Es kommt vor, dass mich Leute beim Spazieren direkt ansprechen: „Entschuldigen Sie, aber sind Sie nicht der, der regelmässig in der Zeitung schreibt?“ Soviel Courage überrascht mich, denn erstens spaziere ich in der Regel zügig (ich könnte auch sagen, ich walke nordisch), und zweitens bin ich oft in Gedanken versunken. Und wenn ich nachdenke, mache ich ein eher abweisendes Gesicht (ich könnte auch sagen, ein muffiges). Auf jeden Fall freut es mich, wenn ich erkannt werde, weil die Menschen mir sehr oft mit einem Lächeln begegnen. Und wenn eine Person die Gelegenheit nutzt, um mir Privates zu erzählen, freue ich mich auch, vor allem über das Vertrauen, das mir geschenkt wird.
So berichtete mir neulich eine Frau draussen im Wald von ihrer Trennung nach über 30 Ehejahren. Ich weiss auch nicht mehr, wie wir darauf kamen, aber sie erzählte mir, wie sich ihr Mann über all die Jahre immer wieder ins „Schneckenloch“ verkrochen hatte, wenn Ungemach oder Konflikte zwischen ihnen aufkamen. Es hätte jeweils Tage gedauert, bis er sich wieder hervortraute. Ich konnte nur erahnen, wie viel Geduld die Frau in der langen Zeit ihrer Ehe aufbringen musste. „Was, das kennen Sie auch?“, fragte sie mich mit Staunen in ihren Augen. „Ja!“, erwiderte ich bestimmt, „das ‚Schneckenloch’, wie sie es nennen, ist in meinem Leben über weite Strecken mein zweites Zuhause gewesen, sozusagen. Und es hat mir auch viel Schutz geboten.“
„Und wie geht Ihre Frau damit um? Sie sind doch verheiratet?“, fragte sie mich nach einem tiefen Atemzug neugierig und unsicher. „Meine Frau musste sich in Geduld üben und war gezwungen zu warten. Immerhin kann ich heute sagen, dass ich es über die Jahre geschafft habe, die Verweildauer im ‚Schneckenloch’ von einigen Tagen auf nur noch wenige Stunden herunterzuschrauben.“ Das Gespräch im Wald ging noch ein paar Sätze weiter und zum Abschied ermunterte mich die Frau, über Männer im ‚Schneckenloch’ zu schreiben, das würde bestimmt viele Frauen interessieren.
Die Frau hatte keine Gelegenheit mehr mich zu fragen, weshalb sich Männer ins ‚Schneckenloch’ verkriechen, wenn es in der Beziehung brenzlig wird. Ich hätte ihr diese Frage nicht abschliessend beantworten können. Wohl aber hätte ich eingeräumt, dass wahrscheinlich auch Feigheit im Spiel ist. Vor allem aber hätte ich von meiner eigenen verletzlichen, ängstlichen und schutzbedürftigen Seite berichtet. Ich hätte ihr gesagt, dass wir Männer eben (auch) sehr verletzliche Wesen sind. Und ich hätte Sie schliesslich auf den Zusammenhang von Verletzlichkeit und Liebe aufmerksam gemacht. Ein verletzliches Herz ist ein liebendes Herz, und umgekehrt. Wer liebt, kann verletzt werden und wer verletzt wird, hat wohl geliebt (oder möchte mehr lieben). Verletzlichkeit und Liebe sind somit zwei Seiten derselben Medaille.