig der wilde Wein rankt. Der gestrige Tag mit meinem Enkel Karl ist noch ganz präsent. Sein glückliches Kinderlachen, seine schnell trocknenden Tränen, wenn gerade nicht alles nach seinem Willen verlaufen ist … beispielsweise mit Anziehsachen in den kühlen See zu laufen oder Buddelssand zu essen. Wieder einmal mehr ist mir bewusst, wie gut es mir geht und wie wohlig sich meine kleine Welt anfühlt. Während ich in die Welt von Farid und Vito schaue, wird mir auch bewusst, wie gering all meine Probleme sind, gemessen an dem Leid all derer, die nicht nur ihre Heimat, sondern ihr ganzes bisheriges Leben, ihre Wurzeln und ihre Sicherheit verloren haben.
Margaret Mazzantini. Das Meer am Morgen. Aus dem Italienischen Karin Krieger. DuMont Buchverlag. Köln 2014. Taschenbuch. 128 Seiten. 8,99 €